TE Vwgh Erkenntnis 2002/11/21 2000/20/0330

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Veröffentlicht am 21.11.2002
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1997 §7;
AVG §60;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
FlKonv Art1 AbschnC Z5;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Grünstäudl und Dr. Berger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Racek, über die Beschwerde des AS in Wien, geboren 1973, vertreten durch Mag. Francisco Javier Rumpf, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Judenplatz 10, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 3. Mai 2000, Zl. 212.259/0-V/14/99, betreffend §§ 7 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Sierra Leone, reiste am 28. Oktober 1998 in das Bundesgebiet ein und beantragte am selben Tag Asyl. Bei seinen niederschriftlichen Einvernahmen vor dem Bundesasylamt am 28. Dezember 1998, 7. Jänner 1999, 9. April 1999 und 30. Juni 1999 gab er zusammengefasst an, in Kamakwie im Norden von Sierra Leone eine Palmweinschenke betrieben zu haben, in der nach der Machtergreifung Koromas und dessen Besuch in Kamakwie im Juni 1997 bis etwa Jänner 1998 Rebellen verkehrt hätten. Nach dem Sturz Koromas habe der Beschwerdeführer Gerüchte gehört, dass die Kamajors des im Februar 1998 wieder an die Macht gelangten Präsidenten Kabbah hinter ihm her seien, weil er als Mitglied der Rebellen angesehen werde und die Kamajors davon ausgingen, dass sein Geschäft ein Stützpunkt der Rebellen gewesen sei. Er habe diese Gerüchte zunächst nicht ernst genommen, weil er sich den Rebellen ja nicht angeschlossen gehabt habe, sei aber auch von einem Onkel gewarnt worden. Im September 1998 hätten die Kamajors die Mutter und die Schwester des Beschwerdeführers entführt, woraufhin er geflohen sei. Staatlichen Schutz vor den Kamajors könne er nicht in Anspruch nehmen, weil es sich um die Leute von Kabbah handle, der an der Regierung sei. Wenn die Kamajors des Beschwerdeführers habhaft würden, würden sie ihn töten.

Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom 2. Juli 1999 den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG ab und stellte gemäß § 8 AsylG fest, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone sei zulässig. Es erachtete die Angaben des Beschwerdeführers nicht als glaubwürdig.

In seiner Berufung gegen diese Entscheidung verteidigte der Beschwerdeführer seine Glaubwürdigkeit. In Bezug auf die geltend gemachte Bedrohung durch die Kamajors führte er ergänzend aus, durch Berichte sei belegt, dass nicht nur die Rebellentruppen, sondern auch ECOMOG und die Civilian Defense Forces, zu denen als größte Gruppe die Kamajors gehörten, brutale Menschenrechtsverletzungen begangen hätten. Sowohl die ECOMOG-Truppen als auch die Kamajors hätten zahlreiche Personen, die verdächtigt worden seien, den Rebellentruppen anzugehören oder diese zu unterstützen, getötet. Human Rights Watch dokumentiere Zeugenaussagen zu über 180 Massenexekutionen von gefangenen Rebellen und deren mutmaßlichen Helfern, wie aus dem Bericht mit dem Titel "Human Rights Abuses Committed by ECOMOG, Sierra Leonean Defense Forces, and Police" hervorgehe. Auf Grund dieser Erfahrungen sowie in Anbetracht der Tatsache, dass die Schwester des Beschwerdeführers misshandelt und zusammen mit seiner Mutter entführt worden sei, habe der Beschwerdeführer das Land aus wohlbegründeter Furcht verlassen. Die ihm drohende Verfolgung gehe von Truppen der regierenden Staatsmacht aus und sei dem Staat zuzurechnen. In Sierra Leone gebe es, wie der Beschwerdeführer schon bei seiner Einvernahme ausgeführt habe, kein Gebiet, wo er sicher wäre. Im Gegenteil, auf Grund der Tatsache, dass er weder den Rebellentruppen noch den Präsident Kabbah unterstützenden staatlichen Milizen zugehörig sei, sei er von beiden Seiten bedroht.

