TE Vwgh Erkenntnis 2003/4/29 2001/02/0234

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Veröffentlicht am 29.04.2003
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein;
40/01 Verwaltungsverfahren;
90/01 Straßenverkehrsordnung;

Norm

AVG §45 Abs2;
AVG §52;
StVO 1960 §29b Abs1;
VwRallg impl;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stoll und die Hofräte Dr. Riedinger, Dr. Holeschofsky, Dr. Beck und Dr. Bachler als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. König, über die Beschwerde des AT in Wien, vertreten durch Mag. Dr. Max Becker, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Rotenturmstraße 13, gegen den Bescheid der Wiener Landesregierung vom 3. Mai 2001, Zl. MA 65 - BH/33/2000, betreffend Ausweis gemäß § 29b Abs. 1 StVO, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Die Bundeshauptstadt (Land) Wien hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der belangten Behörde vom 3. Mai 2001 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf Ausstellung eines Ausweises für dauernd stark gehbehinderte Personen gemäß § 29b Abs. 1 StVO abgewiesen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof. Dieser hat erwogen:

Die belangte Behörde stützte sich hinsichtlich des Nichtvorliegens der Voraussetzungen des § 29b Abs. 1 StVO auf amtsärztliche Gutachten sowohl aus "orthopädischer als auch neurologischer Sicht" und kam zu dem Schluss, der Beschwerdeführer sei in der Lage, eine Strecke zurückzulegen, wie sie der üblichen Entfernung zwischen einem erlaubten Abstellplatz für das Kraftfahrzeug bis zu einem unter gewöhnlichen Bedingungen erreichbaren Ziel entspreche.

Gemäß § 29b Abs. 1 erster Satz StVO hat die Behörde Personen, die dauernd stark gehbehindert sind, auf deren Ansuchen einen Ausweis über diesen Umstand auszufolgen.

Die Feststellung der Grundlagen für die Beurteilung, ob eine Person stark gehbehindert ist, ist Gegenstand eines Beweises durch einen ärztlichen Amtssachverständigen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 31. Jänner 2003, Zl. 2000/02/0243). Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers kam die Beiziehung eines "gerichtlich beeideten Sachverständigen" im Beschwerdefall nicht in Betracht (vgl. § 51 Abs. 1 und 2 AVG). Auch erscheint es der Sache sogar dienlich, wenn ein Sachverständiger in Kenntnis der Rechtsprechung auf die danach wesentlichen Sachverhaltslemente bei Erstellung seines Gutachtens Bedacht nimmt (vgl. das von der belangten Behörde in der Gegenschrift zutreffend zitierte hg. Erkenntnis vom 17. Juni 1992, Zl. 92/02/0134). Weiters - auch hier irrt der Beschwerdeführer - vermittelt der Umstand, dass eine Person auf Grund ihrer Behinderung ein öffentliches Verkehrsmittel nicht bzw. nicht ohne Begleitperson benutzen kann, für sich nicht den Anspruch auf Ausstellung des vom Beschwerdeführer beantragten Ausweises (vgl. das hg. Erkenntnis vom 22. März 1995, Zl. 94/03/0295).

Der Beschwerde ist dennoch Erfolg beschieden:

Der Gesetzesbegriff der "starken Gehbehinderung" im Sinn des § 29b Abs. 1 StVO stellt darauf ab, ob die betreffende Person in einer als Gehen zu qualifizierenden Weise ohne Aufwendung überdurchschnittlicher Kraftanstrengung und ohne große Schmerzen eine bestimmte Wegstrecke zurücklegen kann; ist sie dazu in der Lage, so wird eine festgestellte Gehbehinderung nicht als schwer im Sinne des Gesetzes anzusehen sein. Die Fähigkeit zum Zurücklegen einer Strecke von mehr als 300 m ohne überdurchschnittliche Kraftanstrengung und ohne große Schmerzen schließt eine starke Gehbehinderung im Sinne des Gesetzes aus, wobei der Umstand, dass dies nur mit Hilfsmitteln (wie etwa einem Gehstock oder orthopädischen Schuhen) möglich ist, die Behinderung nicht zu einer schweren macht (vgl. zum Ganzen das hg. Erkenntnis vom 22. März 2002, Zl. 99/02/0187). In diesem Erkenntnis wurde im Übrigen in Ansehung der Unerheblichkeit der nötigen Verwendung von "Hilfsmitteln" die dazu im Widerspruch stehende, zu § 29b Abs.  4 StVO idF vor der 20. StVO-Novelle ergangene hg. Rechtsprechung - wie sie etwa im vom nunmehrigen Beschwerdeführer zitierten hg. Erkenntnis vom 17. Februar 1989, Zl. 88/18/0343, zum Ausdruck kam - zu § 29b Abs.  1 StVO idF der 20. StVO-Novelle nicht mehr aufrecht erhalten.

Im zitierten Erkenntnis vom 22. März 2002, Zl. 99/02/0187, wurde im Anwendungsbereich des § 29b Abs. 1 StVO (idF der 20. StVO-Novelle) hinsichtlich der maßgeblichen "Wegstrecke" auch nicht mehr - wie etwa im vom nunmehrigen Beschwerdeführer zitierten hg. Erkenntnis vom 22. Februar 1989, Zl. 88/02/0207, und noch im zitierten hg. Erkenntnis vom 22. März 1995, Zl. 94/03/0295, zu § 29b Abs. 4 StVO (idF vor der 20. StVO-Novelle) - auf eine Strecke, wie sie der "gewöhnlichen Entfernung von einem (erlaubten) Abstellplatz bis zu einem unter gewöhnlichen Bedingungen erreichbaren Ziel entspricht", sondern auf eine Strecke von "300 m" abgestellt und diese als maßgeblich erachtet (vgl. dazu auch das zitierte hg. Erkenntnis vom 31. Jänner 2003, Zl. 2000/02/0243).

Schon deshalb erweist sich der Sachverhalt im Beschwerdefall als ergänzungsbedürftig, weil die belangte Behörde auf diese maßgebliche "300 m-Strecke" nicht Bedacht genommen hat und dies auch aus den von ihr herangezogenen medizinischen Gutachten nicht entnehmbar ist. Dazu kommt, dass sich (die "Aufwendung überdurchschnittlicher Kraftanstrengung" ist im Beschwerdefall offenbar ohne Relevanz) im angefochtenen Bescheid keine konkreten Ausführungen dahin finden, die Zurücklegung der "Strecke" sei ohne "große" Schmerzen möglich.

Da der Sachverhalt sohin in einem wesentlichen Punkt einer Ergänzung bedarf, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 501/2001.

Wien, am 29. April 2003

Schlagworte

Beweismittel Sachverständigenbeweis Gutachten Beweiswürdigung der Behörde Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtsanspruch Antragsrecht Anfechtungsrecht VwRallg9/2

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2003:2001020234.X00

Im RIS seit

04.06.2003
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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