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66 SozialversicherungNorm
B-VG Art7 Abs1 / VerwaltungsaktLeitsatz
Verletzung im Gleichheitsrecht durch Verweigerung der Beurteilung der Nichtigkeit entscheidungswesentlicher Bestimmungen des Gesamtvertrages durch die Landesberufungskommission als Vorfrage in Verfahren betreffend Streitigkeiten zwischen den Parteien eines Einzelvertrages hinsichtlich HonorarverrechnungenSpruch
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Der Bund (Bundesministerin für Arbeit, Gesundheit und Soziales) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit S 18.000,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Der Beschwerdeführer ist praktischer Arzt in Niederösterreich und hat mit der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft einen Einzelvertrag abgeschlossen. In den Jahren 1991 und 1992 hat der Beschwerdeführer jeweils verschiedene Stoffwechsel- und Enzymuntersuchungen teilweise selbst durchgeführt, teilweise aber über Überweisung durch ein Fachlabor durchführen lassen. Sowohl der Beschwerdeführer als auch das jeweils beauftragte Fachlabor begehrten daraufhin Kostenersatz für die jeweils durchgeführten Untersuchungen bei der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft. Diese erblickte in der beschriebenen Vorgangsweise einen Verstoß gegen die im Gesamtvertrag enthaltene Honorarordnung und zog dem Beschwerdeführer bei den Honorarzahlungen für 1991 und 1992 entsprechende Beträge ab.
2. Gegen den Honoarabzug für das dritte Quartal 1991 rief der Antragsteller den in §23 des Gesamtvertrages vorgesehenen Schlichtungsausschuß an, der jedoch keine Entscheidung traf. Im Verfahren vor der daraufhin vom Beschwerdeführer angerufenen Paritätischen Schiedskommission begehrte die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft als Antragsgegnerin den Ausspruch, daß der Antragsteller auch im vierten Quartal 1991 sowie im ersten, zweiten und dritten Quartal 1992 Vertragsverletzungen begangen habe. Auch die Paritätische Schiedskommission fällte jedoch keine Entscheidung. Daraufhin rief der Beschwerdeführer die Landesberufungskommission an. Diese entschied, daß die Vorgangsweise der beschwerdeführenden Partei gegen die Bestimmungen der Honorarordnung und des Gesamtvertrages verstoße. Die Landesberufungskommission erkannte weiters die Sozialversicherungsanstalt und den Beschwerdeführer für schuldig, sich wechselseitig bestimmte Beträge zu bezahlen bzw. zu refundieren.
3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, auf Freiheit der Erwerbsausübung und auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides verlangt wird.
II. 1. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen.
2. Die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft hat als mitbeteiligte Partei eine Gegenschrift erstattet.
III. Der Verfassungsgerichtshof hat
über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Die im gegebenen Zusammenhang maßgeblichen Vorschriften lauten:
1.1. §341 ASVG lautet auszugsweise:
"(1) Die Beziehungen zwischen den Trägern der Krankenversicherung und den freiberuflich tätigen Ärzten werden durch Gesamtverträge geregelt, die für die Träger der Krankenversicherung durch den Hauptverband mit den örtlich zuständigen Ärztekammern abzuschließen sind. Die Gesamtverträge bedürfen der Zustimmung des Trägers der Krankenversicherung, für den der Gesamtvertrag abgeschlossen wird. Die Österreichische Ärztekammer kann mit Zustimmung der beteiligten Ärztekammer den Gesamtvertrag mit Wirkung für diese abschließen.
...
(3) Der Inhalt des Gesamtvertrages ist auch Inhalt des zwischen dem Träger der Krankenversicherung und dem Arzt abzuschließenden Einzelvertrages. Vereinbarungen zwischen dem Träger der Krankenversicherung und dem Arzt im Einzelvertrag sind rechtsunwirksam, insoweit sie gegen den Inhalt eines für den Niederlassungsort des Arztes geltenden Gesamtvertrages verstoßen.
..."
1.2. §342 ASVG lautet auszugsweise:
"(1) Die zwischen dem Hauptverband und den Ärztekammern abzuschließenden Gesamtverträge haben nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen insbesondere folgende Gegenstände zu regeln:
(...)
