TE Vwgh Erkenntnis 2003/9/17 2000/20/0535

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Veröffentlicht am 17.09.2003
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1997 §7;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldner und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Grünstäudl und Dr. Berger als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde der S in M, geboren 1979, vertreten durch Dr. Günther Retter, Rechtsanwalt in 2344 Maria Enzersdorf, Südstadtzentrum IV/DG/3, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 18. August 2000, Zl. 217.468/0-VII/43/00, betreffend §§ 7 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 991, 20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die in Weißrussland geborene Beschwerdeführerin reiste am 5. Dezember 1999 in das Bundesgebiet ein, gab an, staatenlos zu sein und ersuchte um Asyl. Nach ihren Ausführungen vor dem Bundesasylamt sei sie, weil ihre verstorbenen Eltern jüdischer Abstammung gewesen seien, von Mitschülern nicht nur beschimpft und ausgelacht, sondern auch geschlagen worden. Die Polizei Weißrusslands habe ihr gegenüber erklärt, dagegen nichts machen zu können. Als 1995 die Großmutter der damals noch minderjährigen Beschwerdeführerin gestorben sei, hätten ihr Behörden die Wohnung weggenommen, die Beschwerdeführerin in ein Internat einweisen wollen und ihr gegenüber erklärt, sie bekomme die Wohnung erst wieder mit 18 Jahren. Da die Beschwerdeführerin Angst vor dem Internat und den Schülern gehabt habe, sei sie illegal und ohne Dokumente nach Polen geflüchtet. Als sie im Jahr 1999 nach Erreichen der Volljährigkeit nach Minsk zurückgekehrt sei, habe die Beschwerdeführerin versucht, "mein Haus" zurückzubekommen und habe sich um die Ausstellung von Dokumenten bemüht. An der Stelle des (ehemaligen) Hauses der verstorbenen Großmutter habe sie aber ein Bürohaus vorgefunden. Bei den Behörden sei "nachgeschaut" worden und man habe der Beschwerdeführerin gegenüber erklärt, dass niemals eine Person mit ihrem Namen im Haus ihrer Großmutter gelebt habe. Daraufhin sei der Beschwerdeführerin die Ausstellung von Dokumenten verweigert worden. Gemeinsam mit ihrem damaligen Lebensgefährten habe sie sodann Weißrussland wieder verlassen.

Das Bundesasylamt vertrat in seinem Bescheid vom 24. Mai 2000 zusammengefasst den Standpunkt, aus "Streitereien zwischen Kindern" sei eine Verfolgung aus Gründen der Genfer Flüchtlingskonvention nicht abzuleiten und wies den Asylantrag der Beschwerdeführerin gemäß § 7 AsylG ab. Gleichzeitig stellte die Erstbehörde gemäß § 8 AsylG fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Weißrussland zulässig sei.

In ihrer dagegen erhobenen Berufung verwies die Beschwerdeführerin auf den Chauvinismus und Antisemitismus, der in Weißrussland herrsche, weil dort die Juden für allen Misserfolg in Politik und Wirtschaft verantwortlich gemacht würden. Mit Bezug auf ihre fehlenden Dokumente und die ihr weggenommene Wohnung meinte die Beschwerdeführerin, sie gehöre "einer bestimmten sozialen Gruppe", nämlich jener der Obdachlosen an, die in Weißrussland "ohne Recht auf Aufenthalt, ohne Recht auf soziale und medizinische Hilfe, ohne Recht auf Leben, nur mit dem Recht auf Tod" seien. In Weißrussland entstehe mit Duldung der Regierung "völlige Rechtlosigkeit", im besseren Fall werde man verletzt und im schlechteren Fall verschwinde man oder lande in einem Gefängnis, ohne zu wissen, ob man dieses je verlassen werde.

