TE Vwgh Erkenntnis 2002/3/22 99/02/0187

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Veröffentlicht am 22.03.2002
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein;
40/01 Verwaltungsverfahren;
90/01 Straßenverkehrsordnung;

Norm

AVG §52;
StVO 1960 §29b Abs1 idF 1998/I/092;
StVO 1960 §29b Abs4;
VwRallg;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stoll und die Hofräte Dr. Riedinger, Dr. Holeschofsky, Dr. Beck und Dr. Bachler als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Schlegel, über die Beschwerde der KK in Wien, vertreten durch Dr. Martina Schweiger-Apfelthaler, Rechtsanwältin in Wien IV, Graf Starhemberg-Gasse 39/12, gegen den Bescheid der Wiener Landesregierung vom 2. Juni 1999, Zl. MA 65- BH/5/99, betreffend Ausweis nach § 29b StVO, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Die Bundeshauptstadt (Land) Wien hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von 1.089,68 EUR binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der belangten Behörde vom 2. Juni 1999 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf Ausstellung eines Ausweises für dauernd stark gehbehinderte Personen gemäß § 29b Abs. "4" StVO abgewiesen.

Die belangte Behörde stützte sich dabei auf ein im erstinstanzlichen Verwaltungsverfahren eingeholtes amtsärztliches Gutachten, in welchem zusammenfassend festgestellt worden sei, dass die Beschwerdeführerin orthopädische Schuhe trage und in der Lage sei, bei normalen Witterungsverhältnissen unter Benützung einer Unterarmstützkrücke, unter zeitweisem Auftreten von leichten bis mäßigen Schmerzen im rechten Fuß, Wegstrecken zurückzulegen, wie sie der üblichen Entfernung von einem erlaubten Abstellplatz für das Kraftfahrzeug bis zu einem unter gewöhnlichen Bedingungen erreichbaren Zielort entsprechen würden. Aus orthopädischer Sicht bestehe daher keine dauernd starke Gehbehinderung im Sinne des § 29b StVO.

Diese Aussage habe - so die belangte Behörde - der Sachverständige auch angesichts der Stellungnahme der Beschwerdeführerin, wonach sie keinesfalls in der Lage wäre, Wegstrecken von 300 m Länge zurückzulegen, aufrechterhalten. Aus der Rechtsprechung ergebe sich, dass allfällige Hilfsmittel wie Gehstock, orthopädische Schuhe und dergleichen für sich allein eine Gehbehinderung noch nicht zu einer starken Gehbehinderung machen würden. Der medizinischen Beurteilung des Sachverständigen sei auf Grund seiner Ausbildung sowie seiner Erfahrung bei der Beweiswürdigung besonderes Gewicht zuzumessen. Das Ergebnis des widerspruchsfreien, nachvollziehbaren Gutachtens könne nicht bezweifelt werden, sodass dieses dem angefochtenen Bescheid zu Grunde zu legen gewesen sei. Da im Beschwerdefall auch keine weiteren wesentlichen Behinderungen wie Querschnittlähmung, Amputation einer unteren Extremität ohne Prothesenanwendung und dergleichen vorlägen, sei der Antrag der Beschwerdeführerin abzuweisen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Gemäß § 29b Abs. 1 erster Satz StVO in der im Beschwerdefall maßgeblichen Fassung der 20. StVO-Novelle, BGBl. Nr. 92/1998, hat die Behörde Personen, die dauernd stark gehbehindert sind, auf deren Ansuchen einen Ausweis über diesen Umstand auszufolgen. Die Fassung des § 29b StVO, auf die sich die belangte Behörde offenbar bezieht (Abs. "4"), ist mit 21. Juli 1998 außer Kraft getreten; durch das Fehlzitat wurde die Beschwerdeführerin allerdings in keinem Recht verletzt, zumal der erste Satz des Abs. 4 alte Fassung ident ist mit dem ersten Satz des Abs. 1 in der Fassung der 20. StVO-Novelle (vgl. das hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 99/02/0147).

Der Verwaltungsgerichtshof hat in dem von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid zitierten Erkenntnis vom 30. Mai 1997, Zl. 95/02/0188, unter Hinweis auf seine Vorjudikatur zum Ausdruck gebracht, dass der Gesetzesbegriff der "starken Gehbehinderung" im Sinn des § 29b Abs. 4 (jetzt: Abs. 1) StVO darauf abstellt, ob die betreffende Person in einer als Gehen zu qualifizierenden Weise ohne Aufwendung überdurchschnittlicher Kraftanstrengung und ohne große Schmerzen eine bestimmte Wegstrecke zurücklegen kann; ist sie dazu in der Lage, so wird eine festgestellte Gehbehinderung nicht als schwer im Sinne des Gesetzes anzusehen sein. Die Fähigkeit zum Zurücklegen einer Strecke von mehr als 300 m ohne überdurchschnittliche Kraftanstrengung und ohne große Schmerzen schließt eine starke Gehbehinderung im Sinne des Gesetzes aus, wobei der Umstand, dass dies nur mit Hilfsmitteln (wie etwa einem Gehstock oder orthopädischen Schuhen) möglich ist, die Behinderung nicht zu einer schweren macht.

