TE Vwgh Erkenntnis 2003/5/15 2002/01/0376

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.05.2003
beobachten
merken

Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Pelant, Dr. Köller und Dr. Thoma als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Nichtowitz, über die Beschwerde des 1973 geborenen C in I, vertreten durch Dr. Max Kapferer, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Schmerlingstraße 2/2, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 28. Mai 2002, Zl. 225.418/0- V/13/01, betreffend §§ 7 und § 8 des Asylgesetzes 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein algerischer Staatsangehöriger, gelangte über Tunesien und die Türkei am 26. August 2001 in das Bundesgebiet und beantragte am darauf folgenden Tag die Gewährung von Asyl.

Im Rahmen seiner Einvernahme durch das Bundesasylamt (die Erstbehörde) gab er auf Befragen zu seinem Fluchtgrund an (F = Frage, A = Antwort des Beschwerdeführers):

"F: Aus welchen Gründen haben Sie nun die Heimat verlassen?

A: Nach der Universität ging ich wie jeder junge Mann zum Militär und absolvierte meine Grundausbildung. Nach dieser Ausbildung verpflichtete ich mich für fünf Jahre, also bis 2005 und war ab September 1998 Berufssoldat. Ich war in der Kaserne 27 Pimou, in der 36. Brigarde tätig.

F: Welchen Rang hatten Sie?

A: Ich war Auszubildender einer Gruppe von 30 Leuten. Mein Rang war Offizier. Ebenfalls war ich für die Waffenlager verantwortlich, in dem Sinn, dass ich die Waffenausgabe beaufsichtigt habe ... Ich kontrollierte die Aus- und Wiedergabe der Waffen.

F: Was ist die 36. Brigarde?

A: Diese Brigarde gehört zu den Bodentruppen. Es war keine

Spezialeinheit oder so.

F: Was waren nun die Gründe, welche Sie zur Ausreise veranlasst haben?

A: Ich fühlte mich bedroht und zwar seitens der Fundamentalisten in Algerien.

F: Gab es irgendwelche Vorfälle?

A: Es gab keine Übergriffe auf mich, aber es ist in meiner Umgebung bekannt, dass ich Berufssoldat bin. Von meinen Eltern habe ich erfahren, dass am März 1997 irgendwelche Männer nach mir gefragt haben und ich nehme an, dass dies Fundamentalisten waren. Aus diesem Grunde bin ich nicht mehr nach Hause und habe in einer Pension in Baskara bis zu meiner Ausreise gewohnt.

F: Gab es dort irgendwelche Vorfälle?

A: Nein. Es gab keine Auseinandersetzungen oder

Gewaltanwendungen gegen mich.

...

F: Von welchen Fundamentalisten fühlen Sie sich bedroht?

A: Ich kann nicht beurteilen, wer bei mir zu Hause war, auch

meine Eltern haben sie nicht gekannt. Auch sie haben keine Ahnung, wer diese Leute waren.

F: Gab es jemals einen Übergriff auf Sie seitens der Fundamentalisten?

A: Nein, nein es gab kein Attentat oder Übergriff auf mich.

F: Gab es jemals Übergriffe seitens der Polizei oder der Behörden in Ihrem Heimatland?

A: Nein, so etwas hat es nie gegeben. Ich war ja selbst ein Teil einer solchen Behörde.

F: Sind Sie vorbestraft oder werden Sie von einem Gericht

oder einer Staatsanwaltschaft gesucht?

A: Nein, nein überhaupt nicht.

F: Was fürchten Sie im Falle einer Rückkehr?

A: Ich würde bestimmt von den Fundamentalisten gefasst und getötet werden. Zudem habe ich Angst, dass ich auf Grund meines Berufes als Berufssoldat in einem Gebiet eingesetzt werde, wo die Sicherheitskräfte gegen die Fundamentalisten kämpfen und das will ich auf keinen Fall.

F: Wollen Sie sonst noch etwas für Ihren Asylantrag vorbringen?

A: Ich sah keinen anderen Ausweg, als die Flucht, aus dem

zuvor geschilderten Problem. Wenn ich verweigere, an Kämpfen teilzunehmen, dann ist das natürlich eine Dienstpflichtverletzung und ich kann deshalb bestraft werden.

