Index
40/01 Verwaltungsverfahren;Norm
AsylG 1997 §23;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski und Dr. Grünstäudl als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Hohenecker, über die Beschwerde des IK in Linz, geboren am 3. November 1960, vertreten durch Mag. Wolfgang Kempf, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Bürgerstraße 41, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 9. März 2001, Zl. 220.502/0- XIV/16/01, betreffend §§ 6 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein indischer Staatsangehöriger und nach seinen Angaben moslemischen Glaubens, reiste am 15. November 2000 in das Bundesgebiet ein und ersuchte um Asyl. Er gab dazu an, er habe Indien "wegen politischer Probleme verlassen". Er sei vom Militär misshandelt und dann von der Polizei gesucht worden und wäre im Gefängnis gelandet, wenn ihn die Polizei ergriffen hätte.
In seiner Vernehmung vor dem Bundesasylamt brachte der Beschwerdeführer vor, er stamme aus dem Kashmir. Dort habe sein zwischenzeitig verstorbener Großvater eine Landwirtschaft und ein Lebensmittelgeschäft betrieben. Der Beschwerdeführer kenne aus seiner Kindheit einige Leute aus dem Kashmir, die seinen Großvater besucht hätten. Nach dessen Tod seien einige Kashmiris unregelmäßig auch zum Beschwerdeführer gekommen, weshalb dieser im Jahr 1999 von der Polizei beschuldigt worden sei, dass er "in Kontakt mit Kashmiris stehen würde, die den Kashmirkonflikt verursacht hätten". Der Beschwerdeführer sei damals zwei Tage von der Polizei festgehalten, jedoch nach Intervention seiner Verwandten, die für ihn gebürgt hätten, "dass ich nicht mehr mit Kashmiris verkehren werde", freigelassen worden. Als ihn danach abermals Kashmiris besucht hätten, habe der Beschwerdeführer sie gebeten, nicht mehr zu ihm zu kommen, weil er Kinder und Familie habe und seinen Heimatort nicht verlassen wolle. Am 4. Juni 1999 seien dennoch zwei Personen beim Beschwerdeführer geblieben. Da er vermutlich von einem Nachbarn, einem Hindu, verraten worden sei, habe die Polizei das Haus des Beschwerdeführers am nächsten Morgen durchsucht und bei den beiden Kashmiris, die sich Mudjaheddin genannt hätten, eine Pistole, Patronen und Rauschgift gefunden. Der Beschwerdeführer sei deswegen erneut festgenommen und erst nach Bezahlung von Bestechungsgeld sowie unter der Auflage, das Land sofort zu verlassen, freigelassen worden. Während der Haft sei er täglich geschlagen worden, wovon er noch Narben im Mundraum und am Handrücken trage. Unter anderem sei er auch an den Beinen aufgehängt worden. Man habe dem Beschwerdeführer vorgeworfen, dass er zu den Mudjaheddin gehöre, mit diesen zusammenarbeite und mit Rauschgift handeln würde. Im Fall seiner Rückkehr befürchte der Beschwerdeführer, entweder eingesperrt oder getötet zu werden, zumal ihm dies von der Polizei in Indien angedroht worden sei.
