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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG);Norm
B-VG Art140;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident DDr. Jakusch und die Hofräte Dr. Giendl, Dr. Kail, Dr. Pallitsch und Dr. Waldstätten als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Thalhammer, über die Beschwerde des Bürgermeisters der Bundeshauptstadt Wien gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 20. Februar 2002, Zl. 652626/5- I/A/1/02-bre, betreffend Reklamationsverfahren nach § 17 Abs. 2 Z. 2 Meldegesetz (mitbeteiligte Parteien: 1. Bürgermeister der Marktgemeinde Feistritz im Rosental in 9181 Feistritz im Rosental,
2. Dr. Michael Meyenburg, Rechtsanwalt in Wien VII, Neustiftgasse 3 (Kanzleisitz), vertreten durch Dr. Franz-Christian Sladek, Rechtsanwalt ebendort), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
Der 1958 geborene, verheiratete Zweitmitbeteiligte ist seit Geburt in der Gemeinde des mitbeteiligten Bürgermeisters, Feistritz im Rosental (kurz: F), Bezirk Klagenfurt, mit Hauptwohnsitz und seit 1982 in Wien mit weiterem Wohnsitz gemeldet.
In seiner Wohnsitzerklärung vom 11. Mai 2001 gab der Zweitmitbeteiligte an, er halte sich in F rund 70 Tage im Jahr auf, wo er mit seinen Eltern wohne (die dort mit Hauptwohnsitz gemeldet seien), an seinem Wohnsitz in Wien XII hingegen rund 200 Tage im Jahr, wo er mit seiner Ehefrau wohne (die dort mit weiterem Wohnsitz gemeldet sei) und seiner 1994 geborenen Tochter (die dort mit Hauptwohnsitz gemeldet sei und in Wien XIV die Schule/den Kindergarten besuche). Die Frage nach Funktionen in öffentlichen und privaten Körperschaften wird für beide Wohnsitze bejaht (keine näheren Angaben). Der Weg zur Arbeitsstätte in Wien wird überwiegend von Wien aus angetreten. Ergänzend gab der Zweitmitbeteiligte an, seine Arbeitsstätte sei einerseits in seiner Rechtsanwaltskanzlei in Wien VII, andererseits sei er Geschäftsführer einer GesmbH mit Sitz in F, deren Mitgesellschafter seine Eltern seien.
Der mitbeteiligte Bürgermeister brachte in einer Stellungnahme vom 14. November 2001 vor, der Zweitmitbeteiligte habe in F seinen ordentlichen Wohnsitz. Seine Eltern besäßen dort ein Schloss (Herrschaftswohnsitz), wo der Zweitmitbeteiligte aufgewachsen sei. Er fühle sich noch sehr stark mit den Eltern und dem repräsentativen Wohnsitz verbunden. Die Bindung zur Gemeinde F sei auch deshalb noch sehr stark, weil der Zweitmitbeteiligte Geschäftsführer eines Unternehmens in dieser Gemeinde sei.
Der Zweitmitbeteiligte führte in einer Stellungnahme vom 5. Dezember 2001 insbesondere aus, der Umfang seiner Tätigkeiten ergebe sich aus seiner Wohnsitzerklärung und der Stellungnahme des mitbeteiligten Bürgermeisters vom 14. November 2001. Er lebe seit seiner Kindheit in F (erster ordentlicher Wohnsitz). Er lebe auch seit 1982 in Wien XII (zweiter ordentlicher Wohnsitz; er sei dann 1991 im selben Haus umgezogen). Die weiteren Ausführungen in dieser Stellungnahme befassen sich mit der vom Zweitmitbeteiligten angenommenen Verfassungswidrigkeit der maßgeblichen Rechtslage. In einer weiteren Stellungnahme vom 19. Dezember 2001 erklärte der Zweitmitbeteiligte, er bestätige nochmals schriftlich, dass er seinen Hauptwohnsitz im Sinne der derzeitigen Bestimmungen des MeldeG in F aufrecht erhalten wolle.
Mit dem angefochtenen Bescheid hat die belangte Behörde den Reklamationsantrag des Beschwerdeführers abgewiesen. Sie stellte fest, dass der Zweitmitbeteiligte an der von ihm angegebenen Anschrift in F mit Hauptwohnsitz und in Wien mit weiterem Wohnsitz gemeldet sei. Er verbringe den überwiegenden Teil des Jahres am "Hauptwohnsitz". Er lebe mit seinen Eltern an der Hauptwohnsitzadresse und mit seiner Ehefrau (die in Wien mit weiterem Wohnsitz gemeldet sei) und seiner Tochter an der Nebenwohnsitzadresse. Der Weg zum Arbeitsplatz in Wien werde überwiegend vom Nebenwohnsitz aus angetreten. Ein minderjähriges Kind sei vorhanden, welches in Wien zur Schule gehe. Weiters seien in F besondere wirtschaftliche Bindungen insofern vorhanden, als der Zweitmitbeteiligte auch als Geschäftsführer eines Unternehmens in F tätig sei.
