Index
40/01 Verwaltungsverfahren;Norm
AsylG 1997 §23;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski und Dr. Sulzbacher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Hohenecker, über die Beschwerde der am 22. Juli 1977 geborenen PJ in Wien, vertreten durch Dr. Diethard Schimmer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schwertgasse 4/7, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 14. Oktober 1998, Zl. 203.604/0-IX/26/98, betreffend §§ 7 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen
Begründung
Die Beschwerdeführerin, eine irakische Staatsangehörige und Kurdin, reiste am 25. April 1998 in das Bundesgebiet ein und stellte am 28. April 1998 einen Asylantrag. Bei ihrer Einvernahme vor dem Bundesasylamt gab sie zu ihren persönlichen Verhältnissen an, sie habe ihren Ehegatten 1996 im Irak - beide Ehepartner seien durch ihren jeweiligen Vater vertreten gewesen - geheiratet. Ihr Ehemann sei bereits 1990 aus dem Irak geflüchtet und ihm sei in der Folge (1992) in Österreich aufgrund seiner politischen Verfolgung im Irak Asyl gewährt worden. Mittlerweile sei er bereits österreichischer Staatsbürger. Die aus Kirkuk stammende und zuletzt dort wohnhafte Beschwerdeführerin habe den Irak unter Verwendung ihres Reisepasses auf legalem Weg Anfang August 1997 über Jordanien verlassen, um ihren Mann in Wien zu besuchen. Am 17. September 1997 sei sie für drei Monate nach Jordanien zurückgekehrt. Da es ihrem Ehemann nicht gelungen sei, sie auf legalem Weg nach Österreich zu bringen, habe sich die Beschwerdeführerin entschlossen, wieder in den Irak zurückzukehren. Bei ihrer Einreise in den Irak sei ihr an der Grenze der Reisepass abgenommen worden, weil sie - anders als noch bei der Ausreise - bei der Wiedereinreise nicht von ihrem Onkel begleitet worden sei. An der Grenze sei sie nach ihrem Onkel und nach ihrem Ehemann befragt und etwa sechs Stunden festgehalten worden. Die Beschwerdeführerin habe sich nach diesem Vorfall zunächst nur einen Tag bei ihrer Familie in Kirkuk aufgehalten und sei in weiterer Folge zu Verwandten nach Arbil gefahren. Ihr Vater sei festgenommen und über ihren Verbleib ausgefragt worden. Ihm sei gesagt worden, dass er solange festgehalten werde, bis sich die Beschwerdeführerin stelle. Über das weitere Schicksal ihres Vaters wisse die Beschwerdeführerin nichts. Ende Jänner 1998 habe sie sodann den Irak mit Hilfe eines Schleppers illegal verlassen und sie sei über die Türkei nach Österreich gelangt. Die irakischen Behörden hätten Kenntnis davon, dass ihr Ehemann in Wien für die "PUK des Talibani" arbeite, und sie würden seit seiner Flucht im Jahre 1990 nach ihm fahnden. Aus diesem Grund würde auch die Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr in den Irak verfolgt werden. Sie sei zwar selbst nie politisch tätig gewesen, aber die Tatsache, dass sie nach der gemeinsamen Ausreise ohne Onkel allein zurückgekehrt sei und dass die Behörden aufgrund ihres Wienbesuches vermuten würden, sie habe ihrem Mann Informationen überbracht, reiche für eine Verfolgung ihrer Person. Sie sei - auch als Kurdin - im Nordirak vor einer Verfolgung nicht sicher, weil es sehr viele Spitzel gebe, denen es möglich sei, jeden Gegner in das irakische Hoheitsgebiet zurückzuholen.