In der mündlichen Berufungsverhandlung am 27. April 2000 präzisierte der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe dahingehend, dass er von seinem Onkel erfahren habe, sein Name stehe "auf der Kamajorliste". Angst vor einer Zwangsrekrutierung durch die Rebellen habe er nicht gehabt, denn diese seien daran interessiert gewesen, dass er weiterhin seine Schenke betreibe. Die Dorfbewohner glaubten nun, dass er Mitglied der Rebellen sei. Vor allem die Jugendlichen der SLPP, die wie die übrigen Bewohner des Dorfes Kabbah unterstützt hätten und Opfer von Verstümmelungen und anderen Menschenrechtsverletzungen der Rebellen geworden seien, glaubten das und wollten sich am Beschwerdeführer rächen. Nicht nur diese beiden Gruppen, sondern auch die Kamajors würden den Beschwerdeführer ungeachtet der ihm vorgehaltenen Beruhigung der Lage in Sierra Leone im Falle seiner Rückkehr dorthin suchen und ihn töten. Würde er sich bei seinem Onkel in Freetown aufhalten, so würde auch dieser getötet werden. Der Beschwerdeführer könne nicht zurückkehren, so lange sich die SLPP-Jugendlichen in seinem Dorf aufhielten und Kabbah in Sierra Leone an der Macht sei.

Die belangte Behörde wies mit dem angefochtenen Bescheid die Berufung des Beschwerdeführers gegen die Abweisung seines Asylantrages gemäß § 7 AsylG ab und stellte gemäß § 8 AsylG fest, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone sei zulässig. Sie legte ihrer Entscheidung das Vorbringen des Beschwerdeführers zugrunde und stellte fest, dass dieser aus den von ihm angegebenen Gründen Sierra Leone verlassen habe. Zur Entwicklung der allgemeinen Situation in Sierra Leone traf die belangte Behörde Feststellungen, die von der Rückkehr Kabbahs aus dem Exil im März 1998 bis zu einem Bericht in der "taz" vom 31. Juli 1999 über das Friedensabkommen vom 7. Juli 1999 reichten und daran anschließend wie folgt lauteten:

"Mit Telefax vom 14.10.1999 teilte das Generalkonsulat der Republik Sierra Leone in Wien mit, dass derzeit eine Regierung aus Vertretern der ehemaligen Rebellen sowie der gewählten Regierung im Amt ist und im Land auch abgesichert durch starke ECOMOG-Truppen sowie UNO-Beobachter, Friede herrscht. Vereinzelt kommt es zu Plünderungen von Hilfskonvois durch hungernde, noch nicht abgerüstete ehemalige Rebellen. Die Regierung übt im gesamten Land die Kontrolle aus, unterstützt von ECOMOG-Truppen.

In einer Stellungnahme von Accord vom 29.11.1999 wurde auf Grund der dort aufliegenden Länderdokumentation dargelegt, dass es nunmehr vor allem in den Städten Port Loko, Lunsar sowie in und um Makeni und entlang der Verbindung zwischen Port Loko und Lungi, sowie nordöstlich von Freetown zu Überfällen und Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung durch die Rebellen kommt. Die RUF hat sich mittlerweile in eine politische Partei umgewandelt und kommt es zu Zusammenstößen zwischen der RUF und der AFRC. Ende November soll nach mehreren Verzögerungen die Stationierung der 6000 Personen starken UN-Truppe beginnen. Nach Makeni sind wieder ECOMOG-Truppen geschickt worden."

Auf die in der Berufung zitierten Berichte betreffend Menschenrechtsverletzungen der ECOMOG und der Kamajors ging die belangte Behörde in den Feststellungen nicht ein.

In rechtlicher Hinsicht leitete sie aus dem Sachverhalt zunächst ab, dass die Angst des Beschwerdeführers, von den Rebellen zwangsrekrutiert zu werden, auf Grund des Umstandes, dass der Staat "sichtlich bemüht" sei, "noch marodierende Rebellen zu bekämpfen", und weite Teile des Landes, insbesondere Freetown, unter staatlicher Kontrolle stünden, nicht zur Asylgewährung führen könne.

Die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Furcht vor Verfolgung wegen der ihm unterstellten Zugehörigkeit zu den Rebellen würdigte die belangte Behörde wie folgt:

"Bringt der Asylwerber andererseits vor, wegen seines Palmweinverkaufes an die Rebellen und der Verdächtigung, mit diesen deswegen zusammengearbeitet zu haben, von den Kamajors verfolgt zu werden, ist auszuführen, dass im Hinblick auf die obige Lageeinschätzung im Heimatland des Asylwerbers die von ihm beschriebene Gefahr, von den Kamajors bedroht zu werden, nach Ansicht der h.o. Behörde, nicht mehr besteht. So ist dem Fax des Generalkonsulates der Republik Sierra Leone vom 14.10.1999 zu entnehmen, dass in der nunmehrigen Regierung Vertreter der ehemaligen Rebellen sowie der gewählten Regierung sitzen. Seine Befürchtung, von den Rebellen rekrutiert zu werden oder nunmehr von Kamajors verfolgt zu werden, stellt sich daher als unbegründet dar."