F: Waren noch einmal Leute bei Ihren Eltern und haben nach Ihnen gefragt?

A: Die Fundamentalisten beobachten die Lage und wissen, ob ich zu Hause bin oder nicht. Ich kann nicht beschreiben, wann und ob sie bei meinen Eltern waren."

Mit Bescheid vom 27. November 2001 wies die Erstbehörde den Asylantrag gemäß § 7 des Asylgesetzes 1997 (AsylG) ab und sprach aus, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung (des Beschwerdeführers) nach Algerien gemäß § 8 AsylG zulässig sei. Nach Wiedergabe seines Vorbringens traf sie vorerst Feststellungen zur Lage in Algerien und zur Behandlung von Deserteuren im Falle ihrer Rückkehr nach Algerien. Nach weiterer Darstellung von Grundanforderungen an ein Vorbringen als glaubhaft führte sie begründend aus, hinsichtlich der Person des Beschwerdeführers sei zu befinden, dass diese mangels Vorliegen geeigneter Dokumente nicht feststehe. Hinsichtlich seiner Nationalität werde ihm ob seiner geografischen Kenntnisse, seines Aussehens und der verwendeten Sprache dahingehend Glaubwürdigkeit zugebilligt, dass er aus Algerien stammen dürfte. Wenngleich die Ausführungen zum Fluchtweg nicht asylrelevant seien, vermögen sie doch ein Indiz für die Gesamtbewertung der Glaubwürdigkeit einer Person darzustellen. Der Beschwerdeführer trachte - aus welchen Gründen immer - danach, seinen Reiseweg nach Österreich bewusst zu verschleiern. Ihm werde geglaubt, dass er in seiner Heimat nie Probleme mit der Polizei oder den Behörden gehabt habe und es niemals irgendwelche Übergriffe gegeben habe. Nachvollziehbar sei auch, dass er die Möglichkeit genutzt habe, als Berufssoldat beim Militär zu bleiben. Seine Behauptung einer konkreten Bedrohung durch Fundamentalisten könne jedoch nur als eine in den Raum gestellte gewertet werden, der auf Grund der mangelnden Plausibilität und Nachvollziehbarkeit keine Glaubwürdigkeit geschenkt werden könne, zumal es sich bei seinen Aussagen um sehr vage und allgemein gehaltene Darlegungen handelte. Er habe keine genauen und detaillierten Angaben bezüglich der behaupteten Nachfrage seitens irgendwelcher Männer nach ihm vorbringen können. Obwohl die von ihm behaupteten unbekannten Männer im März 1997 nach ihm gefragt hätten, hätte sich der Beschwerdeführer ohne weitere Probleme oder irgendwelche Übergriffe seitens der Fundamentalisten in seiner Heimat aufgehalten und sei seinem Beruf nachgegangen. Der Beschwerdeführer habe durch seine bloßen Behauptungen den von ihm vorgebrachten Sachverhalt nicht glaubhaft machen können. Letztlich sei zu berücksichtigen gewesen, dass er einen gültigen Reisepass besitze und legal alle Formalitäten habe erfüllen können, um offiziell auszureisen. Zwar habe der Verwaltungsgerichtshof wiederholt festgestellt, dass ein gültiger Reisepass nicht von vornherein als Hindernis für die Gewährung von Asyl angesehen werden könne. Wohl könne aber im Fall des Beschwerdeführers aus den Umständen erschlossen werden, dass einer unzuverlässigen Person kein Reisepass oder Visum ausgestellt und die Ausreise verhindert würde. Obwohl der Beschwerdeführer nach eigener Angabe verfolgt werden sollte, hätten in seinem Fall offenbar keine Bedenken bestanden, sich den restriktiven Kontrollen an der Grenze auszusetzen. Dies spreche ebenfalls gegen seine Glaubwürdigkeit. Soweit der Beschwerdeführer eine Gefährdung seiner Person durch islamische Terroristen befürchte, stelle dies eine Bedrohung von Privaten dar, die nicht seinem Heimatstaat zugerechnet werden könne, weil keine Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass der Staat Algerien seiner Garantenstellung nicht nachkommen würde. Vielmehr sei allgemein bekannt, dass der algerische Staat massiv gegen Terroristen vorgehe und bestrebt sei, seine Bevölkerung zu schützen. Zudem sei auszuführen, dass einerseits massive Kampagnen von staatlicher Seite gegen bewaffnete Terroristen gesetzt würden und diese Maßnahmen auch insoweit erfolgreich