Die belangte Behörde leitete hieraus zusammengefasst ab, dass der Zweitmitbeteiligte zwei Wohnsitze mit Mittelpunktqualität habe, sodass ihm ein Wahlrecht zugekommen sei.
Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.
Der Zweitmitbeteiligte hat eine Gegenschrift erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Der Kern der vom Zweitmitbeteiligten in seiner Gegenschrift (wie auch schon im Verwaltungsverfahren) dargelegten verfassungsrechtlichen Bedenken lässt sich dahin zusammenfassen, dass mit Art. 6 Abs. 2 und 3 B-VG in der nunmehrigen Fassung die Landesbürgerschaft abgeschafft worden sei, was in Wahrheit eine Gesamtänderung der Verfassung ohne die hiezu erforderliche Volksabstimmung darstelle. Der Verwaltungsgerichtshof teilt diese Bedenken nicht und sieht sich daher nicht veranlasst, "das vorliegende Verfahren zum Anlass (zu) nehmen und dem Verfassungsgerichtshof zur Frage vorlegen, inwieweit nicht die Bestimmungen des Artikel 6 Abs. 2 und 3 BVG in der Fassung der Novelle 1994 gegen die Grundsätze der Bundesverfassung verstoßen und daher eine Gesamtänderung derselben darstellen, die ohne Volksabstimmung nicht durchzuführen gewesen und daher nicht sind", wobei noch zu bemerken ist, dass der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26. September 2001, G 139/00-10 u.a., das Reklamationsverfahren als verfassungskonform bewertet hat und daraus auch kein Hinweis ableitbar ist, dass der Verfassungsgerichtshof die vom Zweitmitbeteiligten dargelegten Bedenken gehegt hätte.
In der Sache selbst gilt Folgendes:
Im zulässigerweise eingeleiteten Reklamationsverfahren wird die bis dahin für den Hauptwohnsitz des Betroffenen ausschließlich maßgebliche "Erklärung" des Meldepflichtigen dahingehend "hinterfragt, ob der erklärte Hauptwohnsitz den in Art. 6 Abs. 3 B-VG (§ 1 Abs. 7 MeldeG) normierten objektiven Merkmalen entspricht" (siehe das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 26. September 2001, G 139/00-10, u.a.). Die Lösung der im Reklamationsverfahren maßgeblichen Rechtsfrage des Hauptwohnsitzes des Betroffenen hängt an dem materiell-rechtlichen Kriterium "Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen". Bei der Beurteilung dieses Tatbestandsmerkmales kommt es auf eine Gesamtschau an, bei welcher die Bestimmungskriterien des § 1 Abs. 8 MeldeG (in der Fassung der Novelle BGBl. I Nr. 28/2001), maßgeblich sind: Aufenthaltsdauer, Lage des Arbeitsplatzes oder der Ausbildungsstätte, Ausgangspunkt des Weges zum Arbeitsplatz oder zur Ausbildungsstätte, Wohnsitz der übrigen, insbesondere der minderjährigen Familienangehörigen und der Ort, an dem sie ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen, ausgebildet werden oder die Schule oder den Kindergarten besuchen, Funktionen in öffentlichen und privaten Körperschaften.
Der Verwaltungsgerichtshof hat im Erkenntnis vom 13. November 2001, Zl. 2001/05/0935, klargestellt, dass das subjektive Kriterium "überwiegendes Naheverhältnis", das nur in der persönlichen Einstellung des Betroffenen zum Ausdruck kommt, nur in den Fällen den Ausschlag gibt, in denen als Ergebnis des Ermittlungsverfahrens zwei oder mehrere "Mittelpunkte der Lebensbeziehungen" des Betroffenen hervorgekommen sind (also wenn ausnahmsweise zwei oder mehrere Wohnsitze des Betroffenen solche Mittelpunkte darstellen, wobei die vom Betroffenen vorgenommene Bezeichnung eines Hauptwohnsitzes allein nicht jedenfalls maßgeblich ist). Das Reklamationsverfahren wird nur dann für den antragstellenden Bürgermeister erfolgreich sein, wenn der Betroffene ein "überwiegendes Naheverhältnis" an einem Ort behauptet, an dem er keinen Mittelpunkt der Lebensbeziehungen (§ 1 Abs. 7 MeldeG) hat, mag er dort auch einen Wohnsitz im Sinne des § 1 Abs. 6 MeldeG haben. Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Zusammenhang auch klargelegt, dass eine "absolute Sicherheit" über die Lebenssituation des Meldepflichtigen für die Evaluierung des zu beurteilenden Sachverhaltes nicht notwendig ist; der Gesetzgeber hat durch die Regelung des § 17 Abs. 3 MeldeG bewusst die in Rede stehenden Unschärfen aus rechtspolitischen Gründen in Kauf genommen (siehe dazu näher das genannte Erkenntnis vom 13. November 2001, Zl. 2001/05/0935, oder auch das weitere Erkenntnis vom selben Tag, Zl. 2001/05/0930).
