TE Vwgh Erkenntnis 2002/2/22 2000/02/0054

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Veröffentlicht am 22.02.2002
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AVG §37;
AVG §66 Abs4;
FrG 1997 §61 Abs1;
FrG 1997 §73 Abs2 Z2;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stoll und die Hofräte Dr. Riedinger und Dr. Holeschofsky als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Schlegel, über die Beschwerde der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom 25. Jänner 2000, Zl. UVS- 01/26/483/2000/2, betreffend Schubhaft (mitbeteiligte Partei: KM, geboren 1983, derzeit unbekannten Aufenthaltes), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird im Umfang seiner Anfechtung wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid vom 25. Jänner 2000 gab die belangte Behörde der von der mitbeteiligten Partei gegen den erstinstanzlichen Schubhaftbescheid vom 7. Jänner 2000 erhobenen Beschwerde gemäß § 72 FrG 1997 statt, erklärte sowohl die Verhängung der Schubhaft über den Mitbeteiligten als auch die Fortdauer der Anhaltung für rechtswidrig (im Folgenden kurz: Spruchpunkt I) und wies den Antrag anzuordnen, dass der Mitbeteiligte im Rahmen des "gelinderen Mittels" in einer geeigneten Jugendwohlfahrtseinrichtung untergebracht werde, bis feststehe, "ob er Österreich überhaupt verlassen könne", zurück (kurz: Spruchpunkt II).

In der Begründung dieses Bescheides führte die belangte Behörde aus, der Mitbeteiligte sei Fremder im Sinne des § 1 Abs. 1 FrG 1997 und sei am 7. Jänner 2000 in Wien ohne Reisedokument und ohne Ausweis von Sicherheitswachebeamten zunächst wegen Verdachts des Ladendiebstahls "angehalten" und in weiterer Folge gemäß § 110 Abs. 3 FrG 1997 festgenommen worden. In der Anzeige befinde sich die Anmerkung, dass der Mitbeteiligte mehrmals beteuert habe, dass er sich lieber einsperren ließe, als Angaben zu seiner Person beziehungsweise zu seinem bisherigen Unterkunftsort in Österreich zu machen und dass er sich auch im Übrigen "unkooperativ" verhalten habe. Anlässlich seiner Einvernahme vor der Behörde erster Instanz habe der Mitbeteiligte angegeben, er sei etwa in der letzten Dezemberwoche des Jahres 1999 mit einem Auto von Frankreich kommend nach Österreich eingereist, besitze keinen Reispass und keine "Legitimation". Er habe in einer Küche gearbeitet und solcherart "schwarz" etwas Geld verdient. Genächtigt habe er bei Bekannten mit unbekannter Adresse; er habe keinen Aufenthaltstitel und keine Angehörigen in Österreich. Auch werde er in seiner Heimat weder strafrechtlich noch politisch verfolgt, habe jedoch die Absicht, irgendwann in Österreich um Asyl anzusuchen, wofür er bisher keine Zeit gehabt habe. Auch über den Vorhalt, älter als sechzehn Jahre auszusehen, habe er darauf beharrt, am 15. Juni 1983 geboren zu sein.

Mit Bescheid vom 7. Jänner 2000, welcher dem Mitbeteiligten am selben Tag persönlich übergeben worden sei, habe die Behörde erster Instanz gemäß § 61 Abs. 1 FrG 1997 in Verbindung mit § 57 Abs. 1 AVG die Inschubhaftnahme des Mitbeteiligten zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung, eines Aufenthaltsverbotes, der Zurückschiebung und der Abschiebung angeordnet.

Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung - so die belangte Behörde weiter - habe unterbleiben können, weil der Mitbeteiligte bereits von der erstinstanzlichen Behörde niederschriftlich einvernommen worden sei und daher der Sachverhalt auf Grund der Aktenlage in Verbindung mit dem Schubhaftbeschwerdevorbringen ausreichend geklärt erscheine. Auf Grund des von der Behörde erster Instanz durchgeführten Ermittlungsverfahrens und ihrer Stellungnahme sehe sich die belangte Behörde nicht in der Lage, eine abschließende Beurteilung des wahren Alters des Mitbeteiligten vorzunehmen, insbesondere weil innerhalb der ihr zur Verfügung stehenden äußerst kurzen Entscheidungsfrist die amtswegige Einholung eines Gutachtens nicht möglich gewesen sei. Die Stellungnahme der Behörde erster Instanz sei nicht geeignet, das in der Schubhaftbeschwerde erstattete Vorbringen zu entkräften, weil darin auf spezifische Besonderheiten, welche in der Herkunft des Mitbeteiligten lägen, nicht eingegangen worden sei und nach den allgemeinen Erfahrungen Personen aus südlichen Ländern schon in jüngeren Jahren "erwachsener" wirkten. Jedenfalls genüge der Umstand, dass der Meldungsleger das Alter des Mitbeteiligten mit 20 bis 25 Jahren eingeschätzt habe, keineswegs, um den Mitbeteiligten "abschließend als volljährig einzustufen". Sohin habe die belangte Behörde der für den Mitbeteiligten günstigeren Variante den Vorzug gegeben und sei von dessen Minderjährigkeit ausgegangen. Die Verhängung der Schubhaft habe sich daher schon deshalb als rechtswidrig erwiesen, weil der Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 11, in das Verfahren nicht eingebunden worden sei, sondern erst im Stadium der Einbringung der Schubhaftbeschwerde beziehungsweise der Einbringung der Berufung gegen einen Ausweisungsbescheid mit der Rechtssache betraut worden sei.

Im Übrigen wäre für den Fall, dass man dennoch von der Volljährigkeit des Mitbeteiligten ausgehen wollte, zu bemerken, dass es der Behörde zu beurteilen obliege, ob der Fremde, über den die Schubhaft verhängt worden sei, dazu verhalten werden könne, sich dem Verfahren zu stellen und sich gegebenenfalls in bestimmten Abständen bei der Behörde zu melden. Die Behörde erster Instanz habe angeblich die Möglichkeit der Anwendung gelinderer Mittel geprüft und dies unter anderem mit der Begründung, der Mitbeteiligte sei nicht aufrecht polizeilich gemeldet sowie unterstands- und mittellos im Bundesgebiet aufhältig, verneint. Damit habe die Behörde erster Instanz aber Kriterien zur Beurteilung herangezogen, welche im Gesetz nicht ausdrücklich genannt seien und somit ihren Bescheid mit Rechtswidrigkeit seines Inhalts behaftet. § 66 Abs. 2 FrG 1997 bestimme nämlich, dass die Anwendung gelinderer Mittel insbesondere dann zu unterbleiben habe, wenn der Fremde seiner erkennungsdienstlichen Behandlung nicht zustimme und den behördlichen Auflagen (der regelmäßigen Meldepflicht und der Aufenthalt in der festgesetzten Unterkunft) nicht Folge geleistet habe. Daraus ergebe sich konkludent, dass das Bestehen einer eigenen Unterkunft nicht Voraussetzung für die Anwendbarkeit gelinderer Mittel sei. Zum anderen sei die Begründung des erstinstanzlichen Bescheides teilweise aktenwidrig. Der Mitbeteiligte habe nämlich am 7. Jänner 2000 angegeben, in einer Küche "schwarz" gearbeitet zu haben und habe bei der Festnahme auch etwa S 2.000,-- bei sich gehabt. Angesichts dieser Umstände sei nicht verständlich, weshalb die Behörde erster Instanz von der Mittellosigkeit des Mitbeteiligten ausgegangen sei. Ebenso wenig sei der Mitbeteiligte ohne Unterkunft gewesen, weil er stets angegeben habe, einen Unterkunftsort gehabt zu haben. Weder den Akten des erstinstanzlichen Schubhaftverfahrens noch der Begründung des Schubhaftbescheides sei zu entnehmen, dass die Behörde erster Instanz die Möglichkeit der Anwendung gelinderer Mittel in Erwägung gezogen habe. Um aber eine "derartige" Bestimmung, welche aus Aspekten der "Schonung der Menschenrechte" begrüßenswert erscheine, nicht zu einer inhaltsleeren Norm zu machen, erscheine es notwendig, deren Anwendung auf nachvollziehbare Art und Weise zu überprüfen; dies insbesondere dann, wenn auf Grund der Sachlage nicht von vornherein klargestellt sei, dass die Anwendung gelinderer Mittel nicht in Betracht komme. Eine bloße Scheinbegründung sei nicht ausreichend und belaste den erstinstanzlichen Bescheid mit Rechtswidrigkeit.

