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19/05 Menschenrechte;Norm
AsylG 1997 §23;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Pelant, Dr. Köller und Dr. Thoma als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Nichtowitz, über die Beschwerde der 1984 geborenen O in G, vertreten durch Dr. Siegfried Leitner, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Jakominiplatz 17/I, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 13. September 2002, Zl. 228.764/0-V/15/02, betreffend §§ 7 und 8 des Asylgesetzes 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird in seinem Spruchpunkt betreffend die Feststellung nach § 8 des Asylgesetzes 1997 wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die Beschwerdeführerin, eine nigerianische Staatsangehörige, gelangte am 9. März 2002 in das Bundesgebiet und beantragte am
11. d.M. die Gewährung von Asyl. Im Rahmen ihrer Einvernahme vor dem Bundesasylamt (der Erstbehörde) gab sie auf Befragen zu ihrem Fluchtgrund an, ihre letzte Heimatstadt Jos wegen religiöser Unruhen verlassen zu haben, nachdem ihre Eltern und ihre jüngeren Geschwister am 8. Oktober 2001 im Zuge solcher Unruhen getötet worden seien. Im Weiteren befragte die Erstbehörde die Beschwerdeführerin über die Stadt Jos.
Mit Bescheid vom 16. Mai 2002 wies die Erstbehörde den Asylantrag gemäß § 7 des Asylgesetzes 1997 (AsylG) ab und sprach aus, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung (der Beschwerdeführerin) nach Nigeria gemäß § 8 AsylG zulässig sei. Begründend führte sie zusammengefasst aus, die Beschwerdeführerin habe konkrete Fragen über Jos nicht beantworten können, weshalb ihre Herkunft aus Jos nicht plausibel sei. Auf dieser Herkunft basiere jedoch ihr gesamtes fluchtrelevantes Vorbringen, welches damit ebenfalls als nicht glaubhaft zu bezeichnen sei. Ihre Angaben zum Fluchtweg entsprächen einem stereotypen Muster und seien als vage, in keinem Punkt nachvollziehbar und als offensichtlich falsch zu bezeichnen. Ihr Vorbringen sei nicht plausibel, nicht verifizierbar und nicht glaubhaft und die Beschwerdeführerin als nicht glaubwürdig zu bezeichnen. Nach weiteren Feststellungen über die Bevölkerung und Verteilung der Ethnien in Nigeria, über die "allgemeine Menschenrechtssituation" sowie über die allgemeine Lage in Nigeria führte die Erstbehörde weiter aus, vorausgesetzt, die von der Beschwerdeführerin genannten Fluchtgründe würden weitgehend den Tatsachen entsprechen, wäre es ihr ohne größere Probleme möglich und jedenfalls zumutbar, den befürchteten Problemen durch Verlegung des Wohnsitzes in einen anderen Ort oder Landesteil Nigerias, insbesondere in den von Christen dominierten Süden, auszuweichen. Betreffend den Abspruch nach § 8 AsylG gelangte die Erstbehörde zur Ansicht, dass keine stichhaltigen Gründe für die Annahme einer Gefährdung der Beschwerdeführerin im Sinn des § 57 Abs. 1 oder Abs. 2 des Fremdengesetzes 1997 (FrG) bestünden.
Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin Berufung, in der sie sich unter Bezugnahme auf ihre Angaben vor der Erstbehörde gegen die Würdigung ihrer Angaben als unglaubwürdig wandte.
Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem unabhängigen Bundesasylsenat (der belangten Behörde) wurde die Beschwerdeführerin neuerlich zu ihrem Fluchtgrund und über ihre Heimatstadt befragt. Auf Befragen der Verhandlungsleiterin zu weiterem Vorbringen ersuchte die Beschwerdeführerin, sie in Österreich "zu lassen", weil sie nicht ihr Leben und das Leben ihres Babys auf die selbe Art verlieren wolle, wie dies ihren Eltern widerfahren sei.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung gemäß § 7 AsylG ab und sprach gemäß § 8 AsylG in Verbindung mit § 57 Abs. 1 FrG die Feststellung aus, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Nigeria zulässig sei. Unter kurzer Darstellung des Verfahrensganges stellte die belangte Behörde als "entscheidungsrelevanten Sachverhalt" fest, dass die Beschwerdeführerin Staatsangehörige von Nigeria sei und über eine zehnjährige Schulbildung verfüge. Es habe nicht festgestellt werden können, dass sie tatsächlich aus Jos stamme. Zu den in Nigeria vorherrschenden religiösen Verhältnissen werde nachstehend festgestellt:
"FREEDOM OF RELIGION
7.30. The Constitution provides for freedom of religion, including freedom to change one's religion or belief, and freedom to manifest and propagate one's religion or belief in worship, teaching, practice, and observance. However, the Government restricted these rights in practice in certain respects, but only to maintain order, for example where a religious meeting may cause unrest. (3)
7.31. The Constitution prohibits state and local governments from adopting an official religion; however, it also provides that states may elect to use Islamic (Sharia) customary law and courts. About half of the population is Muslim, mostly living in the north of the country, about 40 % Christian, mostly living in the south of the country, and about 10 % practice traditional indigenous religion or no religion (Nigeria Country Assessment October 2001).
Ausweichmöglichkeiten
Angesichts der Vielfalt ethnischer und religiöser Gruppen sowie der Unterschiede zwischen den einzelnen Religionen in Nigeria werden die unter Ziffer 1 bis 2 genannten Maßnahmen (gemeint: Staatliche Repressionen und Repressionen Dritter) nicht landesweit unterschiedslos praktiziert.
Grundsätzlich kann den genannten Maßnahmen deshalb durch Umzug in einen anderen Teil Nigerias ausgewichen werden. Dies kann allerdings zu wirtschaftlichen und sozialen Problemen führen, wenn sich Einzelpersonen an einen Ort begeben müssen, in dem keine Mitglieder ihrer Familie oder der erweiterten Verwandtschaft oder der Dorfgemeinschaft leben. Allerdings hält die innerstaatliche Migration in die großen und größeren Städte wie Lagos immer noch an, sodass es höchstens in einzelnen Fällen zu ernsthaften Problemen kommen dürfte (Bericht des Auswärtigen Amtes Berlin, 24. Oktober 2001).
Innerstaatliche Fluchtalternative:
Personen christlichen Glaubens können sich der religiösen Verfolgung grundsätzlich durch Flucht in südliche Landesteile entziehen. Nach wie vor ziehen Nigerianer in andere Gebiete, um den Unruhen zu entgehen. Vielfach kehren sie aber nach einer Beruhigung der Situation wieder an ihren Wohnort zurück. (Anfragebeantwortung des UNHCR vom 26. April 2002)."
Rechtlich folgerte die belangte Behörde, sie schließe sich im Ergebnis der von der Erstbehörde vorgenommenen Beweiswürdigung zur angeblichen Herkunftsstadt der Beschwerdeführerin vollinhaltlich an. Sie verfüge ihren eigenen Angaben zufolge über eine etwa zehnjährige Schulbildung und behaupte, zumindest sechs Monate lang in Jos gelebt zu haben. Bereits vor der Erstbehörde habe die Beschwerdeführerin keine näheren Angaben zur näheren Umgebung von Jos sowie zur etwaigen Existenz eines Flughafens etc. zu treffen vermocht. Die Beschwerdeführerin sei im Zuge der mündlichen Verhandlung vor der belangten Behörde anhand näher bezeichneten Dokumentationsmateriales nochmals zu örtlichen Gegebenheiten in Jos befragt worden, sie sei jedoch nicht in der Lage gewesen, konkretere Angaben zu ihrer angeblichen Herkunftsstadt zu tätigen bzw. verifizierbare Eigennamen zu nennen. Es könne realistischer Weise nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Beschwerdeführerin ein halbes Jahr lang so gut wie nicht aus dem Haus begeben habe und ihre nächstumliegende Wohnumgebung nicht einmal ansatzweise gekannt habe. Auf Grund des durchgeführten Beweisverfahrens könne somit auch nicht davon ausgegangen werden, dass sie tatsächlich aus Jos stamme. Das ihrerseits auf diese Stadt bezogene Vorbringen erweise sich daher als nicht glaubhaft. Die Beschwerdeführerin habe dem Vorhalt einer inländischen Fluchtalternative in den Süden Nigerias, wo ihren eigenen Angaben zufolge übrigens auch ihre Großeltern lebten, nicht auf nachvollziehbare Weise entgegenzutreten vermocht. Der Asylantrag entbehre somit "auch im Fall gegenteiliger Beweiswürdigung" einer asylrechtlichen Grundlage und sei daher jedenfalls abzuweisen gewesen. Betreffend den Abspruch nach § 8 AsylG führte die belangte Behörde aus, selbst für den Fall der "gegenteiligen Beweiswürdigung" wäre von den obigen Sachverhaltsfeststellungen zu den Religionsverhältnissen in Nigeria und der Möglichkeit einer inländischen Fluchtalternative auszugehen, sodass sich die von der Beschwerdeführerin behauptete Gefahr jedenfalls nicht auf das gesamte Staatsgebiet beziehe. Sie habe selbst vorgebracht, bereits den größten Teil ihres Lebens bei ihren Großeltern in Benin City - also im Süden Nigerias - verbracht zu haben.