Mit Bescheid vom 19. Dezember 2000 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 6 Z 2 und Z 3 AsylG als offensichtlich unbegründet ab und stellte gemäß § 8 AsylG fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Indien zulässig sei. Dazu führte die Erstbehörde aus, das Vorbringen des Beschwerdeführers sei (aus im Bescheid näher genannten Gründen) "absolut unglaubwürdig" und widersprüchlich und überdies "über weite Passagen nicht stichhältig bzw. von Grund auf unwahrscheinlich". Selbst wenn man jedoch davon ausginge, dass der Beschwerdeführer wegen des Verdachtes von Drogengeschäften bzw. der Verbindung mit dem "Kashmir-Terrorismus" inhaftiert gewesen wäre, so seien diese Verfolgungsmaßnahmen "lediglich im Zusammenhang mit dem Verdacht der Begehung einer strafbaren Handlung" zu sehen. Dass die gegen den Beschwerdeführer erhobenen Beschuldigungen lediglich einen Vorwand für politische Verfolgung darstellten, habe der Beschwerdeführer nicht behauptet. Aus dem Vorwurf, mit Terroristen aus dem Kashmir in Verbindung zu stehen, sei "keinesfalls ein GFK relevanter Sachverhalt" abzuleiten, weil es sich bei einem solchen Vorwurf nicht um die politische Gesinnung, sondern um die Mittel zur Einsetzung eines bestimmten Zwecks, "nämlich terroristische - sprich strafrechtlich relevante - Mittel" handle. Zur Entscheidung nach § 8 AsylG verwies das Bundesasylamt unter anderem auf Fluchtalternativen des Beschwerdeführers innerhalb Indiens.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Berufung, in welcher er darum ersuchte, "für ein zweites Interview" vorgeladen zu werden. Gleichzeitig brachte er unter Anführung weiterer Details nochmals seine Fluchtgründe vor.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 6 Z 2 und 3 AsylG ab und stellte erneut die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Indien gemäß § 8 AsylG fest. Begründend verwies sie auf den erstinstanzlichen Bescheid und auf die dort dargestellten Ermittlungsergebnisse, die Beweiswürdigung sowie die Beurteilung der Rechtsfrage und schloss sich den diesbezüglichen Ausführungen der Erstbehörde (die im Berufungsbescheid teilweise wörtlich wiederholt wurden) "vollinhaltlich an". Das Unterbleiben einer Berufungsverhandlung begründete die belangte Behörde damit, dass der Berufung keine neuen Sachverhaltselemente zu entnehmen seien. Der Beschwerdeführer sei bereits vor dem Bundesasylamt sehr ausführlich befragt worden und habe in der Berufung nicht angegeben, was er in der Berufungsverhandlung bezüglich seiner Bedrohungssituation vorgebracht hätte. Der Beschwerdeführer habe daher dem Erfordernis, eine Verfolgungsgefahr glaubhaft zu machen, nicht im Geringsten entsprochen, weshalb das Bundesasylamt "zu Recht von der Unglaubwürdigkeit des gesamten Vorbringens" des Beschwerdeführers ausgegangen sei.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
Das Hauptgewicht der Beschwerde liegt im Vorwurf, die belangte Behörde habe es trotz des ausdrücklichen Ersuchens in der Berufung unterlassen, den Beschwerdeführer neuerlich einzuvernehmen. Der Beschwerdeführer habe in seiner Berufung ausgeführt, dass er die Adresse der von ihm genannten Mudjaheddin wisse (richtig: gehabt hätte), sodass er im Rahmen seiner neuerlichen Einvernahme Zeugen und Beweismittel für seine Fluchtgründe hätte namhaft machen können.
Im angefochtenen Bescheid bezieht sich die belangte Behörde in Bezug auf die unterlassene Verhandlung auf Art. II Abs. 2 Z 43a EGVG, wonach die gemäß § 67d AVG grundsätzlich verpflichtend vorgesehene mündliche Verhandlung des unabhängigen Bundesasylsenates unterbleiben kann, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Berufung geklärt erscheint. Neue Sachverhaltselemente habe der Beschwerdeführer in seiner Berufung nicht vorgebracht. Wenn die belangte Behörde in diesem Zusammenhang auf das hg. Erkenntnis vom 11. November 1998, Zl. 98/01/0308 verweist, so übersieht sie aber, dass im dort zugrundeliegenden Fall in der Berufung ein neuer Sachverhalt vorgebracht wurde, und der Verwaltungsgerichtshof dazu ausgesprochen hat, dass es dem unabhängigen Bundesasylsenat "jedenfalls" bei einem neuen Sachverhaltsvorbringen in der Berufung verwehrt ist, durch Würdigung der Berufungsangaben als unglaubwürdig den Sachverhalt ohne persönliche Einvernahme des Asylwerbers als geklärt anzusehen.