In der von der belangten Behörde durchgeführten Berufungsverhandlung wiederholte die Beschwerdeführerin ihre Befürchtung, in Weißrussland wegen ihrer jüdischen Nationalität, die Außenstehende schon auf Grund ihres Namens erkennen könnten, verfolgt zu werden. Außerdem würde sie in diesem Staat ohne Unterkunft und ohne Dokumente auf der Straße "wie ein obdachloser Hund" sterben.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung der Beschwerdeführerin gemäß § 7 AsylG ab und stellte gemäß § 8 AsylG iVm § 57 FrG erneut fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Weißrussland zulässig sei. Nach Wiedergabe des Verfahrensgeschehens würdigte die belangte Behörde die Angaben zur Person der Beschwerdeführerin als glaubwürdig und stellte fest, die Beschwerdeführerin sei jüdischer Abstammung, zuletzt in Minsk wohnhaft gewesen und staatenlos. Sie habe Weißrussland (wieder) verlassen, nachdem es ihr nicht gelungen sei, in diesem Staat Dokumente für ihre Person zu bekommen. Zu Weißrussland traf die belangte Behörde folgende Feststellungen:

"1.2. Zum Herkunftstaat:

Nach der Verfassung von Weißrussland sind alle Bürger ungeachtet ihrer Nationalität, Hautfarbe und Sprache gleich und genießen alle Grundrechte. Ein Gesetz über nationale Minderheiten trägt den Verfassungsgrundsätzen Rechnung. Minderheiten können sich frei artikulieren und betätigten (Auswärtiges Amt Berlin, 17.3.2000, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Weißrussland, Seite 5, 1999 Country Reports on Human Rights Practices, Belarus, Seite 23).

Die Religionsgemeinschaften stoßen nicht auf besondere Schwierigkeiten, auch wenn der Präsident die russisch-orthodoxe Kirche unter dem Gesichtspunkt des Panslavismus deutlich bevorzugt. 1989 wurden etwa 142.000 jüdische Bürger gezählt, das sind ca. 1,5 % der Bevölkerung, viele von ihnen haben Weißrussland jedoch inzwischen verlassen. 1992 waren etwa 70 jüdische Organisationen in Weißrussland aktiv, die Hälfte davon überregional. 1994 kam es mehrfach zu Schändungen jüdischer Friedhöfe. Offizielle administrative Einschränkungen, die sich speziell gegen Juden richten, sind nicht bekannt. Antisemitische Vor(ur)teile sind jedoch in der weißrussischen Bevölkerung weit verbreitet. Auch existieren explizit antisemitische Organisationen, die jedoch über keinen wesentlichen Einfluss in der Gesellschaft verfügen. Bedenklich allerdings erscheint, dass (sich) der weißrussische Präsident selbst mit antisemitischen Äußerungen nicht zurückhält und z.B. hinter der unfreundlichen Pressekritik israelische Drahtzieher vermutete (BAFI, Republik Weißrussland, Länderreport 1997, Seite 28).

1997 wurde das Regierungskomitee für Religions- und Nationalitätenangelegenheiten (SCRNA) errichtet, die (gemeint: das) neben der russisch-orthodoxen unter (gemeint: und der) römisch-katholischen Kirche das Judentum und den Islam als traditionelle Bekenntnisse einstufte. Am 16. April 1999 verabschiedete (richtig: vereinbarte) SCRNA einen Vier-Punkte-Plan mit der Leitung der jüdischen Religionsorganisationsunion von Weißrussland, um Antisemitismus zu bekämpfen. Es ist derzeit allerdings unklar, ob diesen Bestrebungen in der Praxis Erfolg beschieden sein wird (1999 Country Reports on Human Rights Practices, Belarus, Seite 23, 24, 31)."

