Index
40/01 Verwaltungsverfahren;Norm
AsylG 1997 §23;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Grünstäudl und Dr. Berger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Racek, über die Beschwerde des SD in Wien, geboren 1982, vertreten durch Dr. Kurt Heller, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Seilergasse 16, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 4. Jänner 2000, Zl. 214.589/0- III/07/99, betreffend §§ 6 Z 3 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird hinsichtlich seines zweiten, die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone feststellenden Spruchteils wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, seinen damaligen Angaben nach ein Staatsangehöriger von Sierra Leone, reiste am 15. November 1999 in das Bundesgebiet ein und beantragte am selben Tag Asyl. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 7. Dezember 1999 gab er an, die Rebellen seien "vor einigen Monaten" in sein "Heimatdorf" Kambia ("eine kleine Ortschaft") gekommen und hätten u. a. männliche Jugendliche ab dem 15. Lebensjahr aufgefordert, sich ihnen anzuschließen und gegen Präsident Kabbah zu kämpfen. Der Beschwerdeführer habe das nicht gewollt und sei geflüchtet. Zuvor hätten ihn die Rebellen "oft geschlagen", damit er für sie kämpfe.
Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom 22. Dezember 1999 den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 6 Z 3 AsylG als offensichtlich unbegründet ab und stellte gemäß § 8 AsylG fest, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone sei zulässig. Es führte u. a. aus, der Beschwerdeführer habe keinerlei Kenntnisse über seine angebliche Heimatregion aufgewiesen und die behaupteten Vorfälle in Kambia - einer der größeren Städte Sierra Leones - könnten nicht stattgefunden haben, weil es seit dem Abschluss des Friedensabkommens von Lome im Juli 1999 "keine Kampfhandlungen" gebe.
Der gesetzliche Vertreter des Beschwerdeführers legte mit der Berufung gegen diesen Bescheid im Zusammenhang mit der Frage, ob dem Beschwerdeführer zumindest Abschiebungsschutz zu gewähren sei, einen im Internet veröffentlichten Bericht von Amnesty International vom 30. November 1999 vor, der auszugsweise folgenden Inhalt hatte:
"Sierra Leone
Escalating human rights abuses against civilians.
Deliberate and arbitrary killings, rape and abductions of civilians have increased in Sierra Leone over the past three months despite the peace agreement, Amnesty International said today. ...
The scale of human rights abuses against civilians declined significantly following the signing of the peace agreement in Lome, Togo, in July 1999. However, the previous pattern of deliberate intimidation and terrorizing of civilians has reemerged, particularly in Northern Province. ...
On 22 November the Special Representative of the United Nations (UN) Secretary-General in Sierra Leone reported that deliberate and arbitrary killings, rape and abduction of civilians, as well as destruction of homes, by rebel forces were occurring almost daily on villages in northwestern Sierra Leone. Similar abuses have also recently been reported around the town of Kabala in Northern Province.
Rebel combatants intercepted a vehicle belonging to a humanitarian organization on 17 November and forced all its occupants, including nursing mothers and malnourished children, to walk into the bush. Some were then raped or assaulted. In Kambia District, Northern Province, a traditional chief was reported to have been stripped, beaten and killed by rebel combatants an 19 November when he was unable to meet their demands for money. ..."
Die belangte Behörde führte keine mündliche Berufungsverhandlung durch, wies mit dem angefochtenen Bescheid die Berufung gegen die Abweisung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet gemäß § 6 Z 3 AsylG ab und stellte gemäß § 8 AsylG fest, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone sei zulässig. Zur Begründung dieser Entscheidung verwies sie in beiden Spruchpunkten auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Bescheid. Ergänzend trat sie den Ausführungen in der Berufung, insoweit sich diese auf die Beweiswürdigung der Angaben des Beschwerdeführers vor dem Bundesasylamt bezogen, argumentativ entgegen. Eigene Ausführungen der belangten Behörde zur Begründung des Ausspruches über die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone sind im angefochtenen Bescheid nicht enthalten.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
Die belangte Behörde hätte angesichts der in der Berufung geübten Kritik an der Beweiswürdigung des Bundesasylamtes nach der inzwischen ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch in Bezug auf die Abweisung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet eine mündliche Berufungsverhandlung durchzuführen gehabt. Die Beschwerde, die das Unterbleiben einer derartigen Verhandlung nicht geltend macht, zeigt aber insgesamt nicht auf, dass in Bezug auf die Frage, ob der Beschwerdeführer offensichtlich nicht aus Sierra Leone stamme, bei Bedachtnahme auf die dazu im erstinstanzlichen und im angefochtenen Bescheid ins Treffen geführten Argumente zur Beweiswürdigung ein anderes als das erzielte Verfahrensergebnis möglich gewesen wäre. Dass - ausgehend davon, dass Sierra Leone nur der behauptete, aber nicht der wirkliche Herkunftsstaat des Beschwerdeführers sei - Hinweisen auf eine den staatlichen Behörden Sierra Leones allenfalls zurechenbare Verfolgungsgefahr zu Unrecht die Asylrelevanz abgesprochen worden sei, wie in der Rechtsrüge geltend gemacht wird, ist in rechtlicher Hinsicht nicht schlüssig, weshalb die Beschwerde insoweit, als sie sich gegen die Abweisung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet richtet, gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen war.