Das Bundesasylamt wies den Asylantrag der Beschwerdeführerin mit Bescheid vom 19. Mai 1998 gemäß § 7 AsylG ab und stellte gemäß § 8 AsylG fest, dass ihre Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung "in den Nordirak" zulässig sei. Die Erstbehörde erachtete das wiedergegebene Vorbringen der Beschwerdeführerin für glaubwürdig und traf diesem im Wesentlichen entsprechende Feststellungen. Sie verneinte jedoch die Asylrelevanz der von der Beschwerdeführerin befürchteten Verfolgung. Es stelle keinen Fluchtgrund im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention dar, wenn die Beschwerdeführerin befürchte, im Falle einer Rückkehr in den Irak "wegen Übertretung der passrechtlichen bzw. Ausreisvorschriften" und wegen der Asylantragstellung bestraft zu werden. Außerdem sei die Beschwerdeführerin im Nordirak vor Verfolgung sicher. Das Bundesasylamt erachtete daher eine Abschiebung der Beschwerdeführerin in diesen Landesteil für zulässig.
In der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung brachte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen vor, ihre begründete Furcht vor Verfolgung stehe im direkten Zusammenhang mit ihrer Eheschließung, dem Besuch in Wien und der politischen Aktivität ihres Ehemannes, weshalb die irakischen Behörden sie der regimefeindlichen Informationsweitergabe an einen deklarierten politischen Gegner des Regimes bezichtigten. Aufgrund ihrer Heirat mit einem aktenkundigen Regimegegner werde ihr eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellt. Aus zahlreichen Berichten über die Menschenrechtssituation im Irak gehe hervor, dass - auch nur vermeintliche - Mitglieder oppositioneller Gruppierungen ohne Anklageerhebung oder Gerichtsverfahren in Haft genommen und extralegal hingerichtet worden seien. Außerdem werde in ihrer Heimat die Sippenhaftung praktiziert, um die Opposition zu schwächen und Angehörige von Oppositionellen einzuschüchtern. Die Befürchtung einer Verfolgung werde noch dadurch verstärkt, dass der Beschwerdeführerin wegen ihrer illegalen Ausreise und ihrer Asylantragstellung, die als grober Akt der Illoyalität gegenüber dem irakischen Staat angesehen werde, eine unverhältnismäßige Bestrafung drohe. Zur angenommenen Möglichkeit einer inländischen Fluchtalternative im Nordirak seien keinerlei Ermittlungen über die politische Lage im Irak vorgenommen und der Beschwerdeführerin sei zu dieser Frage auch kein Parteiengehör gewährt worden. Zur Verweigerung von Abschiebungsschutz führte die Beschwerdeführerin noch aus, ihr drohe bei einer Rückkehr in den Irak unmenschliche Behandlung oder Strafe, und sie bestritt auch in diesem Zusammenhang mit näherer Begründung das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative im Nordirak.
Mit Schreiben vom 22. September 1998 teilte die belangte Behörde der Beschwerdeführerin (unter anderem) mit, sie gehe - vorausgesetzt eine Stellungnahme der Beschwerdeführerin ergebe nichts Anderes - im Hinblick auf die im Reisepass enthaltenen Daten davon aus, dass sie sich seit 19. August 1997 in Österreich aufhalte, ohne zwischenzeitig im Irak gewesen zu sein.
