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41/02 Passrecht Fremdenrecht;Norm
AsylG 1997 §6 Z3;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Steiner und die Hofräte Dr. Nowakowski und Dr. Moritz als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde des T in W, vertreten durch Mag. Wolfgang Friedl, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Porzellangasse 4, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 11. Dezember 2001, Zl. 224.849/0-IV/29/01, betreffend § 6 Z 3 und § 8 Asylgesetz (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Türkei, reiste am 25. August 2001 in das Bundesgebiet ein und stellte am 27. August 2001 einen Asylantrag.
Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 25. Oktober 2001 führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, er sei Kurde und habe bis Oktober 1999 in Bingöl gelebt. Da es dort laufend zu Unruhen gekommen sei, sei er nach Izmir gezogen, wo er als Bauhilfsarbeiter und Maurer gearbeitet habe. Da die Arbeitsbedingungen immer schlechter geworden seien, habe er sich entschlossen, nach Österreich zu reisen. In Haft sei er niemals gewesen, und er sei auch nicht festgenommen worden. Lediglich 1993 sei er von der Gendarmerie angehalten und befragt worden. Probleme mit den türkischen Behörden habe er keine gehabt. Er habe aber acht Geschwister und müsse auch seine Mutter finanziell unterstützen. Im Falle einer Rückkehr in die Türkei befürchte er, keine Arbeit zu finden und so seine Familie finanziell nicht unterstützen zu können.
Mit Bescheid vom 29. Oktober 2001 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 6 Z 1 Asylgesetz als offensichtlich unbegründet ab und erklärte seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Türkei gemäß § 8 Asylgesetz für zulässig. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Beschwerdeführer habe keine Umstände angeben können, die auf eine individuelle Verfolgung hindeuten würden.
In seiner Berufung gegen diesen Bescheid führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, er entstamme einer Familie nationalbewusster Kurden, die sich seit Jahren und entsprechend den ihr offenstehenden Möglichkeiten für die Sache des kurdischen Volkes einsetze. Gerade in der Kurdenprovinz Bingöl gebe es noch immer Unterdrückungsmaßnahmen, so etwa plötzliche Überfälle auf einzelne Dörfer, weil dort angeblich Terroristen versteckt seien. Personenkontrollen seien nach wie vor an der Tagesordnung, ebenso Diskriminierungen. Vermehrt käme es auch zu türkischen Racheaktionen gegen Kurden. Auch im Westen der Türkei, in Izmir, sei der Beschwerdeführer vor Kontrollen nicht sicher gewesen, da ihn sein im Ausweis genannter Geburtsort sowie auch sein kurdischer Akzent verraten hätten. Ferner sei er bei der Vergabe von Arbeitsplätzen eindeutig benachteiligt worden. Er habe die diskriminierenden Lebensumstände jahrelang in äußerst kränkender Form miterleben müssen, wodurch er auch psychisch krank geworden sei. Die tägliche Hoffnungslosigkeit bzw. die nicht vorhandene Perspektive für eine mögliche Verbesserung hätten dazu geführt, dass der Beschwerdeführer dieses Leben nicht mehr habe weiterführen können, weil er sonst die wirtschaftliche Vernichtung seiner ganzen Familie riskiert hätte. Seine Flucht sei aus Furcht vor Verfolgung aus politischen und ethnischen Gründen erfolgt. Im Falle seiner Abschiebung würde der Beschwerdeführer mit Sicherheit festgenommen und liefe Gefahr, unmenschlicher Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden. Sein Leben oder seine Freiheit wären bedroht. Seitens des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers sei der Behörde bereits in diversen Verfahren die Dokumentation des "Fördervereines niedersächsischer Flüchtlingsrat" "Von Deutschland in den türkischen Folterkeller" zur Rückkehrgefährdung von Kurden vorgelegt worden. Darin sei dargestellt, dass Kurden bei ihrer Rückkehr in die Türkei massivsten Menschenrechtsverletzungen wie Folterungen, Beschimpfungen aber auch dem sogenannten "Verschwindenlassen" ausgesetzt seien. Bei der Durchführung der Verfahren sei ein hohes Maß an Willkür festzustellen, das dazu führe, dass die betroffene Personengruppe jederzeit mit schwersten Misshandlungen zu rechnen habe.
Die belangte Behörde führte am 3. Dezember 2001 eine mündliche Berufungsverhandlung durch, an der der Beschwerdeführer trotz ausgewiesener Ladung nicht teilnahm. Nach dem Verhandlungsprotokoll wurde bei dieser Verhandlung der "Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei" (Stand Mitte Juli 2001) des Auswärtigen Amtes Berlin erörtert.
