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19/05 Menschenrechte;Norm
AsylG 1997 §28;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Pelant, Dr. Köller und Dr. Thoma als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Nichtowitz, über die Beschwerde des 1984 geborenen J in Wien, vertreten durch Dr. Reinhard Langner, Rechtsanwalt in 1140 Wien, Hütteldorfer Straße 124, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 7. Februar 2002, Zl. 222.914/4-III/12/02, betreffend §§ 6 und 8 des Asylgesetzes 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird in seinem Spruchpunkt II. (Feststellung nach § 8 AsylG) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der damals 16-jährige Beschwerdeführer, seinen Angaben zufolge Staatsangehöriger von Sierra Leone, gelangte am 10. Dezember 2000 in das Bundesgebiet und beantragte am darauffolgenden Tag die Gewährung von Asyl. Im Rahmen seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt (der Erstbehörde) gab er auf Befragen zu seinem Fluchtgrund an, Sierra Leone auf Grund der allgemeinen Bürgerkriegssituation verlassen zu haben. Im November 2000 hätten Rebellen sein Heimatdorf überfallen. Er sei nie der Verfolgung durch den Staat oder durch Behörden ausgesetzt gewesen und habe niemals Probleme wegen seiner Ethnie, Religion oder sozialen Zugehörigkeit gehabt.
Mit Bescheid vom 13. Juni 2001 wies die Erstbehörde den Asylantrag gemäß § 6 Z 3 des Asylgesetzes 1997 (AsylG) als offensichtlich unbegründet ab und sprach aus, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung (des Beschwerdeführers) nach Sierra Leone gemäß § 8 AsylG zulässig sei. Begründend führte die Erstbehörde aus, der Beschwerdeführer sei nicht Staatsangehöriger von Sierra Leone. Zusammenfassend könne festgehalten werden, dass der Beschwerdeführer ein äußerst mangelhaftes Grundwissen über seinen angeblichen Heimatstaat offenbart habe. Demzufolge würde seinen Angaben betreffend seine Staatsangehörigkeit und infolge dessen auch den vorgebrachten Fluchtgründen kein Glauben geschenkt. Die Behauptung, er befürchte in seinem Heimatland Verfolgung, entbehre eindeutig jeder Grundlage. Mangels konkreten, seine Person betreffenden substantiierten und glaubwürdigen Vorbringens sei es ihm nicht gelungen, die behauptete aktuelle Gefährdungs- bzw. Bedrohungssituation in Sierra Leone im Sinne des § 57 FrG glaubhaft zu machen.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer eine umfangreiche Berufung, in der er die Entwicklung des Bürgerkriegs darstellte und auf die bedenkliche Sicherheitslage und humanitäre Situation in Sierra Leone unter Bezugnahme auf Berichte von Medien, des UNHCR sowie von "Accord" hinwies.
Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem unabhängigen Bundesasylsenat (der belangten Behörde) legte der Beschwerdeführer seinen Fluchtgrund in einem Überfall von Rebellen auf sein Heimatdorf dar. Im Weiteren hielt die Verhandlungsleiterin dem Beschwerdeführer vor, dass im gegenwärtigen Zeitpunkt im Hinblick auf das gesamte Staatsgebiet von Sierra Leone keine mit dem immer wieder aufflammenden Bürgerkrieg verbundene "extreme Gefahrenlage mit besonders exzessiver und unkontrollierter Gewaltanwendung", vor allem gegenüber der Zivilbevölkerung, vorliege und dass sich die Lage auch im Hinblick auf die Versorgung der Bevölkerung nach Beendigung des Bürgerkrieges zunehmend stabilisiere. UNHCR habe mit der Rückführung der Flüchtlinge bereits begonnen, was als Hinweis auf eine "positive Prognose der künftigen Entwicklung zu deuten" sei "(zuletzt Information des Österreichischen Konsulates Freetown vom 11.1.2002 (Beilage A), UN-Bericht vom 13.12.2001 ... (Beilage B))".