Was zunächst den Hinweis der Beschwerdeführerin auf die hg. Erkenntnisse vom 18. Mai 1978, Slg. Nr. 9560/A, sowie vom 17. Februar 1989, Zl. 88/18/0343, und vom 18. Oktober 1989, Zl. 89/03/0121, anlangt, woraus abzuleiten sei, dass eine dauernde starke Gehbehinderung im Sinne des § 29b StVO sehr wohl vorliege, wenn eine Person ständig beide Arme oder allein einen Arm wegen der notwendigen Verwendung einer Krücke (wie es bei der Beschwerdeführerin der Fall sei) oder eines Stockes gebrauchen müsse (um sich bei normalen Wetterverhältnissen gehend fortbewegen zu können), so ist in dieser Rechtsprechung insoweit (im Zusammenhang mit der Verwendung von "Hilfsmitteln") ein Widerspruch zur obzitierten Rechtsprechung, wie sie im zitierten hg. Erkenntnis vom 30. Mai 1997 zum Ausdruck gebracht wurde und an der der Gerichtshof festhält, zu erblicken. Allerdings bedarf es in dieser Hinsicht schon deshalb keiner Bildung eines verstärkten Senates gemäß § 13 Abs. 1 Z. 2 VwGG, weil im vorliegenden Beschwerdefall nicht mehr die Vorschrift des § 29b Abs. 4, sondern die (insoweit inhaltsgleiche) des Abs. 1 StVO anzuwenden ist (vgl. zu § 13 VwGG das hg. Erkenntnis vom 18. September 1996, Zl. 96/03/0171). Dass die Beschwerdeführerin der "Zuhilfenahme einer Unterarmstützkrücke" bedürfe, um in der Lage zu sein, sich gehend fortzubewegen, kann sohin - für sich allein - nicht zum Erfolg der Beschwerde führen.

Allerdings bringt die Beschwerdeführerin auch vor, sie habe im Verwaltungsverfahren dargetan, sie sei nicht in der Lage, mehr als 300 m gehend zurückzulegen.

Die Feststellung, ob eine Person dauernd stark gehbehindert ist, ist Gegenstand eines Beweises durch einen ärztlichen Amtssachverständigen (vgl. das zitierte hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 99/02/0147).

Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin gebietet es zwar keine Vorschrift, dass die belangte Behörde im Berufungsverfahren ein weiteres diesbezügliches Gutachten (zusätzlich zu dem in erster Instanz erstatteten) einzuholen gehabt hätte; dennoch ist für die belangte Behörde damit nichts gewonnen:

Aus dem von ihr herangezogenen Gutachten ergibt sich nämlich nicht, ob die Beschwerdeführerin im Sinne der oben dargestellten hg. Rechtsprechung im Stande ist, "eine Strecke von mehr als 300 m" ohne überdurchschnittliche Kraftanstrengung und ohne große Schmerzen zurückzulegen; vielmehr findet sich - wie im angefochtenen Bescheid wiedergegeben - diesbezüglich lediglich der Passus, die Beschwerdeführerin sei (bei normalen Witterungsverhältnissen unter Benützung einer Unterarmstützkrücke links, unter zeitweisem Auftreten von leichten bis mäßigen Schmerzen im rechten Fuß) im Stande, Wegstrecken zurückzulegen, "wie sie der üblichen Entfernung von einem erlaubten Abstellplatz für das Kraftfahrzeug bis zu einem unter gewöhnlichen Bedingungen erreichbaren Zielort entsprechen" (Gutachten vom 4. November 1998).

Entgegen der Ansicht der belangten Behörde in der Gegenschrift wäre es ihr daher im Sinne der zitierten hg. Rechtsprechung sehr wohl oblegen, eine diesbezügliche Ergänzung des medizinischen Gutachtens einzuholen, zumal die Beschwerdeführerin in ihrer Stellungnahme zu diesem Gutachten (aber auch in der Berufung gegen den erstinstanzlichen Bescheid) darauf hinwies, sie sei "keinesfalls in der Lage, Wegstrecken von 300 m Weglänge zurückzulegen" und der medizinische Amtssachverständige - über Ersuchen der Behörde erster Instanz - lediglich insofern am 9. Dezember 1998 eine ergänzende Stellungnahme abgab, die Beschwerdeführerin sei unter Zuhilfenahme ihrer Unteramtstützkrücke in der Lage "eine entsprechende Gehleistung zu erbringen".

Da der Sachverhalt sohin in einem wesentlichen Punkt einer Ergänzung bedarf, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 501/2001. Bemerkt wird, dass in dem zugesprochenen Betrag zwar nicht die von der Beschwerdeführerin begehrte Umsatzsteuer zusätzlich zum insoweit pauschalierten Schriftsatzaufwandersatz, jedoch die gemäß § 24 Abs. 3 VwGG zu entrichtende Gebühr enthalten ist.

Wien, am 22. März 2002

Schlagworte

Sachverständiger Erfordernis der Beiziehung Arzt

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2002:1999020187.X00

Im RIS seit

13.06.2002
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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