In Bezug auf die gemäß § 8 AsylG getroffene Feststellung verweist die Beschwerde auf ihr angeschlossene Berichte, aus denen hervorgehe, dass "trotz der formellen Unterzeichnung eines Friedensabkommens am 7. Juli 1999 weiterhin Rebellenverbände und paramilitärische Einheiten weite Teile des Landes kontrollieren und nicht unter der Kontrolle staatlicher Behörden stehen bzw. unter eine solche Kontrolle zu bringen sind" und es - unter anderem im Bezirk Kambia - zu Überfällen von Rebellentruppen auf Zivilisten komme (Sierra Leone Consular Information Sheet vom 29. September 1999 und ACCORD-Anfragebeantwortung vom 16. November 1999 mit Hinweis auf zahlreiche weitere Berichte über Ereignisse seit dem Abschluss des Friedensabkommens vom Juli 1999). Die belangte Behörde habe sich "auf einen Formalstandpunkt zurückgezogen, ohne überhaupt im Ansatz zu prüfen, welche tatsächlichen Auswirkungen der so genannte 'Friedensvertrag' hatte".
Nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes hätte die belangte Behörde jedenfalls den mit der Berufung vorgelegten Bericht über eskalierende Menschenrechtsverletzungen in Sierra Leone nicht stillschweigend zu übergehen, sondern in Bezug auf die gemäß § 8 AsylG zu treffende Entscheidung unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK in einer mündlichen Berufungsverhandlung zu erörtern und in der Begründung ihres Bescheides zu behandeln gehabt. Bereits der Umstand, dass dies unterblieb, führt hinsichtlich dieses Spruchteils gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG zur Aufhebung des angefochtenen Bescheides wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.
Für das fortgesetzte Verfahren ist darauf hinzuweisen, dass mittlerweile - offenbar im Zusammenhang mit dem Wunsch des Beschwerdeführers, sich in Österreich zu verehelichen - Kopien eines nigerianischen Reisepasses des Beschwerdeführers, einer Erklärung seines "leiblichen Vaters" in Nigeria und anderer Dokumente aktenkundig sind, die auf eine Herkunft des Beschwerdeführers aus Nigeria hinzudeuten scheinen. Sollte sich bewahrheiten, dass der Beschwerdeführer Staatsangehöriger von Nigeria ist, so wird die gemäß § 8 AsylG zu treffende Entscheidung - ungeachtet des Umstandes, dass dies bei der Entscheidung über den Asylantrag wegen des Verhaltens des Beschwerdeführers nicht berücksichtigt werden konnte - ausschließlich auf Nigeria zu beziehen sein (vgl. zur Beachtlichkeit diesbezüglicher Änderungen und Richtigstellungen für die Berufungsentscheidung etwa die hg. Erkenntnisse vom 6. März 2001, Zl. 2000/01/0402 (Punkt 3.1.), vom 26. April 2001, Zl. 2001/20/0161, und vom 26. Juli 2001, Zl. 99/20/0611; daraus, dass die Entscheidung über den Asylantrag im vorliegenden Fall nicht mehr aufzurollen ist, sind für die Entscheidung gemäß § 8 AsylG keine gegenteiligen Schlüsse zu ziehen.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2001.
Wien, am 12. Dezember 2002
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2002:2000200149.X00Im RIS seit
30.04.2003