TE Vwgh Erkenntnis 2002/6/26 98/21/0246

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Veröffentlicht am 26.06.2002
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein;
40/01 Verwaltungsverfahren;

Norm

VStG §6;
VwRallg;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sauberer und die Hofräte Dr. Enzenhofer und Dr. Grünstäudl als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Bauernfeind, über die Beschwerde der N in D, geboren am 1. November 1964, vertreten durch Dr. Wilfried Ludwig Weh, Rechtsanwalt in 6900 Bregenz, Wolfeggstraße 1, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Vorarlberg vom 10. März 1998, Zl. 1-0186/97/E2, betreffend Bestrafung wegen Übertretung des Fremdengesetzes, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Das Land Vorarlberg hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1089,68 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

I.

Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Vorarlberg (der belangten Behörde) vom 10. März 1998 wurde über die Beschwerdeführerin, eine türkische Staatsangehörige, gemäß § 82 Abs. 1 Z. 1 des Fremdengesetzes - FrG, BGBl. Nr. 838/1992, eine Geldstrafe von S 1.500,-- (Ersatzfreiheitsstrafe von 36 Stunden) verhängt, weil sie trotz der am 27. März 1995 von der Bezirkshauptmannschaft Bregenz (der Erstbehörde) mit Bescheid verfügten Ausweisung (zugestellt am 30. März 1995) nicht rechtzeitig ausgereist sei, indem sie sich auch nach dem bis zum 31. Dezember 1996 gewährten Abschiebungsaufschub, und zwar im Zeitraum vom 1. Jänner 1997 bis zum 10. Jänner 1997, weiterhin im Bundesgebiet aufgehalten habe.

Begründend führte die belangte Behörde nach Darstellung des wesentlichen Inhalts des erstinstanzlichen Bescheides vom 6. Februar 1997 und der von der Beschwerdeführerin dagegen erhobenen Berufung aus, dass diese am 28. August 1992 mit einem bis 28. September 1992 gültigen deutschen Sichtvermerk in das Bundesgebiet eingereist sei und vom Zeitpunkt der Einreise an bis zum 10. Jänner 1997 über keine Aufenthaltsberechtigung im Sinn des § 15 Abs. 1 Z. 2 und 3 FrG verfügt habe. Wegen ihres unrechtmäßigen Aufenthalts sei über sie von der Erstbehörde bereits am 3. März 1995 eine Geldstrafe von S 2.000,-- verhängt worden. Am 6. April 1994 sei die Beschwerdeführerin bei einem Verkehrsunfall in der Bundesrepublik Deutschland schwer verletzt worden. Seit diesem Zeitpunkt stehe sie in medizinischer Behandlung. Mit Bescheid der Erstbehörde vom 27. März 1995 seien sie und ihre beiden Kinder gemäß § 17 (Abs. 1) FrG aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden. Ihre Abschiebung sei mit Bescheid der Erstbehörde vom 25. April 1995 gemäß § 36 Abs. 2 leg. cit. bis zum 31. Dezember 1995 und sodann mit Bescheid der Erstbehörde vom 16. Jänner 1996 bis zum 31. Dezember 1996 aufgeschoben worden. Im Zeitraum vom 1. Jänner 1997 bis zum 10. Jänner 1997 habe sich die Beschwerdeführerin jedoch weiterhin im Bundesgebiet aufgehalten.

Die Beschwerdeführerin habe die Erfüllung des objektiven Tatbestandes des § 82 Abs. 1 Z. 1 FrG nicht in Abrede gestellt. Sie habe gewusst, dass ihre Abschiebung lediglich bis zum 31. Dezember 1996 aufgeschoben worden sei, und es sei ihr beinahe ein Jahr Zeit geblieben, für sich die entsprechenden Reisevorbereitungen zu treffen. Es habe ihr daher möglich sein müssen, am 1. Jänner 1997 auszureisen. Unter diesem Gesichtspunkt könne die belangte Behörde nicht finden, dass ihr noch zusätzlich ein angemessener Zeitraum für Reisevorbereitungen zuzubilligen gewesen wäre. Auch könne die belangte Behörde nicht finden, dass ihr die Ausreise nicht möglich gewesen wäre ("vgl. Stellungnahme des Amtsarztes vom 9.1.1996"). Ferner würden von ihr die Voraussetzungen des Art. 7 des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80 nicht erfüllt. Im Hinblick darauf, dass ihr schon auf Grund des früher durchgeführten Verwaltungsstrafverfahrens und des Umstandes, dass ihr auf Grund des Abschiebungsaufschubs bekannt gewesen sei, zu welchem Zeitpunkt sie das Bundesgebiet zu verlassen habe, die Strafbarkeit ihres Verhaltens bewusst gewesen sei, habe sie den Tatbestand der ihr zur Last gelegten Übertretung auch in subjektiver Hinsicht verwirklicht.

