TE Vwgh Erkenntnis 2002/6/20 99/20/0546

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Veröffentlicht am 20.06.2002
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
FrG 1997 §57 Abs1;
FrG 1997 §57 Abs2;
FrG 1997 §57;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Grünstäudl und Dr. Berger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Hohenecker, über die Beschwerde des SC in Graz, geboren am 1. Mai 1968, vertreten durch Mag. Michael-Thomas Reichenvater, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Herrengasse 13/II, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 30. September 1999, Zl. 211.937/0-V/15/99, betreffend §§ 7, 8 AsylG (weiter Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Sierra Leone und reiste am 22. Februar 1999 in das Bundesgebiet ein. Am 23. Februar 1999 beantragte er Asyl.

Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 14. April 1999 begründete der Beschwerdeführer seinen Asylantrag im Wesentlichen damit, sein Heimatdorf Kunde liege an der Grenze zu Liberia. Die in dem in Sierra Leone herrschenden Bürgerkrieg kämpfenden Rebellen der RUF (Revolutionäre Vereinigte Front) und des Johnny Paul Koroma hätten in der Gegend seines Dorfes Waffenlager und Fahrzeuge. Immer wenn die RUF Schwierigkeiten mit der Regierung habe, würden Leute umgebracht. Es seien bereits seine Stiefmutter und zwei seiner Brüder von den "Koroma-Leuten" getötet worden; am 26. Jänner 1999 hätten sie auch den älteren Bruder des Beschwerdeführers getötet und sein Haus zerstört. Der Beschwerdeführer habe sich danach mit einem Bruder im Busch versteckt und in der Nacht Fahrzeuge der RUF in Brand gesteckt. Von den "Koroma-Leuten" sei gegen den Beschwerdeführer ein Haftbefehl erlassen worden. Die "Koroma-Leute" hätten auch seinen Vater weggebracht. Er habe daher Kunde verlassen und sich zur Flucht aus Sierra Leone entschlossen. Da die Macht der Rebellen größer sei als jene der Regierung, habe er sich nicht unter den Schutz der Regierung stellen können. Im ganzen Land sei Krieg und er könne nirgendwohin gehen. Im Falle seiner Rückkehr befürchte er zu sterben, weil er von den "Koroma-Leuten" verfolgt würde.

Das Bundesasylamt wies den Asylantrag des Beschwerdeführers mit Bescheid vom 3. August 1999 gemäß § 7 AsylG ab und sprach aus, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone "gemäß § 8 AsylG" zulässig sei. Das Bundesasylamt begründete seine Entscheidung damit, dass es in Sierra Leone keinen Ort namens Kunde gebe. Kunde liege vielmehr in Nigeria. Der Beschwerdeführer habe daher nicht glaubhaft gemacht, dass er tatsächlich aus Sierra Leone komme und dort Verfolgung ausgesetzt sei. Selbst wenn der Beschwerdeführer aus Sierra Leone stammte, so lägen keine Umstände vor, aus denen hervorgehe, dass individuelle Verfolgungshandlungen aus asylrelevanten Gründen gegen den Beschwerdeführer gesetzt worden wären. Auf Grund des von den Rebellen geschlossenen Friedensabkommens vom Juli 1999 habe sich die Situation in Sierra Leone wieder stabilisiert, sodass davon auszugehen sei, dass der Beschwerdeführer ohne Risiko in seine angebliche Heimat zurückkehren könne.

In der Berufung gegen den erstinstanzlichen Bescheid führte der Beschwerdeführer an, dass er nicht nur auf Grund der allgemein herrschenden politischen Verhältnisse aus Sierra Leone geflüchtet sei, sondern wegen seiner "individuellen Verfolgung durch die Rebellen". Er verwies auf die Ermordung seiner Familienangehörigen und führte aus, die Waffen und Fahrzeuge für die Rebellen würden von Liberia aus durch das Heimatgebiet des Beschwerdeführers geliefert. Wenn es dabei zu Schwierigkeiten komme oder sonstige Probleme aufträten, würden von den Rebellen wahllos Leute umgebracht. Er habe sich wegen des von den Rebellen gegen ihn erlassenen Haftbefehls in seiner Heimat nicht mehr sicher gefühlt. Hätte er nicht die Möglichkeit zur Flucht gehabt, so wäre er sicher nicht mehr am Leben, "sondern wie so viele meiner Familienmitglieder den Rebellen zum Opfer gefallen". Der Beschwerdeführer verwies darauf, dass in seiner Heimat seit zehn Jahren Bürgerkrieg herrsche und die Regierung keinen Schutz vor den Rebellen gewähren könne. In Sierra Leone sei es besonders im Jänner 1999 zu schwersten Menschenrechtsverletzungen und Massakern gekommen. Es sei noch nicht abzusehen, ob es durch das Friedensabkommen vom 7. Juli 1999 nach dem seit Jahren andauernden Bürgerkrieg zu einer dauerhaften Beruhigung der Situation kommen werde oder das Abkommen "nur am Papier" bestehe, und es komme weiterhin zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Da die Rebellen der RUF, die ihn verfolgt und bedroht hätten, vom Staat nicht bestraft würden und sich weiterhin in Freiheit befänden, befürchte er von den Rebellen trotz des Friedensabkommens festgenommen und umgebracht zu werden. Zu seiner Herkunft aus Sierra Leone führte der Beschwerdeführer aus, dass er aus der Stadt Koindu komme; Kunde sei ein Bezirk bzw. ein bestimmtes Gebiet der Stadt Koindu, die an der Grenze von Sierra Leone zu Liberia liege. Seine in erster Instanz gemachten Angaben seien wahr.