3. die Rechte und Pflichten der Vertragsärzte, insbesondere auch ihre Ansprüche auf Vergütung der ärztlichen
Leistung;
4. die Vorsorge zur Sicherstellung einer wirtschaftlichen Behandlung und Verschreibweise;
(...)
(2) Die Vergütung der vertragsärztlichen Tätigkeit ist grundsätzlich nach Einzelleistungen zu vereinbaren. Die Vereinbarungen über die Vergütung der ärztlichen Leistungen sind in Honorarordnungen zusammenzufassen; diese bilden einen Bestandteil der Gesamtverträge. Die Gesamtverträge sollen eine Begrenzung der Ausgaben der Träger der Krankenversicherung für die vertragsärztliche Tätigkeit (einschließlich der Rückvergütungen bei Inanspruchnahme der wahlärztlichen Hilfe (§131)) enthalten."
1.3. §§344 bis 346 ASVG lauten auszugsweise:
"Paritätische Schiedskommission
§344. (1) Zur Schlichtung und Entscheidung von Streitigkeiten, die in rechtlichem oder tatsächlichem Zusammenhang mit dem Einzelvertrag stehen, ist im Einzelfall in jedem Land eine paritätische Schiedskommission zu errichten. Antragsberechtigt im Verfahren vor dieser Behörde sind die Parteien des Einzelvertrages.
(...)
(3) Die paritätische Schiedskommission ist verpflichtet, über einen Antrag ohne unnötigen Aufschub, spätestens aber sechs Monate nach dessen Einlangen, mit Bescheid zu entscheiden. Wird der Bescheid dem Antragsteller innerhalb dieser Frist nicht zugestellt oder wird dem Antragsteller schriftlich mitgeteilt, daß wegen Stimmengleichheit keine Entscheidung zustande kommt, geht auf schriftliches Verlangen einer der Parteien die Zuständigkeit zur Entscheidung an die Landesberufungskommission über. Ein solches Verlangen ist unmittelbar bei der Landesberufungskommission einzubringen. Das Verlangen ist abzuweisen, wenn die Verzögerung nicht auf Stimmengleichheit oder nicht ausschließlich auf ein Verschulden der Behörde (§73 AVG 1950) zurückzuführen ist.
(4) Gegen einen Bescheid der paritätischen Schiedskommission kann Berufung an die Landesberufungskommission erhoben werden.
Landesberufungskommission
§345. (1) Für jedes Land ist auf Dauer eine Landesberufungskommission zu errichten. (...)
(2) Die Landesberufungskommission ist zuständig:
1. zur Entscheidung über Berufungen gegen Bescheide der paritätischen Schiedskommission und
2. zur Entscheidung auf Grund von Devolutionsanträgen gemäß §344 Abs3.
(...)
Landesschiedskommission
§345a. (1) Für jedes Land ist auf Dauer eine Landesschiedskommission zu errichten. (...)
(2) Die Landesschiedskommission ist zuständig:
1. zur Schlichtung und Entscheidung von Streitigkeiten zwischen den Parteien eines Gesamtvertrages über die Auslegung oder die Anwendung eines bestehenden Gesamtvertrages und
2. zur Entscheidung über die Wirksamkeit einer Kündigung gemäß §343 Abs4.
(3) Gegen die Entscheidungen der Landesschiedskommission kann Berufung an die Bundesschiedskommission erhoben werden.
Bundesschiedskommission
§346. (1) Zur Entscheidung über Berufungen, die gemäß §345a Abs3 erhoben werden, ist eine Bundesschiedskommission zu errichten.
..."