Mit dem in Beschwerde gezogenen Bescheid wurde die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 6 Z 3 Asylgesetz abgewiesen. Gemäß § 8 Asylgesetz wurde festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei zulässig sei. Begründend legte die belangte Behörde im Wesentlichen dar, ein Fünftel der Bevölkerung der Türkei sei kurdischen Ursprungs. Im Westen der Türkei und an der Südküste lebten die Hälfte bis annähernd zwei Drittel der kurdischstämmigen Bevölkerung der Türkei in friedlich assimiliertem Zustand. Ethnisch bedingte Unruhen habe es auch 1999 nicht gegeben. Der türkische Staat bestreite zwar, dass die Kurden ein eigenständiges Volk seien. Es gebe aber viele hochrangige Kurden, die in der türkischen Gesellschaft voll assimiliert seien und ihre Herkunft nicht verleugneten. Auch im Südosten der Türkei würden Kurden allein auf Grund ihrer Volkszugehörigkeit keinen staatlichen Sanktionen unterworfen. Separatismus und Mitgliedschaft in einer bewaffneten Bande würden jedoch kurdischstämmigen Türken öfter als anderen Türken vorgeworfen. In der Praxis könnten im Südosten geborene Personen leichter als andere Staatsangehörige in den Verdacht geraten, Separatisten zu sein, mit Separatisten zu sympathisieren, diese zu unterstützen oder Mitglied einer bewaffneten Bande zu sein. Hiebei gehe es jedoch um individuelle Maßnahmen und nicht um solche, die gegen die gesamte Gruppe der Kurden gerichtet seien. Bei der Einreise in die Türkei habe sich jedermann einer Personenkontrolle zu unterziehen. Türkische Staatsangehörige mit einem gültigen, zur Einreise berechtigenden Reisedokument könnten die Grenzkontrolle normalerweise ungehindert passieren. Werde hingegen der türkischen Grenzpolizei bekannt, dass es sich um eine abgeschobene Person handle, werde eine Routinekontrolle durchgeführt, die eine Abgleichung des Fahndungsregisters nach strafrechtlich relevanten Umständen und eine eingehende Befragung beinhalte. Gleiches gelte, wenn jemand keine gültigen Reisedokumente vorweisen könne oder aus seinem Reisepass ersichtlich sei, dass er sich ohne Aufenthaltsgenehmigung in einem anderen Staat aufgehalten habe. Die Einholung von Auskünften könne je nach Einreisezeitpunkt und Ort, an dem das Personenstandsregister geführt werde, zwischen einigen Stunden und mehreren Tagen dauern. Abgeschobene würden in den Diensträumen der jeweiligen Polizeiwache vorübergehend festgehalten. Bestehe der Verdacht einer Straftat, würden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Schwierigkeiten für Abgeschobene könnten eintreten, wenn die Befragung oder die Durchsuchung des Gepäcks oder Recherchen bei den Heimatbehörden den Verdacht der Mitgliedschaft bei oder der Unterstützung der PKK oder anderer illegaler Organisationen begründeten. Die Betreffenden würden dann den zuständigen Sicherheitsbehörden übergeben. Eine in die Türkei zurückkehrende Person werde aber im Zuge der Routinekontrolle nicht etwa nur wegen ihrer Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe misshandelt oder gefoltert. Der Beschwerdeführer habe die Türkei aus rein wirtschaftlichen Gründen verlassen. Der Sachverhalt, der erstmals in der Berufung behauptet worden sei, könne nicht festgestellt werden, da die diesbezüglichen Angaben offensichtlich nicht den Tatsachen entsprächen. Die in der Berufung erstmals getätigten Angaben, wonach der Beschwerdeführer einer nationalbewussten kurdischen Familie entstamme, die sich seit Jahren für die Sache des kurdischen Volkes einsetze, und er bei der Vergabe von Arbeitsplätzen benachteiligt worden sei, seien im Hinblick auf die Aussagen des Beschwerdeführers vor dem Bundesasylamt als gesteigertes Vorbringen zu werten, um doch noch einen positiven Verfahrensausgang zu bewirken. Die Feststellungen zur Lage in der Türkei und zur Einreise seien im Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 24. Juli 2001 begründet. Aus dem festgestellten Sachverhalt folge, dass das gesamte Vorbringen des Beschwerdeführers zur Bedrohungssituation offensichtlich den Tatsachen nicht entspreche, frei erfunden sei und offenbar nur der Asylerlangung dienen solle. Der Beschwerdeführer sei in Wahrheit aus rein wirtschaftlichen Gründen geflohen. Im gesamten Verfahren habe sich auch sonst kein Hinweis auf eine Verfolgungsgefahr ergeben. Ein sonstiger Hinweis auf eine mögliche Verfolgung ergebe sich auch nicht aus der allgemeinen Lage in der Türkei im Hinblick auf die Situation der Kurden, da aus dem festgestellten Sachverhalt eine Verfolgung von Kurden, unabhängig vom Vorliegen von individuellen Gründen und ausschließlich wegen der Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe, nicht ableitbar sei. Kurden seien nicht kollektiv und nur wegen ihrer Volkszugehörigkeit staatlichen Sanktionen oder Misshandlungen ausgesetzt. Eine systematische Verfolgung der Kurden nur aus Gründen ihrer Nationalität erfolge nicht. Stichhaltige Gründe, dass im Falle der Zurückweisung oder Zurückschiebung des Beschwerdeführers das Leben oder seine Freiheit aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmen sozialen Gruppe oder seiner politischen Ansichten bedroht wäre, lägen nicht vor. Es ergäben sich auch sonst keine Anhaltspunkte, dass der Beschwerdeführer bei seiner Rückkehr mit einer Verletzung der ihm aus Art. 3 EMRK zustehenden Rechte zu rechnen hätte.
Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
Gemäß § 6 Asylgesetz sind Asylanträge als offensichtlich unbegründet abzuweisen, wenn sie eindeutig jeder Grundlage entbehren. Dies ist - ohne sonstigen Hinweis auf Verfolgungsgefahr im Herkunftsstaat - u.a. der Fall, wenn sich dem Vorbringen der Asylwerber offensichtlich nicht die Behauptung entnehmen lässt, dass ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung droht (§ 6 Z 1 Asylgesetz), oder wenn das Vorbringen der Asylwerber zu einer Bedrohungssituation offensichtlich den Tatsachen nicht entspricht (§ 6 Z 3 Asylgesetz).
Die Berufungsbehörde ist bei ihrer Entscheidung nicht an den von der Erstbehörde herangezogenen Tatbestand des § 6 Asylgesetz gebunden (vgl. z.B. das hg. Erkenntnis vom 8. April 2003, Zl. 2002/01/0449). Die belangte Behörde konnte daher, anders als die Behörde erster Instanz, für ihre Entscheidung § 6 Z 3 Asylgesetz heranziehen.
Bei der Beurteilung, ob die Voraussetzungen des § 6 Z 3 Asylgesetz erfüllt sind, ist das Vorbringen des Beschwerdeführers zur Bedrohungssituation in seiner Gesamtheit zu würdigen (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 8. Juni 2000, Zl. 99/20/0446, und vom 31. Mai 2001, Zl. 2000/20/0496). § 6 Z 3 Asylgesetz darf nur herangezogen werden, wenn dieses Vorbringen in seiner Gesamtheit "offensichtlich" nicht den Tatsachen entspricht. Eine bloß "schlichte Unglaubwürdigkeit" des Vorbringens reicht nicht aus (vgl. z.B. das hg. Erkenntnis vom 15. Mai 2003, Zl. 2002/01/0086).
Der Beschwerdeführer hat in seiner Berufung u.a. dargelegt, wegen seiner kurdischen Abstammung Verfolgung zu befürchten. Der Begründung des in Beschwerde gezogenen Bescheides kann nicht nachvollziehbar entnommen werden, weshalb die belangte Behörde (auch) dieses Vorbringen des Beschwerdeführers als "offensichtlich" nicht den Tatsachen entsprechend gewertet hat (vgl. das hg. Erkenntnis vom 24. April 2003, Zl. 2000/20/0297). Sie hat zwar das diesbezügliche Vorbringen des Beschwerdeführers näher geprüft, jedoch lediglich unter dem Gesichtspunkt eines "sonstigen Hinweises" auf Verfolgung. Damit wurde sie aber dem Erfordernis einer beweiswürdigenden Gesamtbetrachtung des Vorbringens des Beschwerdeführers nicht gerecht (vgl. das bereits genannte hg. Erkenntnis vom 8. Juni 2000). Im Übrigen hat die belangte Behörde selbst festgestellt, dass "Separatismus" und "Mitgliedschaft in einer bewaffneten Bande" kurdischstämmigen Türken "öfter" als anderen Türken "vorgeworfen" wird, was gegen das Vorliegen von "Offensichtlichkeit" im Sinne des § 6 Z 3 Asylgesetz spricht.
Zur Entscheidung der belangten Behörde nach § 8 Asylgesetz ist schließlich noch festzuhalten, dass diese auch einer Auseinandersetzung mit der vom Beschwerdeführer in der Berufung genannten Dokumentation "Von Deutschland in den türkischen Folterkeller" bedurft hätte (vgl. das hg. Erkenntnis vom 7. Juni 2001, Zl. 99/20/0368).
Aus den oben dargestellten Gründen war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 22. Oktober 2003
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2003:2002200084.X00Im RIS seit
11.11.2003