zu sein schienen, als der Aktionsraum der Terroristen dadurch weitgehend habe eingeschränkt werden können. Andererseits bleibe festzuhalten, dass sich der Aktionsradius der Terroristen nicht über ganz Algerien erstrecke und insbesondere die großen Städte als sicher angesehen werden könnten. Weiters berichte das Deutsche Orient-Institut ausdrücklich, dass es höchst unwahrscheinlich wäre, ein ehemaliges Mitglied der Polizei oder Armee wäre bei einer Rückkehr seitens einer der Terrorgruppen gefährdet. Entscheidend sei im Fall des Beschwerdeführers die Behauptung, eine Strafe als Berufssoldat zu erwarten, weil er nicht gewollt habe, in Gebieten eingesetzt zu werden, wo es zu Auseinandersetzungen komme. Der Beschwerdeführer sei kein gewöhnlicher dienstpflichtiger Soldat gewesen, er habe sich dem militärischen Regime auf Grund einer freiwillig abgegebenen Erklärung verpflichtet und habe das Soldatentum zu seinem Beruf gemacht und daraus sein Einkommen bezogen. Wenn es schon nicht Aufgabe des Flüchtlingswesens sei, Wehrdienstpflichtigen, die der geforderten Militärdienstpflicht nicht nachgekommen seien, die Flüchtlingseigenschaft zuzugestehen, so könne schon gar nicht die Flucht eines Berufssoldaten vor einer Strafe wegen einer begangenen Dienstpflichtverletzung zu einer Asylrelevanz führen. Die Erstbehörde gelange nach eingehender rechtlicher Würdigung zur Ansicht, es sei nicht glaubhaft, dass dem Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat Verfolgung drohe. Aus diesem Grund sei sein Asylantrag abzuweisen. Betreffend den Abspruch nach § 8 AsylG führte die Erstbehörde aus, es verhalte sich in Algerien nicht so, dass keine ausreichend funktionierende Ordnungsmacht mehr vorhanden sei, sodass damit gerechnet werden müsste, jeder dorthin abgeschobene Fremde wäre mit erheblicher Wahrscheinlichkeit der in § 57 Abs. 1 FrG umschriebenen Gefahr unmittelbar ausgesetzt. Hinsichtlich der Behauptung staatlicher Repressalien werde angemerkt, den dem Beschwerdeführer im Fall seiner tatsächlich erfolgten Desertion allenfalls drohenden Sanktionen könne jedenfalls keine derartige Qualität beigemessen werden, dass diese in den Bereich der erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung bzw. Bestrafung reichten. Eine Haftstrafe stelle per se keine unmenschliche Strafe dar und Desertion sei in praktisch allen Staaten mit Freiheitsstrafe sanktioniert. Zudem sei das Feststehen der Identität Voraussetzung für die Glaubhaftmachung einer aktuellen Gefährdung oder Bedrohung des Antragstellers. Die Identität des Beschwerdeführers stehe nicht fest und er habe nicht vermocht, diese durch entsprechende Bescheinigungsmittel nachzuweisen.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Berufung, in der er sich gegen die Beweiswürdigung der Erstbehörde und gegen die Feststellungen zur Situation in Algerien - seiner Ansicht nach auf veraltetes Dokumentationsmaterial gestützt - wandte. Allein auf Grund der Feststellungen hätte die Erstbehörde dem Beschwerdeführer Asyl gewähren müssen, weil Algerien nicht in der Lage sei, ausreichenden Schutz gegen Übergriffe von Terroristen zu gewähren. Dem Beschwerdeführer sei ein Untertauchen in einer größeren Stadt nicht möglich. Für den Fall seiner Rückkehr drohe ihm eine unmenschliche Behandlung, Strafe oder die Todesstrafe. Als Offizier und Ausbildner in der Armee treffe ihn das Militärstrafrecht strenger als einen Rekruten, der nur seine Grundausbildung absolviere.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem unabhängigen Bundesasylsenat (der belangten Behörde) gab der Beschwerdeführer auf Befragen, weshalb er seine Heimat verlassen habe, an (BW = Beschwerdeführer, VL = Verhandlungsleiter):

"BW: Ich fürchtete mich ihn Algerien vor zwei Seiten. Einerseits vor den bewaffneten Gruppen, andererseits vor den algerischen Behörden, da ich mich geweigert hatte, mich in eine spezielle Region verlegen zu lassen.