Im vorliegenden Fall führte das Bundesasylamt in seiner Beweiswürdigung, der sich die belangte Behörde vollinhaltlich (und ohne Ergänzung) anschloss, mehrere Angaben des Beschwerdeführers an, die nach Ansicht der Behörde "nicht nachvollziehbar", "derart vage und unbestimmt" bzw. "unwahrscheinlich" seien, sodass sie davon ausgehen müsse, dass "sich die Ereignisse nicht so abgespielt haben". Dabei stützte das Bundesasylamt jedoch sein Urteil, die Angaben des Beschwerdeführers seien "unglaubwürdig" teilweise auch "absolut unglaubwürdig", in wesentlichen Punkten nur auf eigene Mutmaßungen. So meinte die Behörde etwa, dass "man" angesichts des genannten Verrates des Beschwerdeführers durch einen Nachbarn "davon ausgehen müsste", dass entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers schon vorangegangene Besuche der Kashmiris zu Nachbaranzeigen hätten führen müssen. "Nicht logisch nachvollziehbar" sei auch dass Kashmiris jahrelang zum Beschwerdeführer gekommen seien und erst "jetzt plötzlich die Polizei derartig rigoros gegen die Besuche vorgehen soll". Mehrere
Argumente der Beweiswürdigung beziehen sich im Übrigen nicht auf die Angaben des Beschwerdeführers zur behaupteten "Bedrohungssituation" (vgl. § 6 Z 3 AsylG), sondern auf dessen Angaben zum Fluchtweg.
Die in Rede stehende Beweiswürdigung lässt daher nicht nachvollziehbar erkennen, weshalb die angenommene Tatsachenwidrigkeit des Vorbringens des Beschwerdeführers zu behaupteten Bedrohungssituation "auf der Hand liege", sich also quasi "aufdränge" und damit die nach § 6 Z 3 AsylG geforderte Voraussetzung der "Offensichtlichkeit" der Wahrheitswidrigkeit der Angaben erfülle (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 21. August 2001, Zl. 2000/01/0214).
Das Absehen von einer mündlichen Berufungsverhandlung setzt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu der von der belangten Behörde herangezogenen Bestimmung des Art. II Abs. 2 lit. d Z 43a EGVG u.a. voraus, dass die erstinstanzliche Beweiswürdigung nicht nur im Ergebnis - nach der Überzeugung der Berufungsbehörde - richtig, sondern schon im erstinstanzlichen Bescheid auch schlüssig begründet ist (vgl. in diesem Zusammenhang etwa das Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2002/20/0003, mwN). Da diese Voraussetzung im vorliegenden Fall, wie dargelegt, hinsichtlich der Entscheidung der belangten Behörde nach § 6 Z 3 AsylG nicht erfüllt war, durfte sie von der (im Übrigen vom Beschwerdeführer in der Berufung beantragten) Verhandlung nicht abgesehen.
Auf den Verstoß gegen die Verhandlungspflicht käme es im vorliegenden Fall nur dann nicht an, wenn der weitere von der belangten Behörde herangezogene Tatbestand des § 6 Z 2 AsylG den Berufungsbescheid zu tragen im Stande wäre, weil die vom Beschwerdeführer behauptete Verfolgungsgefahr offensichtlich nicht auf die in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe zurückzuführen wäre. Bei dieser Beurteilung ist von den Behauptungen des Asylwerbers auszugehen, sodass Fragen nach der Glaubwürdigkeit seiner Angaben in diesem Zusammenhang keine Rolle spielen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 22. Mai 2001, Zl. 2000/01/0294). Der Beschwerdeführer hat, wie erwähnt, bereits bei seiner Einbringung des Asylantrages angegeben, er habe Indien "wegen politischer Probleme" verlassen. Nach seinen Angaben vor dem Bundesasylamt werde er von indischen Behörden beschuldigt, mit "Kashmiris in Kontakt zu stehen, die den Kashmirkonflikt verursacht hätten". Vor diesem Hintergrund (und den notorisch auch politisch-religiösen Ursachen des Kashmirkonflikts) vermag der Verwaltungsgerichtshof die Ansicht der belangten Behörde, die vom Beschwerdeführer behauptete Verfolgungsgefahr in seinem Herkunftsstaat sei "offensichtlich nicht" auf die in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe zurückzuführen, nicht zu teilen.
Da die belangte Behörde in diesem Punkt auch die Rechtslage verkannt hat, war der angefochtene Bescheid nach § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Der Spruch über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2001. Da in den in dieser Verordnung enthaltenen Pauschalsätzen die Umsatzsteuer bereits enthalten ist, war das Kostenmehrbegehren abzuweisen.
Wien, am 16. April 2002
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2002:2001200337.X00Im RIS seit
06.08.2002