Am Rande sei jedoch noch vermerkt - so die belangte Behörde weiter -, dass jedenfalls ein Grund zur Annahme bestehen hätte können, dass mit der Anwendung gelinderer Mittel der Zweck der Schubhaft nicht erreicht werden könne. Bereits auf Grund der Anzeige ergebe sich nämlich, dass der Beschwerdeführer mehrmals beteuert habe, sich lieber einsperren zu lassen, als Angaben zu seiner Person beziehungsweise zu seinem bisherigen Unterkunftsort zu machen. Auch seine weiteren Aussagen ließen den Schluss zu, dass er Kontakt zu Landsleuten unterhalten habe, die ihm Unterkunft gewährt hätten und dass der Mitbeteiligte ein beträchtliches Interesse daran gehabt habe, die ihm Unterkunft gewährenden Personen und seinen Unterkunftsort nicht bekannt zu geben. Es sei daher anzunehmen, dass sich der Mitbeteiligte diesen Ort beziehungsweise diese Orte als Zufluchtsmöglichkeiten habe bewahren wollen, sodass ihm diese auch weiterhin zur Verfügung gestanden wären und er nach seiner Enthaftung bei ehester Gelegenheit untergetaucht wäre. Solche Überlegungen habe die Behörde erster Instanz aber nicht angestellt, obwohl ihr diese Umstände bereits zum Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides bekannt gewesen seien. Es sei aber nicht Aufgabe der belangten Behörde einen rechtswidrigen Schubhaftbescheid durch spekulatives Hinzufügen eines von der Behörde erster Instanz nicht aufgegriffenen Schubhaftgrundes zu sanieren, zumal in § 72 (richtig wohl: § 73) Abs. 4 FrG 1997 ausdrücklich normiert sei, dass die belangte Behörde lediglich im Rahmen der geltend gemachten Beschwerdepunkte zu entscheiden habe.

Da die belangte Behörde ausschließlich über die Rechtmäßigkeit der Schubhaft zu erkennen habe, sei der in Spruchpunkt II zitierte Antrag des Mitbeteiligten zurückzuweisen gewesen.

Gegen den der Schubhaftbeschwerde stattgebenden Spruchteil dieses Bescheides richtet sich die auf Art. 131 Abs. 2 B-VG in Verbindung mit § 74 FrG gestützte Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

Die beschwerdeführende Partei wendet sich gegen die Ausführungen der belangten Behörde, dass sie nicht in der Lage gewesen sei, eine abschließende Beurteilung des wahren und konkreten Alters des Mitbeteiligten abzugeben, sodass der für ihn günstigeren Variante der Vorzug zu geben und von seiner Minderjährigkeit auszugehen sei.

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 17. Dezember 1999, Zl. 99/02/0294, zu einem vergleichbaren Fall ausgeführt hat, wäre die belangte Behörde auf Grund des widerstreitenden Vorbringens der Fremdenbehörde und des Mitbeteiligten verpflichtet gewesen, ein Gutachten einzuholen oder andere taugliche Beweismittel zur Klärung des Sachverhaltes heranzuziehen. Dies folgt vor allem aus der Verpflichtung der belangten Behörde, gemäß § 66 Abs. 4 AVG für die notwendigen Ergänzungen des Ermittlungsverfahrens zu sorgen.

Der örtlich zuständige unabhängige Verwaltungssenat hat nach § 73 Abs. 4 FrG nicht nur festzustellen, ob zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen, sondern auch - gemäß § 73 Abs. 2 Z. 2 leg. cit. binnen einer Woche - über die Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit der Anhaltung von der Erlassung des Bescheides an zu entscheiden. Der Verwaltungsgerichtshof verkennt nicht, dass im Rahmen des Beschwerdeverfahrens vor der belangten Behörde im Hinblick auf die einwöchige Entscheidungsfrist eingehende amtswegige Erhebungen von vornherein ausgeschlossen sind; das bedeutet aber keinen Verfahrensgrundsatz des Inhaltes, dass die belangte Behörde von jeglichen Erhebungen Abstand zu nehmen und jedenfalls der für den in Schubhaft Angehaltenen günstigeren Variante den Vorzug zu geben hatte (vgl. auch dazu das oben zitierte hg. Erkenntnis vom 17. Dezember 1999, mwN).

Da die belangte Behörde die Rechtslage insoweit verkannt und zumutbare Ermittlungen unterlassen hat, hat sie den angefochtenen Bescheid schon aus diesem Grund mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet.

Die beschwerdeführende Partei wendet sich auch gegen jenen Begründungsteil des angefochtenen Bescheides, wonach sich die erstinstanzliche Behörde (auch bei Annahme der Volljährigkeit der mitbeteiligten Partei) mit Scheinbegründungen nur "angeblich" mit den Voraussetzungen für die Anwendung gelinderer Mittel auseinander gesetzt habe.

Auch mit diesem Vorbringen ist die beschwerdeführende Partei im Recht: Abgesehen davon, dass sich die erstinstanzliche Behörde mit der Möglichkeit der Anordnung gelinderer Mittel auseinander gesetzt, diese jedoch - entgegen der Ansicht der belangten Behörde in Übereinstimmung mit der ständigen hg. Rechtsprechung (vgl. beispielsweise das hg. Erkenntnis vom 17. Dezember 1999, Zl. 99/02/0342) - in zutreffender Weise verneint hat, verkennt die belangte Behörde offensichtlich auch in diesem Punkt die ihr als Verwaltungsbehörde zweiter Instanz mit voller Rechts- und Tatsachenkognitionsbefugnis zukommende Aufgabe, im Rahmen der "Sache" nicht nur ihre Kontrollfunktion bei Prüfung der Rechtmäßigkeit des erstinstanzlichen Bescheides, sondern darüber hinaus auch ihre reformatorische Funktion wahrzunehmen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 26. Juni 1990, Zl. 90/11/0105). Selbst für den Fall, dass die Behörde erster Instanz den Sachverhalt nicht ausreichend ermittelt beziehungsweise diesen in rechtlicher Hinsicht nicht umfassend geprüft und beurteilt hätte, wäre die belangte Behörde verpflichtet gewesen, dieses Versäumnis im oben dargestellten Rahmen nachzuholen. Da auch diese Rechtsfrage von der belangten Behörde unrichtig gelöst wurde, erübrigt es sich, auf die dem unabhängigen Verwaltungssenat bei der Entscheidung über eine Schubhaftbeschwerde nach § 73 Abs. 4 FrG obliegende Prüfungsverpflichtung neuerlich einzugehen.

Aus den dargelegten Gründen war daher der angefochtene Bescheid im Umfang seiner Anfechtung wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 22. Februar 2002

Schlagworte

Besondere verfahrensrechtliche Aufgaben der Berufungsbehörde Spruch des Berufungsbescheides

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2002:2000020054.X00

Im RIS seit

21.05.2002
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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