Was die Strafbemessung anlange, so solle die von der Beschwerdeführerin übertretene Strafnorm verhindern, dass sich Fremde einer Ausweisung zuwider im Bundesgebiet aufhielten, und habe sie dem Schutzzweck dieser Bestimmung nicht unerheblich zuwidergehandelt. Erschwerend sei eine gegen dasselbe Rechtsgut gerichtete Vorstrafe gewesen. Milderungsgründe kämen nicht in Betracht. Im Hinblick auf ihre persönlichen Verhältnisse sei bekannt, dass sie auf Grund eines erlittenen Unfalls nach wie vor in ärztlicher Behandlung sei. Sie habe zwei Kinder, ihr Ehegatte sei berufstätig.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift mit dem Antrag, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 82 Abs. 1 Z. 1 FrG begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe bis zu S 10.000,-- oder mit Freiheitsstrafe bis zu 14 Tagen zu bestrafen, wer nach Erlassung eines Aufenthaltsverbotes oder einer Ausweisung nicht rechtzeitig ausreist.

Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, dass sie im gegenständlichen Zeitraum entgegen der gegen sie erlassenen Ausweisung nicht aus dem Bundesgebiet ausgereist ist. Die daraus von der belangten Behörde gezogene rechtliche Schlussfolgerung, dass sie den Tatbestand des § 82 Abs. 1 Z. 1 FrG in objektiver Hinsicht verwirklicht habe, begegnet somit keinen Bedenken.

Die Beschwerdeführerin bringt in ihrer Beschwerde - wie bereits in der mündlichen Verhandlung vor der belangten Behörde am 30. Oktober 1997 - vor, dass sie auf Grund ihres schweren Autounfalls (am 6. April 1994) nach wie vor in ärztlicher Behandlung sei, ihr mit Bescheid der Erstbehörde vom 22. Juli 1997 neuerlich ein Abschiebungsaufschub bis Ende 1997 gewährt worden sei, ihre ärztliche Betreuung nur in Österreich möglich sei und ihr ein anderes Verhalten (eine Ausreise) nicht zumutbar gewesen sei. Weiters bringt sie in ihrer Beschwerde vor, dass sie seit ihrer schweren Verletzung an der Universitätsklinik für Urologie in Innsbruck behandelt werde, ihr auf Grund ihres Gesundheitszustandes der Abschiebungsaufschub gewährt worden sei, sie sich zuletzt am 23. Juni 1997 einem (weiteren) operativen Eingriff an dieser Klinik unterzogen habe, der weltweit nur an dieser Klinik durchgeführt werde und eine längere Vorbereitung erfordert habe, und sie dringend ärztlicher Hilfe bedürfe.

Mit diesem Vorbringen zielt die Beschwerde auf den Schuldausschließungsgrund des Notstandes gemäß § 6 VStG ab. Nach dieser Gesetzesbestimmung ist eine Tat nicht strafbar, wenn sie durch Notstand entschuldigt oder, obgleich sie dem Tatbestand einer Verwaltungsübertretung entspricht, vom Gesetz geboten oder erlaubt ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. etwa das Erkenntnis vom 21. April 1999, Zl. 98/03/0043, m.w.N.) ist unter Notstand gemäß § 6 VStG ein Fall der Kollision von Pflichten und Rechten zu verstehen, in dem jemand sich oder einen anderen aus schwerer unmittelbarer Gefahr einzig und allein dadurch retten kann, dass er eine im Allgemeinen strafbare Handlung begeht. Zum Wesen des Notstandes gehört es somit, dass der Beschuldigte einer unmittelbar drohenden Gefahr für das Leben, die Gesundheit, die Freiheit oder das Vermögen ausgesetzt ist und diese Gefahr zumutbarerweise nicht in anderer Art als durch die Begehung der objektiv strafbaren Handlung behoben werden kann. Auch die irrtümliche Annahme eines Notstandes (Putativnotstand) kann den Beschuldigten entschuldigen, wenn der Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Notstandes nicht auf Fahrlässigkeit beruhte, ihm also nicht vorwerfbar wäre.