Der Zweitmitbeteiligte hatte angegeben, er halte sich rund 70 Tage im Jahr an seinem Wohnsitz in F und 220 Tage im Jahr an seinem Wiener Wohnsitz auf. Vor diesem Hintergrund ist die Feststellung der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid, er verbringe den "überwiegenden Teil des Jahres am Hauptwohnsitz", nicht nachvollziehbar, es dürfte ein Schreibfehler vorliegen und "Nebenwohnsitz" gemeint sein (zumal auch die Abweichung von den Angaben in der Wohnsitzerklärung in keiner Weise begründet wird).
In der Sache selbst bringt der Zweitmitbeteiligte insbesondere vor, der Umfang seiner Tätigkeiten ergebe sich aus seiner Wohnsitzerklärung und der Stellungnahme des mitbeteiligten Bürgermeisters vom 14. November 2001. Er lebe seit seiner Kindheit in F (dies sei sein erster ordentlicher Wohnsitz), er habe sich im Jahr 1982 an der Anschrift in Wien XII ordnungsgemäß als weiteren ordentlichen Wohnsitz gemeldet (und sei dann im Jahr 1991 im selben Haus umgezogen). Er habe unzweifelhaft "zwei Hauptwohnsitze" und habe daher zu Recht jenen als seinen Hauptwohnsitz bezeichnet, zu dem er ein überwiegendes Naheverhältnis habe. Die Argumentation des Beschwerdeführers, wonach mit der beruflichen Tätigkeit in Wien automatisch auch der ausschließliche Hauptwohnsitz in Wien vorliege, weil nur dort die beruflichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebensbeziehungen liegen könnten, gehe ins Leere. Die beruflichen Lebensbeziehungen umfassten bei ihm eben nicht nur die Rechtsanwaltschaft, sondern auch die Tätigkeit des Geschäftsführers. Im Übrigen seien freiberufliche Tätigkeiten heutzutage in einem großen Maße nicht an einen Kanzleisitz gebunden. Zu ergänzen sei, dass er seit Jahrzehnten beispielsweise Mitglied der Astronomischen Vereinigung Kärntens, des Österreichischen Alpenvereins, Sektion Klagenfurt, und seit einigen Jahren Mitglied des Geschichtsvereins für Kärnten sei (Anmerkung: letzteres Vorbringen wurde im Verwaltungsverfahren nicht erstattet).
Dem ist Folgendes zu entgegnen:
Der Zweitmitbeteiligte ist in Wien berufstätig, er übt hier die Rechtsanwaltschaft aus. Den unbestrittenen Feststellungen der belangten Behörde zufolge (auf Grund seiner Angaben) wohnt er in Wien mit seiner 1994 geborenen Tochter (die unbestritten in Wien mit Hauptwohnsitz gemeldet ist und in Wien die Schule besucht), sowie mit seiner Ehefrau, die in Wien mit weiterem Wohnsitz gemeldet ist. Wo sie ihren Hauptwohnsitz hat, wurde nicht vorgebracht und ist nicht aktenkundig, den Angaben des Zweitmitbeteiligten in der Wohnsitzerklärung zufolge aber jedenfalls nicht an seinem Wohnsitz in F (weil dort nur seine Eltern als Mitbewohner angegeben sind). Bei dieser Sachverhaltsgrundlage hat der Zweitmitbeteiligte jedenfalls einen Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen in Wien. Die Lebensbeziehung zu Wien ist überdies - auch unter Bedachtnahme auf Art. 8 MRK (Achtung des Familienlebens) - als derart intensiv anzusehen, dass dem Wohnsitz in F kein Mittelpunktcharakter mehr zukommt (siehe dazu beispielsweise die hg. Erkenntnisse ebenfalls vom 13. November 2001, Zl. 2001/05/0932 und Zl. 2001/05/0941), wozu noch ergänzend zu bemerken ist, dass bei der im Reklamationsverfahren gebotenen generalisierenden Betrachtungsweise die familiäre Bindung einer Person an die Eltern umso mehr in den Hintergrund tritt, je mehr sich ihr Alter vom Erreichen der Volljährigkeit entfernt hat, wie auch die Heimatverbundenheit einer Person in den in § 1 Abs. 8 MeldeG genannten Kriterien nicht enthalten ist (siehe dazu das hg. Erkenntnis vom 27. Februar 2002, Zl. 2001/05/1163). Dem Umstand, dass der Zweitmitbeteiligte auch Geschäftsführer jener GesmbH ist, kommt angesichts dessen kein entscheidendes Gewicht zu.
Daraus folgt, dass der Zweitmitbeteiligte ohne Rechtsgrundlage eine Wahl nach § 1 Abs. 7 MeldeG getroffen hat.
Da die belangte Behörde dies verkannte, belastete sie den angefochtenen Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben war.
Wien, am 19. Juni 2002
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2002:2002050415.X00Im RIS seit
18.09.2002