Im Anschluss an diese Berichtslage vertrat die belangte Behörde in rechtlicher Hinsicht die Auffassung, es könne zwar bezüglich der Bevölkerung und der Politik Weißrusslands von einem weit verbreiteten Antisemitismus gesprochen werden, eine asylrelevante Verfolgung der jüdischen Nationalität bzw. Religion könne jedoch seitens der belangten Behörde nicht festgestellt werden. Was die von der Beschwerdeführerin angesprochenen Lebensbedingungen als Obdachlose betreffe, so sei daraus für die Beschwerdeführerin schon deshalb nichts zu gewinnen, weil Nachteile auf Grund der allgemeinen politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Lebensbedingungen in einem Staat keine Verfolgung im Sinne des Asylgesetzes darstellten. Im Übrigen sei aus der "der Berufungsbehörde zugänglichen Länderdokumentation" nicht ableitbar, dass jedem nach Weißrussland Abgeschobenen trotz dort zweifellos schwieriger wirtschaftlicher Bedingungen die Lebensgrundlage entzogen wäre. Der Beschwerdeführerin sei daher weder Asyl noch Abschiebungsschutz zu gewähren.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Die Beschwerdeführerin verweist zu der im angefochtenen Bescheid vertretenen Ansicht, es drohe ihr in Weißrussland (als ihrem unstrittigen Herkunftsstaat) wegen der jüdischen Abstammung keine asylrelevante Verfolgung, auf ihr Vorbringen im Verwaltungsverfahren, wonach sie schon in der Schule wegen der Zugehörigkeit zum jüdischen Volk von Mitschülern gequält worden sei. Der Staat, so die Beschwerde weiter, habe versucht, sie "in eine Anstalt" einzuweisen und ihr die Ausstellung von Dokumenten verweigert sowie das Haus der Großmutter weggenommen. Es zeige sich somit ein "durchgehender Faden individueller Verfolgung".

Die belangte Behörde folgt im angefochtenen Bescheid den Angaben der Beschwerdeführerin, diese sei 1979 in Weißrussland als Kind jüdischer Eltern geboren worden und habe in diesem Staat bis zu ihrer Ausreise im Jahr 1995 gelebt. Ungeachtet dessen teilt die belangt Behörde - ohne dies im weiteren zu begründen - die Ansicht der Beschwerdeführerin, diese sei staatenlos. In Weißrussland sei es der Beschwerdeführerin nach ihrer Rückkehr im Jahr 1999 nicht gelungen, bei den dortigen Behörden die Ausstellung von Dokumenten für ihre Person zu erwirken, was aber, so die belangte Behörde in ihrer rechtlichen Beurteilung, eine asylrelevante Verfolgung der Beschwerdeführerin nicht begründen könne.

Bei diesen Überlegungen übersieht die belangte Behörde, dass sie vor dem Hintergrund des zugrunde gelegten Sacherhalts die Asylrelevanz der behaupteten Verfolgung der Beschwerdeführerin nicht verneinen durfte, ohne sich zuvor mit der Frage auseinander zu setzen, ob angesichts des von der Beschwerdeführerin beschriebenen Sacherhalts davon auszugehen ist, dass sie nie Staatsangehörige Weißrusslands wurde oder diese Staatsangehörigkeit - aus nicht mir ihrer jüdischen Abstammung zusammenhängenden Gründen - verloren hat, oder ob das Vorbringen nicht vielmehr nahe legt, das ihre Zugehörigkeit zu diesem Staat bei ihrer versuchten Rückkehr von den Behörden nur zu Unrecht (und ohne formelle Entscheidung darüber) in Abrede gestellt wurde. Wäre der Beschwerdeführerin nämlich, was vor dem Hintergrund des festgestellten Sachverhalts nicht auszuschließen ist, die weißrussische Staatsbürgerschaft wegen der jüdischen Abstammung entzogen oder in Abrede gestellt worden (nach dem Vorbringen der Beschwerdeführerin sei ihr Name nach Auskunft der Behörden Weißrusslands bei diesen im Jahr 1999 nicht mehr verzeichnet gewesen), so kann mit Blick auf die damit verbundenen Folgen (etwa betreffend den aufenthalts- und arbeitsrechtlichen Status der Beschwerdeführerin im Herkunftsstaat) nicht ohne weiters ausgeschlossen werden, dass die staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ein asylrelevantes Ausmaß erreichen.

Der angefochtene Bescheid war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 17. September 2003

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2003:2000200535.X00

Im RIS seit

27.10.2003
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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