TE Vwgh Erkenntnis 2003/1/23 2000/20/0354

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Veröffentlicht am 23.01.2003
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
AVG §45;
AVG §60;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski und Dr. Grünstäudl als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Racek, über die Beschwerde des A S (alias K S), geboren 1973 (auch: 1974), vertreten durch Dr. Walter Rosenkranz, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Franz Josefs-Kai 27/9, gegen den am 2. Mai 2000 verkündeten und am 16. Mai 2000 schriftlich ausgefertigten Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates, Zl. 203.605/9- II/04/00, betreffend §§ 7 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Indien, überschritt am 26. Februar 1998 die österreichische Grenze und schilderte danach vor dem Grenzüberwachungsposten seinen Fluchtweg. Dabei äußerte der Beschwerdeführer unter anderem, er wolle sich "hier eine bessere Zukunft aufbauen". Mit Schriftsatz vom 8. April 1998 beantragte der Beschwerdeführer Asyl und begründete dies über erstmalige diesbezügliche Befragung vor dem Bundesasylamt damit, dass er in Indien Probleme mit der Polizei habe. Sein Vater sei ein "Sikh-Extremist" gewesen, nach dessen Tod die indische Polizei bei der Durchsuchung seines Elternhauses im Jahr 1993 illegale Waffen gefunden habe. Der Beschwerdeführer sei deshalb im Februar 1993 (erstmals) wegen illegalem Waffenbesitz verhaftet und nach sechs Tagen mit Hilfe von Bestechung freigelassen worden. Der Beschwerdeführer habe sich danach zwei Jahre bei einem Freund aufgehalten und sei, als er danach wieder nach Hause gekommen sei, ein zweites Mal verhaftet worden. Während dieser Anhaltung, die 15 bis 20 Tage gedauert habe, und aus der er abermals aufgrund der Bezahlung von Bestechungsgeld freigelassen worden sei, sei er geschlagen und von der Polizei nach einem Waffenlager befragt worden. Nach dieser Haft sei er wieder zu seinem Freund zurückgekehrt. Da er Angst gehabt habe, dass die Polizei ihn auch dort finde, weil diese öfters auch bei seiner Mutter nach ihm gefragt habe, habe er Indien im Februar 1998 verlassen. Im Falle seiner Rückkehr in seine Heimat fürchte der Beschwerdeführer, von der Polizei gefunden und umgebracht zu werden.

Mit Bescheid vom 18. Mai 1998 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG ab und erklärte dessen Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Indien gemäß § 8 AsylG für zulässig. In seiner dagegen erhobenen Berufung gab der Beschwerdeführer an, er werde in Indien verfolgt, weil er Angehöriger der ethnischen Minderheit der Sikh sei. Sein Vater habe sich für die Khalistan-Bewegung engagiert und deshalb auch Waffen zu Hause aufbewahrt, mit denen der Beschwerdeführer jedoch nichts zu tun gehabt habe. Dennoch sei der Beschwerdeführer von der indischen Polizei auf Grund menschenverachtender Sondergesetze, mit denen sich die Polizei über rechtsstaatliche Mindeststandards hinwegsetze, verhaftet, misshandelt und gefoltert worden. Der Beschwerdeführer werde in Indien verfolgt, weil er Sikh und damit für die indische Polizei ein potenzieller Terrorist sei. Wenn das Bundesasylamt in seiner Bescheidbegründung auf den dreijährigen Aufenthalt des Beschwerdeführers nach seiner zweiten Verhaftung in seiner Heimat hinweise, so sei dem zu entgegnen, dass sich der Beschwerdeführer während dieser Zeit größtenteils versteckt gehalten habe. Es habe drei Jahre gedauert, bis Freunde und Verwandte das notwendige Geld für seine Flucht hätten beschaffen können.

Mit Schreiben vom 10. Juli 1998 forderte die belangte Behörde das Bundesasylamt zur Stellungnahme in Bezug auf (teilweise) fehlende Sachverhaltsfeststellungen im erstinstanzlichen Bescheid auf.