2.1. Nach den (insoweit unumstrittenen) Feststellungen der belangten Behörde enthält der zwischen dem Hauptverband der Sozialversicherungsträger und der Ärztekammer für Niederösterreich geschlossene Gesamtvertrag, der gem. §341 Abs3 erster Satz ASVG als Teil der Honorarordnung der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft auch Bestandteil der jeweils von den Beschwerdeführern abgeschlossenen Einzelverträge ist, unter anderem Honorarvorschriften für Stoffwechseluntersuchungen, die nach ziffernmäßig bezeichneten Positionen gegliedert sind. Zum Teil sind diese Positionen in Gruppen zusammengefaßt; hinsichtlich der Verrechnung wird bei bestimmten Gruppen angeordnet, daß bei Untersuchung mehrerer Positionen einer Gruppe nur höchstens drei, in manchen Fällen vier Positionen (von 7, 8 oder 11 zusammengefaßten Positionen) gemeinsam verrechenbar sind. Darüber hinausgehende Untersuchungen innerhalb derselben Gruppe werden nicht gesondert abgegolten. Dadurch wird für das ärztliche Honorar bei bestimmten Stoffwechseluntersuchungen eine Obergrenze eingezogen, die sich aus der Höhe des für maximal vier bzw. drei der jeweils teuersten in Betracht kommenden Positionen gebührenden Honorars ergibt.
2.2. Die belangte Behörde wirft dem Beschwerdeführer vor, dadurch, daß er in einigen Fällen jeweils die höchstzulässige verrechenbare Anzahl an Untersuchungen selbst vorgenommen und seine Patienten zur Durchführung von weiteren Untersuchungen aus derselben Gruppe an ein Fachlabor überwiesen hat, das seinerseits die von ihm durchgeführten Untersuchungen dem Sozialversicherungsträger gesondert in Rechnung gestellt hat, gegen die in Rede stehende Bestimmung der Honorarordnung verstoßen und die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft geschädigt zu haben. Eine Wahrnehmung der allfälligen Nichtigkeit dieser Bestimmung wird von der belangten Behörde abgelehnt:
"Die Honorarordnung der Antragstellerin ist Bestandteil des zwischen der Österreichischen Ärztekammer und der Antragsgegnerin geschlossenen Gesamtvertrages. Für die Entscheidung von Streitigkeiten zwischen den Vertragspartnern über die Auslegung oder Anwendung von Gesamtverträgen sind gemäß §345a Abs2 ASVG die Landesschiedskommissionen zuständig. Die Anfechtung von Gesamtverträgen durch einzelne betroffene Ärzte ist im Gesetz nicht vorgesehen. Die streitgegenständliche Verrechnungsbeschränkung könnte also nur von der Österreichischen Ärztekammer und der Antragsgegnerin bei der niederösterreichischen Landesschiedskommission angefochten werden. Eine Anfechtung durch den Antragsteller bei der Landesberufungskommission, etwa wegen Vereinbarung nicht kostendeckender Honorare oder Einräumung unzumutbarer Rabatte, ist hingegen nicht möglich.
Da die Landesberufungskommission also nicht befugt ist, die Honorarordnung aufzuheben oder abzuändern, muß sie sich bei der Beurteilung des Falles auf die Interpretation der bestehenden Honorarordnung beschränken. (...)"
3. Die vorliegende Beschwerde behauptet mit weitwendiger, teilweise sich wiederholender Begründung, die belangte Behörde habe den Beschwerdeführer in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt, indem sie sich mit ihren eigenen Prämissen und dem Akteninhalt in Widerspruch gesetzt und im entscheidungswesentlichen Punkt jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen habe sowie eine nachvollziehbare Begründung schuldig geblieben sei.
4. Die belangte Behörde hat zurecht ihre Zuständigkeit zur Entscheidung eines Rechtsstreites betreffend die Verpflichtung des Beschwerdeführers zur Leistung eines aus der Verletzung eines Einzelvertrages resultierenden Schadenersatzes an die Krankenkasse (hier: durch Aufrechnung gegen die Honorarforderung des Beschwerdeführers) in Anspruch genommen (vgl. das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 28. September 1999, B3652/96).
5. Die Beschwerde ist allerdings im Ergebnis mit dem Vorwurf der Willkür im Recht:
5.1. Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt u.a. in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 8808/1980 und die dort angeführte Rechtsprechung; VfSlg. 10338/1985, 11213/1987).
5.1.1. Jene Bestimmung des Gesamtvertrages, auf die sich der angefochtene Bescheid stützt, ist gemäß §341 Abs3 als Teil der Honorarordnung auch Inhalt der jeweiligen Einzelverträge zwischen der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft und den einzelnen Ärzten.