Der Beschwerdeführer nahm hiezu dahingehend Stellung, dass sich die Rebellen noch immer versteckt hielten. Im Falle seiner Abschiebung nach Sierra Leone würde dort der Tod auf ihn warten, vor dem er geflohen sei.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung gemäß § 6 Z 2 AsylG ab (Spruchpunkt I.) und sprach gemäß § 8 AsylG iVm § 57 des Fremdengesetzes 1997 die Feststellung aus, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone zulässig sei (Spruchpunkt II.). Nach Darstellung des Verfahrensganges begründete die belangte Behörde die Versagung von Asyl damit, es könne dahingestellt bleiben, ob das Vorbringen des Beschwerdeführers - wie von der Erstbehörde nachvollziehbar begründet und wie auch angesichts des in der Berufungsverhandlung hervorgekommenen mangelnden Wissens des Beschwerdeführers über spezifische Eigenheiten Sierra Leone naheliege - für sich genommen bereits auf Grund der offenkundig falschen Angabe des Herkunftsstaates offensichtlich tatsachenwidrig im Sinn der Z 3 des § 6 AsylG sei oder nicht, weil sich schon aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen die offensichtliche Unbegründetheit seines Asylantrages im Sinne des § 6 Z 2 AsylG ergebe. Bei den von ihm geschilderten Geschehnissen handle es sich um die allgemeinen Folgen einer typischen Bürgerkriegssituation, die nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes für sich allein Verfolgungsgefahr im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention nicht begründen könnten. Eine ihm konkret darüber hinaus individuell drohende Gefahr aus Konventionsgründen sei der Schilderung über die Ereignisse nicht nur nicht zu entnehmen, der Beschwerdeführer habe eine solche in der Berufungsverhandlung sogar ausdrücklich verneint. Zum Abspruch nach § 8 AsylG führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass die Anwendbarkeit des § 57 Abs. 2 FrG ausscheide, weil die vom Beschwerdeführer behauptete Verfolgungsgefahr ihre Ursachen offensichtlich außerhalb des asylrelevanten Verfolgungsbegriffes habe. Vor dem Hintergrund des in der Berufungsverhandlung erörterten Dokumentationsmaterials sei zunächst festzustellen, dass sich die allgemeine Lage "einschließlich der Versorgungslage" in Sierra Leone nach Beendigung des jahrelang tobenden grausamen Bürgerkrieges zunehmend stabilisiert habe. "Anhaltspunkte dafür, dass im Zeitpunkt der gegenständlichen Entscheidung eine extreme Gefahrenlage mit besonders exzessiver und unkontrollierter Gewaltanwendung, vor allem gegenüber der Zivilbevölkerung", gegeben wäre bzw. unmittelbar bevorstünde, lägen nicht vor. Es sei daher nicht zu erkennen, dass der Beschwerdeführer im Entscheidungszeitpunkt im gesamten Staatsgebiet von Sierra Leone im Sinn des § 57 FrG bedroht wäre.
Über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:
Soweit sich die Beschwerde gegen die Beurteilung der belangten Behörde im Grunde des § 6 AsylG wendet, weil sie - wie die Erstbehörde - davon ausgehe, dass die Angaben des Beschwerdeführers offenkundig falsch wären, vermag sie keine Bedenken gegen den angefochtenen Bescheid zu erwecken. Wie der Begründung des angefochtenen Bescheides zu entnehmen ist, ließ die belangte Behörde die Frage der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers, die im Erstbescheid für die Abweisung des Asylantrages im Grunde des § 6 Z 3 AsylG tragend war, letztlich dahingestellt, sodass der Ansatz einer Beweisrüge ins Leere geht. Vielmehr erachtete es die belangte Behörde als offensichtlich, dass im Vorbringen des Beschwerdeführers - dem auch von der Beschwerde nicht in Zweifel gezogenen Fluchtgrund des Bürgerkrieges - keine aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen drohende Verfolgung geltend gemacht worden sei. Diese Beurteilung im Grund des § 6 Z 2 AsylG begegnet jedoch keinen Bedenken. Die gegen die Versagung von Asyl (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides) gerichtete Beschwerde war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
Die Beschwerde richtet sich auch gegen die Beurteilung der belangten Behörde im Grunde des § 57 Abs. 2 FrG (iVm § 8 AsylG), wobei vor allem geltend gemacht wird, auf Grund der extremen Gefahrenlage in Sierra Leone bestehe für jeden, der dorthin abgeschoben werde, auch ohne Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei die Gefahr einer Verletzung insbesondere in den durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechten.