Am 2. Mai 2000 führte sie eine Berufungsverhandlung (u.a.) mit dem Beschwerdeführer durch, in der dieser auf die "bereits vor dem Bundesasylamt angegebenen Gründe" verwies, aus denen er fürchte, in seiner Heimat verhaftet und ermordet zu werden. Zur Frage, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit der Beschwerdeführer in Indien "eine unionsweite Gefährdung" zu befürchten habe, holte die belangte Behörde das Gutachten eines Sachverständigen ein. Dieser bezeichnete das konkrete Verfolgungsrisiko als "schwer einzuschätzen" und beschrieb die Chancen, sich in den einzelnen Landesteilen Indiens als von den Behörden gesuchter Sikh-Aktivist einer Festnahme entziehen zu können. Der Beschwerdeführer nahm dazu insoweit Stellung, als er angab, er wisse nicht, wovon er in anderen Teilen Indiens leben solle und er habe von seinen Einkünften in Österreich nichts zurücklegen können. Daraufhin führte der Sachverständige aus, eine Person wie der Beschwerdeführer werde in städtischen Gebieten Indiens wahrscheinlich auf Gelegenheitsarbeiten angewiesen sein, um sein Überleben zu sichern.

In der schriftlichen Ausfertigung des angefochtenen Bescheides, mit dem die Berufung des Beschwerdeführers abgewiesen wurde, führte die belangte Behörde (nach Darstellung des Verfahrensganges und sinngemäßer Wiedergabe der angewendeten Rechtsvorschriften) aus, dass das durchgeführte Ermittlungsverfahren im gegenständlichen Fall keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für das Vorliegen "irgendeiner der geltend gemachten Gefahren" erbracht habe. Vielmehr habe der Sachverständige in der Verhandlung nachvollziehbar und vom Beschwerdeführer unwidersprochen dargelegt, dass "eine Person wie der Berufungswerber, der eine Verfolgung durch staatliche Organe im Wesentlichen wegen der Eigenschaft seines - vor sieben Jahre verstorbenen - Vaters, 'ein Sikh-Extremist' gewesen zu sein, befürchtet", nicht mit Verfolgung rechnen müsse. Vielmehr sei nach dem Sachverständigengutachten eine Verfolgungsgefahr "nur noch für hochrangige ... Führungspersonen bzw. Funktionäre militanter Organisationen" und nicht für "Personen, für die nur lockerer Kontakt zu militanten Gruppierungen angenommen wird, z.B. Familienangehörige" gegeben. "Tatsächlich", so die belangte Behörde in der Begründung des angefochtenen Bescheides mit Bezug auf das erwähnte Vorbringen des Beschwerdeführers bei seiner Einreise und in der Verhandlung weiter, habe der Beschwerdeführer seinen Asylantrag "vornehmlich auf wirtschaftliche Gründe gestützt", denen die Ausführungen des Sachverständigen über ein Überleben in Indien mit Hilfe von Gelegenheitsarbeiten entgegen stünden.

In seiner gegen den angefochtenen Bescheid erhobenen Beschwerde bringt der Beschwerdeführer vor, die belangte Behörde habe im angefochtenen Bescheid die von ihm geschilderte "Lebensgeschichte" offenbar zugrundegelegt. Die belangte Behörde gehe daher auch von den Angaben des Beschwerdeführers aus, dass dieser als Sohn eines Sikh-Extremisten von den indischen Behörden verdächtigt werde, etwas mit Waffen und Waffenverstecken zu tun zu haben und deshalb selbst in Verdacht stehe, ein militanter Sikh-Extremist zu sein. Auch der Sachverständige habe den Beschwerdeführer nicht jener Personengruppe zugeordnet, die, wie Familienangehörige (von Sikh-Extremisten), nur lockeren Kontakt zu militanten Gruppen hätten. Der Beschwerdeführer werde von den indischen Behörden vielmehr wegen der über die bloße Familienangehörigkeit eines Sikh-Extremisten hinausgehenden, unterstellten Funktionärseigenschaft einer militanten Organisation verfolgt. Im Übrigen sei aber auch, so die Beschwerde unter Bezugnahme auf einen näher präzisierten Bericht des auswärtigen Amtes in Bonn, entgegen dem Sachverständigengutachten davon auszugehen, dass selbst (bloße) Familienangehörige mutmaßlich Militanter dem Risiko willkürlicher Verhaftungen ausgesetzt seien, wobei die Folter eine häufig von der indischen Polizei angewandte Vernehmungsmethode sei.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über diese Beschwerde nach Vorlage der Akten durch die belangte Behörde und Erstattung einer Gegenschrift in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Wenngleich der angefochtene Bescheid entgegen § 60 AVG und der hiezu ergangenen (etwa in Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I2, unter E 19 zur genannten Bestimmung referierten) hg. Judikatur ausdrückliche Sachverhaltsfeststellungen vermissen lässt, so ist im Hinblick auf die dargestellte Begründung des angefochtenen Bescheides doch mit der Beschwerde davon auszugehen, dass die belangte Behörde ihrer Entscheidung in sachverhaltsmäßiger Hinsicht die Angaben des Beschwerdeführers über seine Fluchtgründe zugrunde gelegt hat. Dem steht nicht entgegen, dass die belangte Behörde in ihrer Bescheidbegründung meint, der Beschwerdeführer habe seinen Asylantrag "vornehmlich" auf wirtschaftliche Gründe gestützt. Dass der Beschwerdeführer allerdings, wie in der Gegenschrift ausgeführt wird, das die staatliche Verfolgung in seiner Heimat betreffende Vorbringen in der Berufungsverhandlung "offenkundig fallen gelassen" habe und daher mit seinem nunmehrigen Beschwerdevorbringen gegen das im verwaltungsgerichtlichen Verfahren geltende Neuerungsverbot verstoße, vermag der Verwaltungsgerichtshof im Hinblick auf das oben zusammengefasste Verhandlungsvorbringen des Beschwerdeführers nicht nachzuvollziehen.