Mit dem nunmehr angefochtenen, ohne Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung erlassenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG ab und stellte "gemäß § 8 AsylG in Verbindung mit § 57 Abs. 1 des Fremdengesetzes" fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone zulässig sei. Die belangte Behörde stellte fest, dass der Beschwerdeführer Staatsangehöriger von Sierra Leone sei und sein Heimatland Ende Jänner 1999 auf Grund des Bürgerkrieges verlassen habe. Familienangehörige des Beschwerdeführers seien von den Rebellen getötet worden. Der Beschwerdeführer selbst sei bis zu seiner Ausreise "keinen konkreten Verfolgungshandlungen aus einem in der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Grund ausgesetzt" gewesen. Hinsichtlich der zu Sierra Leone getroffenen Feststellungen verwies die belangte Behörde "auf die entsprechenden Passagen des erstinstanzlichen Bescheides" und erhob diese zum Bestandteil des gegenständlichen Bescheides. Dem durchgeführten Ermittlungsverfahren seien "insbesondere das Vorbringen des Berufungswerbers" und der "auf amtlichem Dokumentationsmaterial beruhende behördliche Wissensstand" zu Grunde gelegt worden. In Bezug auf den vom Beschwerdeführer behaupteten "Haftbefehl" führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer keinerlei Gründe für diesen angeführt habe. Weder habe der Beschwerdeführer behauptet noch habe sich sonst ein Anhaltspunkt dafür ergeben, dass seine Verfolgung auf einem asylrechtlich relevanten Merkmal beruhe. Vielmehr habe der Beschwerdeführer selbst die Vorgangsweise der Rebellen damit beschrieben, dass diese "wahllos Leute umgebracht hätten". Daran anschließend führte die belangte Behörde aus, dass die im Heimatland des Beschwerdeführers herrschende Bürgerkriegssituation und die damit im Zusammenhang stehenden "Zwangsrekrutierungsmaßnahmen einzelner Bürgerkriegsparteien" für sich allein die Flüchtlingseigenschaft nicht zu begründen vermöchten. Die Refoulement-Entscheidung begründete die belangte Behörde damit, dass der Beschwerdeführer keine drohende Gefahr im Sinne des § 57 Abs. 1 FrG glaubhaft gemacht habe. Die allgemeine Situation in Sierra Leone vermöge "keine Indizien" für eine solche Gefährdungssituation aufzuzeigen. Die erkennende Behörde sei "mangels konkretisierten Tatsachenvorbringens" nicht gehalten gewesen, "in weitere Ermittlungen einzutreten". Die vom Beschwerdeführer aufgezeigte Bürgerkriegssituation reiche "ohne Hinzutreten weiterer massiver bzw. begründeter, konkret den Berufungswerber betreffender Gefährdungsmomente nicht zur Glaubhaftmachung einer Bedrohungssituation aus". Schließlich sei festzuhalten, dass die Glaubhaftmachung einer konkreten Gefährdungssituation das Feststehen der Identität voraussetze, der Beschwerdeführer habe jedoch keine seine Identität nachweisende Dokumente oder Beweismittel vorlegen bzw. seine Identität auf andere geeignete Weise darzutun vermocht.

Über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:

Die belangte Behörde hat die Herkunft des Beschwerdeführers aus Sierra Leone nicht mehr in Zweifel gezogen und auch sonst keine Beweiswürdigung zum Nachteil des Beschwerdeführers vorgenommen. Sie hat der Entscheidung - ihren Ausführungen zufolge - u.a. dessen Vorbringen zu Grunde gelegt. Dabei ist sie allerdings davon ausgegangen, der Beschwerdeführer habe für den Haftbefehl der Rebellen "im Zuge des gesamten Verfahrens keinerlei Gründe" genannt. In den daran anschließenden rechtlichen Erwägungen meint die belangte Behörde sogar, der Beschwerdeführer habe "es im Großen und Ganzen bei einer pauschal aufgestellten Behauptung, von den Rebellen verfolgt worden zu sein, bewenden lassen, ohne diese Verfolgung durch ein substantiiertes Vorbringen zu konkretisieren und damit glaubhaft darzulegen". Schließlich wird - in der Begründung des Ausspruches gemäß § 8 AsylG - die Auffassung vertreten, die vom Beschwerdeführer "angesprochene allgemeine Situation in Sierra Leone" vermöge "keine Indizien" für eine "obzitierte Gefährdungssituation" aufzuzeigen und die belangte Behörde sei "mangels konkretisierten Tatsachenvorbringens ... nicht gehalten, in weitere Ermittlungen einzutreten."