Über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:
Die Beschwerde wendet sich gegen die Abweisung des Asylantrages nur insoweit, als sie vorbringt, der angefochtene Bescheid nehme auf mittlerweile inhaltlich überholte Berichte des Auswärtigen Amtes Berlin vom 24. Oktober 2001 und eine Anfragebeantwortung des UNHCR vom 26. April 2002 Bezug. Umfangreichen Medienberichten könne entnommen werden, dass "vor wenigen Tagen aus Anlass eines beabsichtigten Ereignisses mehr als 215 Personen den Tod" gefunden hätten, nachdem Angehörige unterschiedlicher religiöser Gruppierungen (Christen einerseits und Moslems andererseits) gewaltsame Konflikte ausgetragen hätten. Durch "die Ereignisse in jüngster Vergangenheit" sei die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung evident. Abgesehen davon, dass die Beschwerde mit diesem Vorbringen die nicht unschlüssig begründeten Feststellungen der belangten Behörde über die Lage in Nigeria nicht zu entkräften vermag, lässt sie die - ebenfalls nachvollziehbar begründeten - Überlegungen zur Unglaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin - und damit zu ihrem individuellen Fluchtgrund - unberührt, sodass gegen die Abweisung des Asylantrages keine Bedenken bestehen.
Erkennbar gegen den Abspruch nach § 8 AsylG gerichtet bringt die Beschwerde vor, die Beschwerdeführerin sei im neunten Monat mit errechnetem Geburtstermin 5. Dezember 2002 schwanger.
Mit diesem Vorbringen ist die Beschwerde im Ergebnis im Recht. Wie der Verwaltungsgerichtshof zur Frage des Abschiebungsschutzes nach § 8 AsylG in seinem Erkenntnis vom 8. Juni 2000, Zl. 99/20/0203, auf das im Übrigen gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, ausführte, ist für die Frage der Gewährung eines Zurückweisungs-, Zurückschiebungs- oder Abschiebungsschutzes im Sinn des § 8 AsylG in Verbindung mit § 57 Abs. 1 FrG u.a. maßgeblich, ob stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, Österreich würde im Falle der Außerlandesschaffung des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat gegen Art. 3 EMRK verstoßen.
Im vorliegenden Fall wies die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vor der belangten Behörde ausdrücklich auf die - mit der Außerlandesschaffung verbundene - Gefahr für ihr und ihres "Babys" Leben hin. Obzwar die Beschwerdeführerin die lebensbedrohliche Gefahr erkennbar in religiösen Auseinandersetzungen in ihrem Herkunftsstaat sah, wäre die belangte Behörde im Rahmen ihrer Pflicht zur amtswegigen Ermittlung nichts desto weniger gehalten gewesen, umfassend zu prüfen, ob die Außerlandesschaffung der hochschwangeren Beschwerdeführerin - auch im Hinblick auf die Abschiebungsmaßnahme selbst - mit Art. 3 EMRK in Einklang zu bringen wäre.
Nachdem die belangte Behörde diesen maßgeblichen Aspekt des Abschiebungsschutzes verkannte, belastete sie den angefochtenen Bescheid in seinem Spruchabschnitt über die Feststellung nach § 8 AsylG (iVm § 57 FrG) mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes, weshalb er in diesem Punkt wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben war, während die Beschwerde im Übrigen (siehe oben) gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen war.
Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2001.
Wien, am 15. Mai 2003
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2003:2002010556.X00Im RIS seit
20.06.2003