Das Schwergewicht der Beschwerde liegt im Vorwurf, das dem angefochtenen Bescheid zugrundeliegende Sachverständigengutachten sei einerseits unvollständig, weil es die tatsächlichen Gefahren staatlicher Verfolgung wegen der bloßen Familienangehörigkeit mutmaßlicher Sikh-Extremisten nicht berücksichtige. Andererseits gehe die den Beschwerdeführer treffende Verfolgungsgefahr über jene bloßer Familienangehöriger mutmaßlicher Extremisten hinaus, da der Beschwerdeführer, wie seine Verhaftungen gezeigt hätten, selbst als Sikh-Aktivist von den Behörden Indiens eingestuft werde.

In der Berufungsverhandlung führte der von der belangten Behörde beigezogene Sachverständige aus, von ihm näher bezeichnete Dokumente und Informationen legten den Schluss nahe,

"dass nur noch für hochrangige ('high profile', d.h. entweder in der Organisationshierarchie hochstehend oder durch besondere Aktivitäten herausragend) Führungspersonen bzw. Funktionäre militanter Organisationen, die Gefahr besteht, von staatlichen Behörden verfolgt zu werden. Sie werden jedoch nur dann gesucht, wenn sie im Verdacht einer konkreten Straftat stehen. Personen, für die nur lockerer Kontakt zu militanten Gruppierungen angenommen wird, z.B. Familienangehörige oder Menschen, die Terroristen Unterkunft gewährt haben, zählen nicht zu diesem Personenkreis."

Der Sachverständige stützte sein Gutachten u.a. auf einen Bericht des "UK Home Office", der im Verhandlungsprotokoll in englischer Sprache auszugsweise wiedergegeben ist. Demnach seien Sikhs zwar gegenwärtig nicht als verfolgte Gruppe und einfache Parteimitglieder im Allgemeinen als sicher anzusehen. Davon ausgenommen seien aber (u.a.) "militants together with their close relatives and supporters who continue to be followed as potential seeds for further rebellion".

Die letztgenannte Passage über das Verfolgungsrisiko betreffend Verwandte und Unterstützer von "militants" - nach den von der belangten Behörde unwidersprochen gebliebenen Aussagen des Beschwerdeführers ist dieser der Sohn eines Sikh-Extremisten - steht somit in einem Widerspruch zu den diesbezüglichen Ausführungen des Sachverständigen an anderer Stelle, was die Schlüssigkeit des Gutachtens nicht unerheblich mindert. Schon vor dem Hintergrund dieses ungelösten Widerspruches in den Angaben des Sachverständigen und in Anbetracht dessen, dass sich dieser mit den genannten (auch von der belangten Behörde nicht in Abrede gestellten) Verhaftungen des Beschwerdeführers in seinem Gutachten nicht weiter auseinander gesetzt hat, durfte die belangte Behörde das genannte Gutachten ihrer Entscheidung nicht ohne Weiteres zugrunde legen (vgl. dazu die in Walter/Thienel, aaO, unter E 159 zu § 45 AVG referierte hg. Rechtsprechung).

Da die belangte Behörde nach dem Gesagten Verfahrensvorschriften verletzt hat, bei deren Einhaltung sie zu einem für den Beschwerdeführer günstigen Verfahrensergebnis hätte gelangen können, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2001.

Wien, am 23. Jänner 2003

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2003:2000200354.X00

Im RIS seit

06.05.2003
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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