Auch zur Begründung ihrer Entscheidung gemäß § 8 AsylG verwies die belangte Behörde auf die "Feststellungen zur allgemeinen Lage in Sierra Leone", wonach "der gesamte Frieden" (gemeint wohl: Süden) des Landes einschließlich Freetown "von der legitimen Staatsregierung und der UN-Friedenstruppe UNAMSIL kontrolliert" werde und "insoweit die Staatsgewalt funktionsfähig" sei. Selbst unter "hypothetischer Zugrundelegung" des vom Beschwerdeführer erstatteten Vorbringens sei keine Bedrohung im Sinne des § 57 FrG gegeben, weil der Beschwerdeführer "in den von der Regierung kontrollierten Landesteilen Zuflucht suchen könnte (inländische Fluchtalternative) und infolge der Generalamnestie für alle im Zuge des Bürgerkriegs verübten strafbaren Handlungen keine Verfolgung (mehr) zu befürchten hätte".

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Zu den zuletzt wiedergegebenen Ausführungen der belangten Behörde ist anzumerken, dass die Bezugnahme auf eine "hypothetische Zugrundelegung" des Vorbringens auf der Verwendung eines Textbausteines zu beruhen scheint, liegt dem Bescheid doch insgesamt nicht nur "hypothetisch" das Vorbringen des Beschwerdeführers zugrunde. Dass eine "Generalamnestie" für strafbare Handlungen den Beschwerdeführer auch vor den von ihm beschriebenen unberechtigten Nachstellungen schützen würde, wird im angefochtenen Bescheid an dieser Stelle aber jedenfalls nicht nachvollziehbar dargelegt.

Nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes hat es die belangte Behörde, was in der Beschwerde mit Recht gerügt wird, verabsäumt, ihren Bescheid insgesamt auf ausreichend aktuelle Erkenntnisquellen über die Lage in Sierra Leone im Zeitpunkt der Bescheiderlassung zu stützen. Dies betrifft nicht nur den damals gerade eingetretenen (vorübergehenden) Zusammenbruch des Friedensprozesses, von dem hier dahinstehen kann, inwieweit er der belangten Behörde bei Erlassung des angefochtenen Bescheides schon bekannt sein musste (vgl. aber die in anderen Bescheiden der belangten Behörde erwähnten APA-Meldungen aus den ersten Maitagen 2000). Die zunehmend skeptische Beurteilung der Frage, ob die Umsetzung des Friedensabkommens noch gelingen werde, war schon in den Monaten zuvor Gegenstand einer Mehrzahl dem Verwaltungsgerichtshof bekannter Berichte gewesen. Die belangte Behörde selbst hat mit den Verwaltungsakten eine ACCORD-Anfragebeantwortung vom 23. Februar 2000 und eine darin erwähnte Zusammenstellung vom 23. Jänner 2000 betreffend Verletzungen des Friedensabkommens vom Juli 1999 vorgelegt, wobei in diesen Unterlagen zum Teil auch auf die Rolle der Kamajors eingegangen wurde.

Die belangte Behörde hat aber nicht nur diese Unterlagen nicht in ihre Entscheidung einfließen lassen, sondern zur Gänze davon Abstand genommen, sich unter Bedachtnahme auf den in der Berufung zitierten Bericht über das Vorgehen u.a. der Kamajors vor dem Friedensabkommen (Abschnitt V. im Bericht "Sierra Leone, Getting Away with Murder, Mutilation, Rape" der Organisation Human Rights Watch vom Juli 1999) konkret mit der Frage zu befassen, welcher Bedrohung eine "auf der Kamajorliste" stehende Person, sofern es eine solche Liste gab, nach dem Friedensabkommen noch ausgesetzt sein konnte. Dass diese Gefahr nach der "obigen Lageeinschätzung" und der "Ansicht der h.o. Behörde" nicht mehr bestehe und sich dies insbesondere daraus ergebe, dass eine Regierungsbeteiligung der ehemaligen Rebellen vereinbart worden sei, ist im angefochtenen Bescheid mangels jedweder Auseinandersetzung mit dem Verhalten der Kamajors und den für dieses Verhalten maßgebenden Faktoren vor und nach dem Abschluss des Friedensabkommens nicht nachvollziehbar begründet. Dies fällt umso schwerer ins Gewicht, als die belangte Behörde mit der Bezugnahme auf die Besserung der Lage im Ergebnis Art. 1 Abschnitt C Z 5 der Genfer Flüchtlingskonvention angewendet hat und dies eine nachhaltige Änderung der Umstände, auf die sich die Furcht vor Verfolgung gründete, voraussetzt.

Der angefochtene Bescheid war im Hinblick auf diese Begründungsmängel gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2001.

Wien, am 21. November 2002

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2002:2000200330.X00

Im RIS seit

27.02.2003
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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