VL: Erzählen Sie mir die genauen Umstände Ihres Militärdienstes.

BW: Mein Pflichtpräsenzdienst begann im März 1997 und dauerte bis Sept. 1998. Im Sept. 1998 unterzeichnete ich einen siebenjährigen Verpflichtungsvertrag. Ich rückte in das Lager Sidi Bel Abbas ein und genoss dort sechs Monate militärische Grundausbildung. Dann wurde ich zur weiteren Ausbildung nach Tissemsilet verlegt. Dort verbrachte ich ein ganzes Jahr.

...

VL: Sind Sie nach dem 'Abrüsten' also an Ihren Heimatwohnort zurückgekehrt?

BW: Nein, ich bin weder während, noch nach meiner Ausbildung in Tissemsilet zu meiner Familie an meinen Wohnort gereist.

VL: Woraus leiten Sie nun Ihre Befürchtung vor bewaffneten Gruppierungen ab?

BW: Bekannt ist, dass zwischen den bewaffneten Gruppen und dem algerischen Militär tödliche Feindschaft herrscht. Daraus wurde mir klar, dass mich Mitglieder der bewaffneten Gruppen, so sie meiner habhaft werden, mit Sicherheit töten werden, das ist doch bekannt.

VL: Gab oder gibt es konkrete Anzeichen dafür, dass Angehörige bewaffneter Gruppierungen überhaupt ein Interesse an Ihrer Person haben?

BW: Die Leute konnten gegen mich nicht vorgehen, da sie mich nicht gefunden haben. Es ereignete sich aber, wie ich in der ersten Einvernahme zu Protokoll gab, dass sie in unser Haus kamen und meine Eltern und Geschwister nach meinem Aufenthaltsort befragten. In diesem Haus hatte ich vor meinem Einrücken gewohnt.

VL: Wann hat man sich da nach Ihnen erkundigt?

BW: Sie kamen in der ersten Zeit meines Grundwehrdienstes, vielleicht zwei Monate nach dessen Beginn, ich denke, es war etwa im Mai 1997.

VL: Zu diesem Zeitpunkt waren Sie allerdings noch nicht

zeitverpflichtet bzw. Berufungssoldat?

BW: Korrekt.

VL: Können Sie angeben, aus welchem Grund diese Personen nach

Ihrem Aufenthaltsort gefragt haben?

BW: Sie müssen richtig verstehen, dass es sich bei diesen Gruppen um Personen mit dichten Organisationsnetz handelt. Es ist nicht so, dass sie gekommen sind, um nach mir zu suchen oder zu fahnden, vielmehr wollen sie von allen abwesenden Jugendlichen wissen, wo sich diese aufhalten und was sie tun. Sie haben nicht nur nach mir, vielmehr auch nach vielen anderen Personen gefragt.

VL: Gab es bis zum Zeitpunkt Ihrer Ausreise aus Algerien weitere Kontakte mit diesen Personen?

BW: Treffen zwischen mir und diesen Leuten hat es nicht gegeben, andernfalls ich nicht mehr am Leben wäre.

VL: Haben sich diese oder andere Personen dieses Umfeldes bis zur Ihrer Ausreise noch einmal nach Ihnen erkundigt?

BW: Nach diesem Zeitpunkt kamen sie noch etliche weitere male zu meiner Familie, um nach mir zu fragen, wobei meine Angehörigen aber kein Interesse hatten, meinen Aufenthaltsort bekannt zu geben und sich mit diesen Leuten auch nicht einlassen wollten. Wie oft genau sie gekommen sind, weiß ich nicht.

VL: Vor dem BAA haben Sie u.a. ausgesagt: ...'Ich kann nicht beschreiben, wann und ob sie bei meinen Eltern waren'! Was sagen Sie dazu?

BW: Vielleicht wurde ich nicht genau verstanden, habe ich doch sicherlich, wie auch heute gesagt, dass ich nicht weiß, wann sie gekommen sind, sehr wohl aber, dass sie gekommen sind.