Dem widersprach die Beschwerdeführerin in ihrer Stellungnahme vom 29. September 1998 und wiederholte, sie sei am 17. September 1997 wieder nach Jordanien (und dann in den Irak) zurückgekehrt. Diese Einreise sei deshalb nicht im Reisepass vermerkt worden, weil sie über ein befristetes Aufenthaltsrecht in Jordanien verfügt habe. Darüber hinaus erstattete die Beschwerdeführerin ein umfangreiches Vorbringen zur politischen Lage im Nordirak und verwies neuerlich auf die Praktizierung der "Sippenhaft" im Irak als Instrument der Verfolgung und Einschüchterung von Regierungsgegnern.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - die Berufung "gemäß §§ 7, 8 AsylG" ab und sie erklärte (insbesondere) die Abschiebung der Beschwerdeführerin "nach Irak" für zulässig. Die belangte Behörde erachtete die Verfolgungsbehauptungen der Beschwerdeführerin für nicht glaubwürdig und stellte zu den vorgebrachten Fluchtgründen nur fest, die Beschwerdeführerin sei aufgrund einer am 26. Juli 1997 ausgestellten unbefristeten Ausreisegenehmigung am 13. August 1997 über den irakischjordanischen Grenzübergang Trebeel (aus dem Irak) ausgereist, habe sich bis zum 19. August 1997 in Jordanien aufgehalten und sei in der Folge mit einem (für etwa zwei Monate) gültigen Visum nach Österreich gereist. Sie habe sich seit dem 19. August 1997 im Bundesgebiet aufgehalten, ohne zwischenzeitlich in den Irak zurückgekehrt zu sein. Dies begründete die belangte Behörde beweiswürdigend damit, dass die Beschwerdeführerin anlässlich des Verfahrens über die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung der Bundespolizeidirektion Wien das Original des Reisepasses vorgelegt habe, aus dem sich - im Unterschied zu den der belangten Behörde vorgelegten Kopien von Teilen des Reisepasses - aufgrund der darin enthaltenen Stempel und Vermerke die festgestellten Reisedaten nachvollziehbar ergäben. Die Beschwerdeführerin habe nicht schlüssig erklären können, warum aus Anlass der behaupteten Rückkehr in den Irak kein Stempel bei der Ausreise aus Österreich und bei den weiteren Grenzübertritten eingetragen worden sei. Die belangte Behörde gehe von einer der Beschwerdeführerin von den irakischen Behörden unbefristet erteilten Ausreisegenehmigung aus, weil sie der Aufforderung mitzuteilen, ob von den irakischen Behörden eine Rückkehrfrist gesetzt worden sei, nicht nachgekommen sei. Da die Beschwerdeführerin das Land auf legalem Weg verlassen habe und sich seither nicht mehr im Irak befunden habe, hätten die von ihr geschilderten Nachforschungen der irakischen Behörden daher auch nicht stattfinden können. Würde das Vorbringen der Beschwerdeführerin der Wahrheit entsprechen, so sei es auch unglaubwürdig, dass die irakischen Behörden den Reisepass der Beschwerdeführerin ihren Familienangehörigen im Mai 1998 zurückgegeben hätten. Darüber hinaus traf die belangte Behörde Feststellungen zur Situation im Irak.
In rechtlicher Hinsicht ging die belangte Behörde mit näherer Begründung davon aus, dass der Beschwerdeführerin die Glaubhaftmachung einer Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention nicht gelungen sei. Auf Grund des unbehelligten Aufenthaltes der Beschwerdeführerin während eines ganzen Jahres nach der Eheschließung (vor einem irakischen Standesamt) in Verbindung mit dem reibungslosen Behördenkontakt und der bewilligten Ausreise sei davon auszugehen, dass im konkreten Fall auch die - "gegebenenfalls stattfindende" - Sippenhaftung im Irak "im Falle der Asylwerberin objektiv keine begründete Furcht vor Verfolgung auslöst". Auf Grund der konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die irakischen Behörden an der Beschwerdeführerin tatsächlich nicht interessiert seien, würden auch die Berufungsausführungen hinsichtlich der Relevanz einer unterstellten politischen Gesinnung ins Leere gehen. Zur Asylrelevanz der illegalen Ausreise und dem unerlaubten Auslandsaufenthalt sei auf die gegenteiligen Feststellungen zu verweisen. In Ansehung der Asylantragstellung bestehe kein Indiz dafür, dass den irakischen Behörden dieses Faktum zur Kenntnis gebracht werde. Die belangte Behörde halte Nachforschungen hinsichtlich des Aufenthalts der Antragstellerin für unwahrscheinlich, zumal sich diese legal im Ausland befinde. Auf die Berufungsausführungen zur innerstaatlichen Fluchtalternative im Nordirak sei nicht einzugehen, weil eine begründete Furcht vor Verfolgung im Irak überhaupt verneint werde.
Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, welcher deren Behandlung mit Beschluss vom 13. Oktober 1999, B 2060/98, ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. Über diese (ergänzte) Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
Der angefochtene Bescheid erweist sich schon deshalb als rechtswidrig, weil die belangte Behörde eine Umwürdigung der Beweisergebnisse - im Gegensatz zur belangten Behörde war die Erstbehörde noch von der Glaubwürdigkeit der Angaben der Beschwerdeführerin ausgegangen - nur nach Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung hätte vornehmen dürfen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 18. Feburar 1999, Zl. 98/20/0423, und die daran anschließende Rechtsprechung; aus neuerer Zeit etwa die hg. Erkenntnisse vom 22. November 2001, Zl. 98/20/0223, und vom 19. Dezember 2001, Zl. 98/20/0312, mwN).
Die belangte Behörde begründete das Absehen von der in der Berufung ausdrücklich beantragten Einvernahme der Beschwerdeführerin und ihres Ehegatten (in einer mündlichen Berufungsverhandlung) damit, dass "aufgrund des objektiven Erklärungswertes der Eintragungen im Reisepass, an welchen die nicht plausiblen Erklärungen der Asylwerberin nicht einmal Zweifel begründen konnten, ...ein klares Bild über die maßgebenden Sachverhaltsmomente bereits vorlag." In diesem Sinn führt die belangte Behörde auch in der Gegenschrift aus, "die Glaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin wurde anhand objektiv nachvollziehbarer Daten widerlegt, weshalb der persönliche Eindruck der Beschwerdeführerin im Rahmen einer Einvernahme in diesem Fall nicht wesentlich gewesen wäre." Diese Ausführungen der belangten Behörde stellen nicht nur eine vorgreifende - und somit unzulässige - Beweiswürdigung dar (vgl. dazu die bei Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I2, E 229ff zu § 45 AVG referierte Rechtsprechung), sondern lassen auch außer Betracht, dass vor einer Umwürdigung der Beweisergebnisse durch die Berufungsbehörde - gleichgültig, ob in an sich schlüssiger oder unschlüssiger Beweiswürdigung - ebenso wie bei einer erstmaligen Würdigung eines neuen Berufungsvorbringens jedenfalls zu verhandeln ist (vgl. das bereits erwähnte Erkenntnis vom 18. Februar 1999). Schließlich ist aus dem Hinweis in der Gegenschrift auf die Kostenentscheidung in dem hg. Beschluss vom 8. Juni 2000, Zl. 99/20/0260, schon deshalb nichts zu gewinnen, weil in dem dort zu beurteilenden Fall beide Instanzen des Verwaltungsverfahrens von der Glaubwürdigkeit der Angaben der dort beschwerdeführenden Partei ausgegangen sind.
Darüber hinaus wäre die Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung auch erforderlich gewesen, weil die belangte Behörde zur politischen Lage im Irak von sich aus neue Ermittlungen angestellt und dazu im angefochtenen Bescheid Feststellungen getroffen hat. Diesem Erfordernis konnte nicht dadurch entsprochen werden, dass der Beschwerdeführerin Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme zu den Ermittlungsergebnissen eingeräumt wurde (vgl. das hg. Erkenntnis vom 23. März 2000, Zl. 99/20/0002, und beispielsweise jenes vom 19. Dezember 2001, Zl. 98/20/0551).
Da nicht auszuschließen ist, dass die belangte Behörde bei Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung - vor allem in ihrer beweiswürdigenden Beurteilung - zu einem anderen Verfahrensergebnis gelangt wäre, war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2001, BGBl. II Nr. 501.
Wien, am 16. Mai 2002
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2002:1999200553.X00Im RIS seit
06.08.2002