Die belangte Behörde legte ihrer Beurteilung nach § 8 AsylG das in der mündlichen Berufungsverhandlung erörterte Dokumentationsmaterial zu Grunde und stellte fest, dass sich die allgemeine Lage "einschließlich der Versorgungslage" nach Beendigung des jahrelang tobenden grausamen Bürgerkrieges "zunehmend" stabilisiert habe. Anhaltspunkte dafür, dass im Zeitpunkt der gegenständlichen Entscheidung im Hinblick auf das gesamte Staatsgebiet von Sierra Leone eine extreme Gefahrenlage mit besonders exzessiver und unkontrollierter Gewaltanwendung, vor allem gegenüber der Zivilbevölkerung, gegeben wäre bzw. unmittelbar bevorstünde, lägen nicht vor.
Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 17. September 2002, Zl. 2001/01/0597, ausführte, greift das bloße Abstellen auf Aspekte der "Sicherheit" bzw. auf das "Fehlen eines Verfolgersubjektes" unter dem Blickwinkel des § 57 Abs. 1 FrG zu kurz. Vielmehr ist vor dem Hintergrund des Art. 3 EMRK auch zu prüfen, ob eine Abschiebung mit Rücksicht auf die humanitäre Lage am Zielort einer unmenschlichen Behandlung gleich käme, was unter dem Gesichtspunkt des § 57 Abs. 1 FrG die Unzulässigkeit einer solchen Maßnahme bedeuten würde.
Die von der belangten Behörde herangezogenen Ermittlungsergebnisse vermögen ihre Zuversicht in die humanitäre Lage in Sierra Leone aber - für sich allein - nicht zu tragen. So ist in dem genannten UN-Bericht vom 13. Dezember 2001, der die Frage der Versorgungslage nur am Rande berührt, nur davon die Rede, dass sich im Jahr 2001 die Energieversorgung signifikant verbessert habe und die landwirtschaftliche Produktion wachse. Dieser Bericht trifft damit keine Aussage über die im vorliegenden Zusammenhang relevanten Aspekte der Versorgungslage.
Die Lücke an tauglichen Ermittlungsergebnissen zur Beurteilung der aktuellen humanitären Situation vermag auch der von der belangten Behörde herangezogene Bericht des österreichischen Konsulates in Freetown vom 11. Jänner 2002 nicht zu schließen, der nur allgemein ausführt, die "Lage in Sierra Leone" sei "als weitgehend normal zu betrachten, auch was die Versorgung der Bevölkerung betrifft" (hinsichtlich der Ergänzungsbedürftigkeit solcher Berichte als Ermittlungsergebnisse vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 8. April 2003, Zl. 2002/01/0060).
Diese Mängel fallen umso mehr ins Gewicht, als sich der Beschwerdeführer in der Berufung auf - allerdings ältere - Berichte von Menschenrechtsorganisationen berufen hatte und es vor dem Hintergrund etwa auch des in dem zitierten Erkenntnis vom 17. September 2002 auszugsweise wiedergegebenen Berichtes der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 21. Mai 2001 erforderlich gewesen wäre, Klarheit darüber zu gewinnen, ob dieser Bericht unzutreffend oder gegenüber den in ihm beschriebenen Zuständen eine Verbesserung der Lage eingetreten sei.
Der angefochtene Bescheid war daher in seinem Ausspruch nach § 8 AsylG (Spruchpunkt II.) gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2001.
Wien, am 15. Mai 2003
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2003:2002010203.X00Im RIS seit
18.07.2003