VL: Gab es bis zum Zeitpunkt Ihrer Ausreise - wenngleich auch allenfalls Ihren Angehörigen gegenüber geäußert - konkrete, Sie betreffende Bedrohungen oder anderes?

BW: Eine persönliche Bedrohung meinerseits hat in Ermangelung persönlicher Treffen nicht stattgefunden. Ausdrücklich mit dem Tode bedroht hat man mich auch nicht über meine Familie, aber mir war klar, wie jedem in meiner Lage, dass ich umgebracht würde, wenn sie meiner habhaft werden.

...

VL: Welche Befürchtungen hegen Sie im Falle Ihrer Rückkehr im Bezug auf staatliche Behörden?

BW: Im Falle meiner Rückkehr habe ich von Seiten der algerischen Behörden mit strenger Bestrafung zu rechnen, die entweder aus einer längeren Haftstrafe oder aber Todesstrafe bestehen kann. Der Grund dafür ist meine Desertion während eines gültigen Ausnahmezustandes, was nach algerischen Gesetzen einen Erschwernisgrund darstellt. Darüber hinausgehend wird meine Flucht von Seiten der Behörde gewiss als Unterstützungsmaßnahme meinerseits zugunsten der gegen die Regierung kämpfenden Islamisten angesehen, was eine weitere Strafverschärfung nach sich zieht. Aus den Unterlagen geht diesbezüglich so manches hervor, wobei ich aber auf eine große Diskrepanz zwischen dem Inhalt der Berichte und der tatsächlichen Praxis hinweisen möchte.

VL: Waren Sie jemals während Ihrer Militärdienstzeit im Einsatz gegen die, von Algerien als Terroristen bezeichneten, bewaffneten Gruppierungen?

BW: In der Hauptsache war ich nicht direkt an Kämpfen gegen bewaffnete Gruppen beteiligt, da ich vorwiegend im Innendienst mit der Betreuung der Aufsicht über besonders gesicherte Gebiete beschäftigt war. Darüber hinaus habe ich drei oder viermal an bewaffneten Kämpfen gegen die Regierungsfeinde teilgenommen.

BWV: Gibt es, Ihrer Meinung nach, Übergriffe der algerischen Polizei auf die Zivilbevölkerung?

BW: Diesbezüglich habe ich keine besonderen Beobachtungen gemacht, kenne aber die von einem geflüchteten Offizier gemachten Aussagen darüber, die in Frankreich publiziert wurden.

VL: Wie heißt dieser Offizier?

BW: Vor etwa zwei Jahren ist sein Buch erschienen. Er heißt HS.

..."

In seinem Schriftsatz vom 24. Mai 2002 brachte der Beschwerdeführer - unter Anschluss einer Stellungnahme von amnesty international betreffend Algerien - Desertion aus der Armee, auszugsweisen Kopien aus algerischen Strafbestimmungen sowie von Medienberichten über Terroranschläge - zusammengefasst Bedenken gegen die ihm in Anbetracht der anscheinend eskalierenden Situation drohende hohe Haftstrafe vor. Unabhängig davon seien die Haftbedingungen in Österreich nicht mit jenen in Algerien zu vergleichen. Eine zumindest fünfjährige Freiheitsstrafe in einem algerischen Gefängnis stelle daher in jedem Fall eine unmenschliche Behandlung im Sinn des Art. 3 EMRK dar.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG ab und sprach gemäß § 8 AsylG in Verbindung mit § 57 des Fremdengesetzes 1997 aus, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Algerien zulässig sei. Nach kurzer Darstellung des Verfahrensganges stellte die belangte Behörde als entscheidungswesentlichen Sachverhalt fest:

"Der Antragsteller ist algerischer Staatsangehöriger, arabischer Volksgruppenzugehörigkeit. Der Antragsteller leistete beginnend mit März 1997 seinen allgemeinen Wehrdienst in Algerien und verpflichtete er sich sodann zu einer weiteren mehrjährigen Militärleistung. Der Antragsteller war während seiner 'Militärkarriere' drei bzw. vier Mal an bewaffneten Kämpfen gegen (terroristisch agierende) islamistische Truppen im Einsatz. Der Antragsteller hat das algerische Militär vor Ablauf der vereinbarten Verpflichtungszeit verlassen. Der Antragsteller war in der Vergangenheit keinen sich konkret gegen seine Person richtenden ausdrücklichen Bedrohungen oder Verfolgungen bzw. auch keinen konkreten Übergriffen oä. ausgesetzt. Im März 1997 haben dem Antragsteller unbekannte Männer bei seinen Eltern nach dessen Verbleib gefragt, weshalb er bis zu seiner Ausreise nicht mehr an seinen Wohnort zurückgekehrt ist.