Damit hat es die belangte Behörde in Wahrheit abgelehnt, auf das zu beurteilende, aktenkundige Vorbringen meritorisch einzugehen und ihre Entscheidung nachvollziehbar zu begründen, was allein schon zu deren Aufhebung führen muss. Dies gilt im Besonderen auch insofern, als eine Auseinandersetzung mit dem Berufungsvorbringen zur Lage nach dem Friedensabkommen vom Juli 1999 völlig fehlt.

In rechtlicher Hinsicht meint die belangte Behörde, ein "bloßer Haftbefehl" der Rebellen könne für eine Asylgewährung nicht ausreichend "gravierend" sein, wenn nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes "nicht einmal kurzfristige Inhaftierungen" eines Asylwerbers ausreichten, um dessen Verbleib in seinem Heimatland unerträglich erscheinen zu lassen. Dieser Auffassung der belangten Behörde ist mit Rücksicht auf das bei ihr vorauszusetzende Wissen über die Vorgänge in Sierra Leone und unter dem Gesichtspunkt, dass in einem Fall wie dem vorliegenden nicht der Haftbefehl selbst, sondern die zu erwartende Behandlung durch die Rebellen bei dessen Vollzug als Fluchtgrund zu würdigen ist, nicht beizutreten. Des zusätzlichen Hinweises des Beschwerdeführers auf das Schicksal seiner Angehörigen hätte es in diesem Zusammenhang zwar nicht mehr bedurft, doch stand es der belangten Behörde auch nicht frei, sich über diesen Teil des Vorbringens mit der Bemerkung, es hätten nur den Asylwerber selbst "unmittelbar" betreffende Umstände Berücksichtigung zu finden und "Ereignisse gegen Angehörige" könnten "den gewünschten Verfahrensausgang" nicht bewirken, hinweg zu setzen. Dass der Beschwerdeführer ausdrücklich vorgebracht hat, auch ihm drohe im Falle seiner Ergreifung durch die Rebellen die Ermordung, ist nur noch der Vollständigkeit halber anzumerken.

Die belangte Behörde scheint - in Bezug auf den Asylteil ihrer Entscheidung - auch zu meinen, die wiederkehrenden Maßnahmen der Rebellen gegen die Bevölkerung in der Heimatregion des Beschwerdeführers ("wahllose" Tötungen), gegen dessen Familie und schließlich gegen ihn selbst stünden in keinem ausreichend klaren Zusammenhang mit einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe. Davon ausgehend wäre es im vorliegenden Fall die Aufgabe der belangten Behörde gewesen, dem im Vorbringen des Beschwerdeführers wiederholt angesprochenen Zusammenhang zwischen den Maßnahmen der Rebellen und deren "Schwierigkeiten" mit der Regierung, insbesondere bezüglich der Waffenlieferungen durch die Heimatregion des Beschwerdeführers, im Rahmen eines ergänzenden Ermittlungsverfahrens vor allem unter dem damit indizierten Gesichtspunkt einer von den Rebellen zumindest unterstellten Zusammenarbeit der Bevölkerung mit der Regierung nachzugehen.

Darüber hinaus hat die belangte Behörde ihre auf § 8 AsylG "in Verbindung mit § 57 Abs. 1 des Fremdengesetzes" gestützte Refoulement-Entscheidung mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes belastet, weil die belangte Behörde ihre Entscheidung sowohl im Spruch als auch in der Begründung des angefochtenen Bescheides nur unter den Gesichtspunkten des § 57 Abs. 1 FrG - nicht jedoch des Abs. 2 dieser Bestimmung - getroffen hat (vgl. dazu die hg. Erkenntnisse vom 16. Februar 2000, Zl. 99/01/0397, vom selben Tag, Zl. 99/01/0435, sowie vom 31. Jänner 2002, Zl. 99/20/0411, u.a.) und in Verkennung der Rechtslage davon ausgegangen ist, dass das Feststehen der Identität des Asylwerbers gesetzliche Voraussetzung für die Gewährung von Abschiebungsschutz wegen einer Bedrohung im Sinne des § 57 Abs. 1 FrG sei (vgl. dazu im Einzelnen das hg. Erkenntnis vom 25. November 1999, Zl. 99/20/0465).

Der angefochtene Bescheid war daher wegen (der in Bezug auf beide Spruchteile prävalierenden) Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben. Die Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung konnte bei diesem Ergebnis des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG unterbleiben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verwaltungsgerichtshof-Aufwandersatzverordnung 2001.

Wien, am 20. Juni 2002

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2002:1999200546.X00

Im RIS seit

07.10.2002
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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