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10 VerfassungsrechtNorm
EMRK Art6 Abs1 / TribunalLeitsatz
Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht im Sinne der Menschenrechtskonvention durch die Entscheidung des Unabhängigen Verwaltungssenates über eine Polizeistrafe wegen Übertretung des Meldegesetzes; berechtigte Zweifel an Unabhängigkeit und struktureller Unparteilichkeit des zuständigen UVS-Mitgliedes aufgrund dessen Zugehörigkeit zur Bundespolizeidirektion Wien (karenzierter Beamter)Spruch
Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht im Sinne des Art6 EMRK verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Das Land Wien ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihrer Rechtsvertreter die mit S 20.500,- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Mit Bescheid vom 4. November 1997 gab der Unabhängige Verwaltungssenat Wien der Berufung der nunmehrigen Beschwerdeführerin gegen das Straferkenntnis der Bundespolizeidirektion Wien, Bezirkspolizeikommissariat Innere Stadt, vom 6. November 1995, Z Pst 1839-S/94, mit dem über sie Geldstrafen, im Falle der Nichteinbringung Ersatzfreiheitsstrafen verhängt wurden, keine Folge. Sie hatte es als Lenkerin eines Kfz unterlassen, 1. das Kfz während der Fahrt entsprechend zu beleuchten, obwohl eine Beleuchtung zu diesem Zeitpunkt erforderlich gewesen wäre, sowie 2. den Führerschein während der Fahrt mitzuführen und dadurch Verwaltungsübertretungen gemäß §§102 Abs1 und 103 Abs5 lita KFG 1967 begangen. Ferner wurde sie der Verwaltungsübertretung gemäß §5 Abs2 StVO 1960 für schuldig erkannt, weil sie sich geweigert hatte, die Atemluft von einem besonders geschulten und von der Behörde hierzu ermächtigten Organ der Straßenaufsicht auf Alkoholgehalt untersuchen zu lassen, obwohl vermutet werden konnte, daß sie sich in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand befand.
2. Gegen diesen Berufungsbescheid wendet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf ein Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht im Sinne des Art6 EMRK sowie auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Bescheides beantragt wird.
3. Der Unabhängige Verwaltungssenat Wien legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides verteidigt wird.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Die Beschwerdeführerin bringt in erster Linie - unter Bezugnahme auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 2. Oktober 1997, B2434/95-13 - vor, in dem durch Art6 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht verletzt worden zu sein. Der Unabhängige Verwaltungssenat Wien habe über die Berufung durch sein Mitglied Mag. K. entschieden, der ein "aus der Polizeidirektion Wien hervorgegangener höherer Beamter (sei), der berufen sein (könne), dort erneut andere Aufgaben wahrzunehmen". Dadurch sei das Vertrauen, welches Gerichte in einer demokratischen Gesellschaft vermitteln sollten, in Frage gestellt. Das zur Entscheidung berufene Mitglied des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien entspreche sohin nicht den in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes sowie des EGMR entwickelten, organisatorischen Anforderungen an ein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne des Art6 EMRK.
2. Mit diesem Vorwurf ist die Beschwerdeführerin im Recht:
a) Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des EGMR zum Begriff des "Tribunals im Sinne des Art6 EMRK" (vgl. zB EGMR 29. April 1988, Nr. 20/1986/118/167, - Belilos gegen Schweiz - EuGRZ 1989, 21 ff) kommt der Verfassungsgerichtshof im vorliegenden Fall zum Ergebnis, daß das einzelne Mitglied des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien, das die bekämpfte Entscheidung getroffen hat (wiewohl die Geschäftsverteilung die Entscheidung durch ein anderes Mitglied nicht ausgeschlossen hätte), dem daraus abzuleitenden Erfordernis der "Unabhängigkeit und strukturellen Unparteilichkeit" nicht entspricht (vgl. VfGH 2. Oktober 1997, B2434/95).
b) Zwar ist ein Mitglied des Unabhängigen Verwaltungssenates bei Besorgung der ihm (gemäß Art129a und 129b B-VG) zukommenden Aufgaben an keine Weisungen gebunden (Art129b Abs2 erster Satz B-VG; §5 Abs1 UVS-G Wien); ferner hat es vor Antritt seines Amtes die gesetzmäßige - somit auch die unabhängige - und gewissenhafte Erfüllung seiner Amtspflichten zu geloben (§4 Abs5 UVS-G Wien); schließlich darf es vor Ablauf der - sechsjährigen (§4 Abs1 UVS-G Wien) - Bestellungsdauer nur aus den in den dienstrechtlichen Vorschriften vorgesehenen Gründen und nur auf Beschluß der Vollversammlung seines Amtes enthoben werden (§6 Abs1 UVS-G Wien; siehe auch §6 Abs2 leg. cit.).
c) Ebenso trifft aber auch zu, daß es sich bei dem im vorliegenden Fall zur Entscheidung berufenen einzelnen Mitglied des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien um einen - wenn man die Diktion des Urteiles des EGMR vom 29. April 1988, Nr. 20/1986/118/167, - Belilos gegen Schweiz - EuGRZ 1989, 21 ff, hierher überträgt - "aus der Polizeidirektion hervorgegangene(n) höhere(n) Beamte(n handelt), der berufen sein kann, dort erneut andere Aufgaben wahrzunehmen". Somit "können" aber - jedenfalls soweit es, so wie hier, um ein Verfahren geht, in dem die Bundespolizeidirektion Wien Partei ist - "(d)ie seiner Gerichtsbarkeit unterworfenen Personen ... versucht sein, in ihm ein Mitglied des Polizeidienstes zu sehen, (das) dessen Hierarchie eingeordnet und mit seinen Kollegen solidarisch ist. Eine solche Situation könnte das Vertrauen in Frage stellen, das Gerichte in einer demokratischen Gesellschaft vermitteln sollten".
d) Maßgeblich war für den EGMR, daß das betreffende "Mitglied der Polizeikommission ein aus der Polizeidirektion hervorgegangener höherer Beamter ist, der berufen sein kann, dort erneut andere Aufgaben wahrzunehmen". Daran anknüpfend stellte der EGMR fest, daß die der Gerichtsbarkeit der Polizeikommission unterworfenen Personen versucht sein könnten, "in ihm ein Mitglied des Polizeidienstes zu sehen, der dessen Hierarchie eingeordnet und mit seinen Kollegen solidarisch ist". Dieser "äußere Anschein" wird aber auch im vorliegenden Fall eines auf Dauer seiner bloß befristeten Zugehörigkeit zum Unabhängigen Verwaltungssenat karenzierten Beamten des Bundes im Personalstand der Bundespolizeidirektion Wien, der als einzelnes Mitglied des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien ua. über die Rechtmäßigkeit von Entscheidungen eben dieser Behörde zu befinden hat, nicht auszuschließen sein.
e) Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß die Beschwerdeführerin berechtigterweise Zweifel hinsichtlich der Unabhängigkeit und strukturellen Unparteilichkeit des zuständigen Mitgliedes des Unabhängigen Verwaltungssenates empfinden konnte (vgl. VfGH 28.9.1998, B3109/97).
3. Die Beschwerdeführerin wurde durch den bekämpften Bescheid in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht im Sinne des Art6 EMRK verletzt.
Der Bescheid war sohin aufzuheben.
Auf das weitere Beschwerdevorbringen war angesichts dieser Sachlage nicht mehr einzugehen.
4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG.
In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von S 3.000,-- enthalten.
5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Schlagworte
Unabhängiger Verwaltungssenat, TribunalEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1999:B90.1998Dokumentnummer
JFT_10009689_98B00090_00