Nicht festgestellt werden konnte, dass sich die vom Antragsteller bezeichneten unbekannten Personen nach der Nachfrage nach seiner Person im Jahre 1997 noch weitere Male bei seinen Angehörigen nach seinem Verbleib erkundigt haben.

Zur allgemeinen Situation in Algerien wird festgestellt, dass die algerische Staatsregierung seit einiger Zeit den Weg der Versöhnung mit Angehörigen von radikal-islamistischen Bewegungen eingeschlagen hat unter gleichzeitiger Bekämpfung jener Gruppierungen, welche nach wie vor sich des Mittels des gewaltsamen Terrors bedienen. Algerien ist als funktionierendes Staatswesen zu bezeichnen bzw. kann dem Staat bzw. seinen Sicherheitsbehörden nicht grundsätzlich Schutzunwilligkeit seiner Bürger, noch auch mangelnde Effizienz bei der Verbrechungsbekämpfung angelastet werden.

Die Sicherheitslage hat sich seit dem Amtsantritt von Präsident Bouteflika insgesamt deutlich verbessert. Vor allem in Algier und anderen großen Städten des Landes hat sich das Leben wieder weitgehend normalisiert.

Die Hauptstadt Algier und die anderen Großstädte des Landes können sohin als 'sichere Zonen' im Hinblick auf latent vorhandenen Terrorismus bzw. Aktivitäten radikal islamistischer Bewegungen bezeichnet werden.

Andererseits verüben aber auch nach Ablauf der Begnadigungsfrist für reuige Terroristen am 13.1.2000 sowie der Amnestie Anhänger islamistischer Terrorgruppen, vor allem in den ländlichen Gebieten der Kabylei und Teile Westalgeriens, weiterhin Anschläge mit zum Teil zahlreichen Todesopfern. ...

Die Gebiete, in denen bewaffnete Untergruppen der GIA oder andere Gruppen weiterhin aktiv sind, sind seit 1999 räumlich stark geschrumpft (ländliche, gebirgige Regionen), insbesondere nach Inkrafttreten des Amnestiegesetzes vom Juli 1999. Hinzu kamen massive Kampagnen der Streitkräfte zur Aushebung dieser Gruppen. ...

Allgemein wird zur Situation in Algerien ausgeführt, dass gegenwärtig staatliche Repressionen, allein aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen politischer Überzeugung nicht feststellbar sind.

...

Wehrdienstverweigerung bzw. Fahnenflucht werden nach dem algerischen Militärstrafgesetzbuch geahndet. Wehrdienstentziehung ist mit einem Strafrahmen von drei Monaten bis zu fünf Jahren Haft, Desertion mit einem Strafrahmen im Frieden je nach Fallgestaltung sechs Monate bis fünf Jahre, bei Offizieren bis zu zehn Jahren pönalisiert. Deserteure müssen nach Verbüßung ihrer Haftstrafe den unterbrochenen Militärdienst bis zur Erfüllung der regulären Dienstzeit fortsetzen. Wehrdienstentziehung oder Fahnenflucht können dann zu weiteren Repressalien führen, wenn besondere, als staatsgefährdend eingestufte Handlungen hinzutreten.

Die algerische Strafjustiz ist grundsätzlich an das Gesetz gebunden.

Deserteure werden immer in Militärgefängnissen inhaftiert. Die Haftbedingungen in diesen Gefängnissen sind eher besser als in anderen Strafvollzugsanstalten. Fälle von Misshandlungen während der Haft sind nicht bekannt."