5.1.2. Nun ist zwar zur Schlichtung und Entscheidung von Streitigkeiten zwischen den Parteien eines Gesamtvertrages über die Auslegung oder die Anwendung eines bestehenden Gesamtvertrages die Landesschiedskommission zuständig, gegen deren Entscheidungen Berufung bei der Bundesschiedskommission erhoben werden kann (§345a i.V.m. §346 ASVG).
5.1.2.1. Die belangte Behörde versucht jedoch zu Unrecht aus der zuletzt erwähnten Zuständigkeit der Landesschiedskommission zur Entscheidung über die Auslegung oder die Anwendung eines bestehenden Gesamtvertrages ihre Befugnis zur Beurteilung der Gültigkeit der in Rede stehenden, von den Beschwerdeführern bereits im Verwaltungsverfahren bekämpften Bestimmungen der Honorarordnung zu verneinen: Sie meint, die im Gesetz normierte Zuständigkeit der Landesschiedskommission schließe es aus, daß die Landesberufungskommission die Honorarordnung aufheben oder abändern könne; die Landesberufungskommission habe sich vielmehr auf deren Auslegung zu beschränken.
5.1.2.2. Die belangte Behörde übersieht, daß ihre Zuständigkeit zur Entscheidung von Streitigkeiten, die in rechtlichem oder tatsächlichem Zusammenhang mit dem Einzelvertrag stehen, auch die Kompetenz umfaßt, im Zuge der Feststellung des Inhaltes des Einzelvertrages vorfrageweise die Gültigkeit von Bestimmungen des Gesamtvertrages zu beurteilen, die sie - ihre Gültigkeit vorausgesetzt - als Inhalt des jeweils in Rede stehenden Einzelvertrages ihrer Entscheidung zugrunde zu legen hätte. Soweit sie also als notwendiges Element ihrer rechtlichen Beurteilung auch Fragen der Gültigkeit (und damit insoweit auch des "ob" der Einwirkung der betreffenden Bestimmungen des Gesamtvertrages auf den Einzelvertrag) zu prüfen hat, gleicht der Gegenstand ihrer rechtlichen Beurteilung zwar jenem der Landesschiedskommission (bzw. der Bundesschiedskommission) bei der Entscheidung von Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung eines bestehenden Gesamtvertrages (in diesem Sinne, wenngleich von Kompetenzüberschneidung sprechend: Mosler in:
Strasser (Hrsg.), Arzt und gesetzliche Krankenversicherung, 1995, 403), freilich ohne hinsichtlich der bloß vorfrageweisen Beurteilung der Gültigkeit des Gesamtvertrages für die zur Entscheidung über die Gültigkeit des Gesamtvertrages zuständige Landesschiedskommission irgendeine Bindungswirkung zu entfalten (s. VfGH 15.6.1998, B 3011-3013/96).
5.2. Die belangte Behörde stützt ihre Entscheidung inhaltlich ausschließlich auf jene Bestimmungen des Gesamtvertrages, die eine Einschränkung bei der Verrechnung von Stoffwechsel- und Enzymuntersuchungen vorsehen. Diese sind daher für den angefochtenen Bescheid von tragender Bedeutung. Die belangte Behörde hätte daher die von den Beschwerdeführern der Sache nach behauptete Nichtigkeit dieser Bestimmungen in eigener Zuständigkeit zu beurteilen gehabt. Indem sie dies im Ergebnis verweigert hat, ist die belangte Behörde in einem entscheidungswesentlichen Punkt jede nachvollziehbare Begründung schuldig geblieben. Dadurch hat sie gegenüber den Beschwerdeführern Willkür geübt.
5.3. Der Bescheid war daher schon deswegen aufzuheben, ohne daß auf das weitere Vorbringen des Beschwerdeführers einzugehen war.
6. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG. In den Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von öS 3.000,-- enthalten.
7. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.
Schlagworte
Behördenzuständigkeit, Sozialversicherung, Ärzte, VorfrageEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1999:B2425.1996Dokumentnummer
JFT_10008987_96B02425_00