Die belangte Behörde vertrat in ihrem Bescheid die Auffassung, dass sie auf Grund der Stellungnahme des Amtsarztes vom 9. Jänner 1996 nicht finden könne, dass der Beschwerdeführerin die Ausreise in der Zeit vom 1. Jänner 1997 bis 10. Jänner 1997 nicht möglich gewesen wäre. Nach Ausweis der vorgelegten Verwaltungsakten führte der Amtsarzt in dieser Stellungnahme vom 9. Jänner 1996 aus, dass die Beschwerdeführerin nach ihrem schweren Verkehrsunfall an Hirnleistungseinbußen in Form von Vergesslichkeit, an Kreuzschmerzen und Lähmungserscheinungen der Unterleibsorgane und Füße leide, sie wegen Blasen-Mastdarmstörung eine Inkontinenzversorgung und besondere Maßnahmen für die Harn- und Stuhlentleerung benötige und eine leichte Gangstörung bestehe. Nach Ansicht des Amtsarztes sei die Beschwerdeführerin daher nur mit einer ihr vertrauten Begleit- bzw. Betreuungsperson reisefähig und bedürfe sie noch der weiteren Rehabilitationsbehandlung, welche nach mitteleuropäischen Maßstäben in der Türkei nicht erhältlich sein dürfte.

Diese amtsärztlichen Ausführungen bieten für die vorzitierte Annahme der belangten Behörde unter dem Blickwinkel, ob der Beschwerdeführerin im Sinn des § 6 VStG die Ausreise zumutbar gewesen sei, keine tragfähige Grundlage. Im Hinblick auf den Inhalt des genannten Schreibens vom 9. Jänner 1996 (und eines aktenkundigen weiteren Schreibens des Amtsarztes vom 21. Mai 1997, wonach sich die Beschwerdeführerin einer Operation wegen Inkontinenz unterziehen müsse, die an keiner anderen Klinik durchgeführt werden könne) durfte die belangte Behörde nicht ohne anders lautende Ermittlungsergebnisse zur Ansicht gelangen, dass die Beschwerdeführerin im angelasteten Tatzeitraum in der Lage gewesen sei, das Bundesgebiet zu verlassen und die von ihr benötigte medizinische Hilfe auch außerhalb Österreichs zu erhalten.

Bei diesen Erwägungen kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich die Erstbehörde veranlasst sah, der Beschwerdeführerin mit Bescheid vom 22. Juli 1997 (laut Ausweis der vorgelegten Verwaltungsakten: auf Grund des Antrages der Beschwerdeführerin vom 3. April 1995, weil die auf Grund des Unfalls resultierende medizinische Behandlung noch nicht abgeschlossen sei) neuerlich einen Abschiebungsaufschub zu gewähren.

Der von der belangten Behörde festgestellte Sachverhalt erweist sich daher in einem wesentlichen Punkt als ergänzungsbedürftig, weshalb der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben war.

Gemäß § 39 Abs. 2 Z. 3 VwGG konnte von der beantragten Verhandlung Abstand genommen werden.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG i.V.m. § 3 Abs. 2 Z. 2 Eurogesetz, BGBl. I Nr. 72/2000, und der Verordnung BGBl. II Nr. 501/2001. Hiebei sei bemerkt, dass der Ansicht der Beschwerdeführerin über eine Verfassungswidrigkeit des § 24 Abs. 3 erster Satz VwGG nicht gefolgt werden kann (vgl. dazu näher den hg. Beschluss vom 5. Juni 1998, Zl. 98/21/0122).

Wien, am 26. Juni 2002

Schlagworte

Definition von Begriffen mit allgemeiner Bedeutung VwRallg7

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2002:1998210246.X00

Im RIS seit

29.10.2002
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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