Beweiswürdigend führte die belangte Behörde aus, die Feststellungen zur Situation in Algerien beruhten auf umfassenden bzw. detaillierten Länderinformationen, insbesondere des deutschen Auswärtigen Amtes. Der Beschwerdeführer habe keine diesen Unterlagen zuwiderlaufenden Erkenntnisquellen oder Informationen aufzuzeigen vermocht. Das Vorbringen des Beschwerdeführers über seinen Militärdienst in Algerien habe nach eingehender "Beleuchtung" als Sachverhalt festgestellt werden können. Hingegen habe nicht festgestellt werden können, dass er vor seiner Ausreise mehrmals bzw. des Öfteren an seinem Heimatort bzw. bei seinen Eltern gesucht worden wäre. Diese Negativ-Feststellung beruhe insbesondere auf den diesbezüglich divergierenden Angaben des Beschwerdeführers: So habe er vor der Erstbehörde ausdrücklich gesagt, er könnte nicht beschreiben, wann und ob sie (gemeint: die Unbekannten) bei seinen Eltern gewesen wären. Im Rahmen des Berufungsrechtsgespräches habe er zu Protokoll gegeben, die Unbekannten wären noch etliche weitere Male zu seiner Familie gekommen, um nach ihm zu fragen. Dem in diesem Punkt - ohne plausible Erklärung - gesteigerten Vorbringen sei die Glaubhaftigkeit zu versagen gewesen. In rechtlicher Hinsicht folgerte die belangte Behörde, nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes stelle grundsätzlich die Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes - sei es durch Nichtbefolgung eines Einberufungsbefehles, sei es durch Desertion - für sich allein noch keinen tauglichen Asylgrund dar. Die durch algerische Rechtsvorschriften in Aussicht gestellte Strafe wegen eines solchen Deliktes indiziere nicht die Annahme eines asylrelevanten Aspekts. Der Beschwerdeführer habe im Ermittlungsverfahren nicht ins Treffen geführt, dass ihm nunmehr wegen der Desertion allenfalls eine abweichende politische Meinung grundsätzlich unterstellt werden würde, deretwegen er gegenüber anderen Deserteuren oder Wehrdienstverweigerern diskriminierend bzw. differenziert verurteilt bzw. bestraft werden würde. Auch ethnische, rassische, religiöse oder sonstige Aspekte kämen "in casu" nicht zum Tragen. Ohne Hinzutreten weiterer konkreter erschwerender Umstände rechtfertige die Flucht vor einem drohenden Militärdienst oder nach erfolgter Desertion nicht per se die Annahme, dass die Verurteilung bzw. Bestrafung wegen des erfolgten Wehrdienstdeliktes infolge eines vom Schutzzweck der Genfer Flüchtlingskonvention umfassten Grundes ungünstiger als für einen "gewöhnlichen Deserteur" wäre. Eine allenfalls auf Grund der Laufbahn des Beschwerdeführers gegenüber einem "einfachen Rekruten" normierte strengere Bestrafung vermöge keinen tauglichen Grund für die Anerkennung als Flüchtling zu bieten. Dass das zu erwartende Strafausmaß oder auch die Strafdrohung grob überschießend bzw. per se unzumutbar wäre, könne nicht erkannt werden. Auch könne nicht erkannt werden, dass dem Beschwerdeführer bei seiner Rückkehr allenfalls eine Belangung aus einem der vom Schutzzweck der Genfer Flüchtlingskonvention umfassten Gründe drohe. Hinsichtlich der weiteren Befürchtung, von Seiten Angehöriger islamischer Gruppen behelligt bzw. verfolgt zu werden, sei auszuführen, dass dem Beschwerdeführer diesbezüglich jedenfalls eine so genannte innerstaatliche Fluchtalternative offen stehe. Wie festgestellt und auch ausreichend dokumentiert, stehe es dem Beschwerdeführer jedenfalls frei, sich in einen sicheren Landesteil - etwa die Hauptstadt Algier oder eine der anderen Großstädte - zu begeben, um sich dem Zugriff von Untergrundgruppierungen zu entziehen. Es könne daher nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer in diesen Landesteilen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen unter mangelnder Schutzeffizienz des Staats rechnen müsse. Wie insbesondere den Berichten des Deutschen Orient-Institutes sowie des Deutschen Außenamtes zu entnehmen sei, seien die Gebiete, in denen bewaffnete Untergrundgruppierungen der GIA oder anderer Gruppen weiterhin aktiv seien, seit dem Jahr 1999 räumlich stark geschrumpft (ländliche Gebirgsregionen). Insbesondere in den Großstädten des Landes, die als jedenfalls sichere Landesteile zu bezeichnen seien, könnte sich der Beschwerdeführer bei seiner Rückkehr jedenfalls dem Zugriff islamistischer Fundamentalisten oder anderer terroristisch agierender Personen entziehen. Dass er auf Grund seiner militärischen Tätigkeit besonders exponiert bzw. einem erhöhten Verfolgungsrisiko ausgesetzt wäre, sei im Verfahren nicht hervorgekommen. Nach Auskunft des Deutschen Orient-Institutes vom 7. August 2000 gelte es als "höchst unwahrscheinlich", dass ein ehemaliges Mitglied der Polizei oder Armee bei einer Rückkehr von dieser Seite gefährdet wäre. Dass dem Beschwerdeführer eine Rückkehr in einen so genannten sicheren Landesteil gänzlich unzumutbar wäre bzw. dort jegliche Lebensgrundlage entzogen wäre, habe er nicht nachvollziehbar aufzuzeigen vermocht. Betreffend den Abspruch nach § 8 AsylG gelangte die belangte Behörde zur Ansicht, es bestünden keine stichhaltigen Gründe für die Annahme, dass der Beschwerdeführer im Fall einer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung Gefahr liefe, in seinem Heimatstaat einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe unterworfen zu werden. Es seien keine Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Beschwerdeführers im Sinn des § 57 Abs. 1 oder 2 FrG hervorgekommen.

Über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:

Der Beschwerdeführer hält in seiner Beschwerde den Standpunkt aufrecht, dass ihm wegen der Gefahr einer Bestrafung nach einem unfairen Verfahren und im Hinblick auf die Haftbedingungen in den Militärgefängnissen Asyl zu gewähren gewesen wäre.

Die belangte Behörde gründete die Versagung von Asyl darauf, die durch algerische Rechtsvorschriften in Aussicht gestellte Strafe wegen Desertion indiziere nicht die Annahme eines asylrelevanten Aspektes. Der Beschwerdeführer habe im Ermittlungsverfahren nicht ins Treffen geführt, dass ihm nunmehr auf Grund erfolgter Desertion allenfalls grundsätzlich eine abweichende politische Meinung unterstellt werden würde, deretwegen er gegenüber anderen Deserteuren oder Wehrdienstverweigerern diskriminierend bzw. differenziert verurteilt bzw. bestraft werden würde. Die belangte Behörde setzte sich in diesem Punkt jedoch in Widerspruch zu den Angaben des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung, wonach er im Fall seiner Rückkehr mit strenger Bestrafung, entweder mit einer längeren Haftstrafe oder aber mit der Todesstrafe, zu rechnen habe. Der Grund dafür sei seine Desertion während eines Ausnahmezustandes gewesen. Darüber hinausgehend werde seine Flucht von der Behörde gewiss als Unterstützungsmaßnahme seinerseits zu Gunsten der gegen die Regierung kämpfenden Islamisten angesehen, was eine weitere Strafverschärfung nach sich ziehe. Mit diesem Vorbringen machte der Beschwerdeführer gerade den von der belangten Behörde verkannten Umstand geltend, dass ihm eine oppositionelle Gesinnung, die in seiner Flucht als Unterstützung für gegen die Regierung kämpfende Islamisten Ausdruck gefunden habe, unterstellt werde. Schließlich überging die belangte Behörde das in diesem Zusammenhang erstattete Vorbringen, dass dieser Umstand eine "weitere Strafverschärfung" nach sich ziehe.

Dem von der belangten Behörde übergangenen Vorbringen des Beschwerdeführers kann im Hinblick auf das hg. Erkenntnis vom 21. März 2002, Zl. 99/20/0401, auf das gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, Asylrelevanz nicht abgesprochen werden.

Da die belangte Behörde den asylrelevanten Sachverhalt in diesem wesentlichen Punkt aktenwidrig zu Grunde legte, belastete sie den angefochtenen Bescheid mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, weshalb dieser gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. a VwGG aufzuheben war.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2001.

Wien, am 15. Mai 2003

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2003:2002010376.X00

Im RIS seit

11.08.2003
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten