Index
41/02 Passrecht Fremdenrecht;Norm
AsylG 1997 §29 Abs1;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Steiner und die Hofräte Dr. Nowakowski und Dr. Grünstäudl als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde des B in W, geboren 1979, vertreten durch Dr. Michael Winischhofer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Falkestraße 6, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 28. Juli 2000, Zl. 217.245/4-III/12/00, betreffend § 6 Z 3 und § 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird in seinem die Entscheidung nach § 8 AsylG betreffenden Spruchteil wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben. Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, nach seinen Angaben ein Staatsangehöriger von Sierra Leone, reiste am 22. Februar 1999 in das Bundesgebiet ein und ersuchte um Asyl. Zu seinen Fluchtgründen gab er vor dem Bundesasylamt an, die Soldaten der Regierung in Sierra Leone seien im November 1998 in seinen Heimatort gekommen, um dort Leute für den Bürgerkrieg zu rekrutieren. Dem Vater des Beschwerdeführers, der sich den Soldaten nicht habe anschließen wollen, habe man eine Hand abgehackt und danach mitgenommen. Der Beschwerdeführer sei daraufhin in den Busch geflüchtet. Als ihm seine Mutter berichtet habe, dass die Soldaten im Jänner 1999 auch nach ihm gesucht und das Haus der Familie angezündet hätten, habe der Beschwerdeführer Sierra Leone verlassen.
Nach Befragen des Beschwerdeführers zu den politischen Verhältnissen im von ihm genannten Herkunftsstaat und zu den Kenntnissen seiner angegebenen Muttersprache Krio verneinte das Bundesasylamt die Glaubwürdigkeit der Angaben des Beschwerdeführers zu seiner Herkunft aus Sierra Leone und zum geschilderten Fluchtgrund. Mit Bescheid vom 14. April 2000 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers in einem ersten Spruchteil gemäß § 6 Z 3 AsylG als offensichtlich unbegründet ab und stellte in einem zweiten Spruchteil gemäß § 8 AsylG die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone fest.
In seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung betonte der Beschwerdeführer die Richtigkeit seines Vorbringens zum Bürgerkrieg in Sierra Leone, der weiterhin durch Kämpfe zwischen den Regierungstruppen und den Rebellen gekennzeichnet sei. Unter Quellenangaben führte der Beschwerdeführer aus, trotz des (im Jahr 1999 geschlossenen) Friedensabkommens zwischen den Bürgerkriegsparteien sei es auch im Jahr 2000 weiterhin zu Vergewaltigungen, Verstümmelungen und Plünderungen in Sierra Leone gekommen. Zivilisten würden "einfach entführt und praktisch versklavt". Der Beschwerdeführer zitierte Berichte einer österreichischen Tageszeitung vom 10. und 11. Mai 2000, denen zufolge britische Truppen in Sierra Leone mit der Evakuierung von Ausländern begonnen hätten und die UNO ihre zivilen Mitarbeiter in Sicherheit gebracht hätte. Schwere Kämpfe in der Stadt Masiaka hätten eine "Massenflucht" in die Hauptstadt Freetown ausgelöst, die Anzahl der von den Rebellen festgehaltenen Geiseln (der UNO) hätte sich zu diesem Zeitpunkt auf etwa 500 Personen erhöht. Auf Grund dieser Ereignisse, die nach Ansicht des Beschwerdeführers einen "Neubeginn des Bürgerkrieges" darstellten, wäre er im Fall der Rückkehr nach Sierra Leone großer Gefahr ausgesetzt.
In der Berufungsverhandlung vom 27. Juli 2000 gab der Beschwerdeführer an, er sei ohne Schulausbildung und habe in Sierra Leone als Tischler gearbeitet. Die belangte Behörde befragte den Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers nach seinen Kenntnissen über die angegebene Muttersprache Krio und über sein Wissen zu Sierra Leone.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers, soweit sie sich gegen die Asylentscheidung der Erstbehörde richtete, gemäß § 6 Z 3 AsylG und in Bezug auf die Refoulement-Entscheidung gemäß § 8 AsylG ab. In der Begründung dieses Bescheides sprach die belangte Behörde dem Beschwerdeführer die persönliche Glaubwürdigkeit "zur Gänze" ab und gelangte zusammenfassend zur Ansicht, es sei "eindeutig" zu erkennen, dass der Beschwerdeführer mangels jeglicher Kenntnis von alltagsbezogenen Fakten nicht aus Sierra Leone stamme. Abgesehen davon, dass er weder über aktive noch passive Sprachkenntnisse in Krio verfüge, wisse der Beschwerdeführer mit dem in Sierra Leone üblichen Gruß nichts anzufangen, habe die Nationalspeise dieses Staates nicht gekannt und die Preise von in Sierra Leone gebräuchlichen Alltagsprodukten wie Brot und Möbelstücken völlig falsch angegeben. So habe der Beschwerdeführer, der angeblich Tischler sei, etwa den Preis eines Sessels mit 20 Cents angegeben, obwohl diese Währungseinheit in Sierra Leone im Jahr 1998 wegen ihres geringen Wertes gar nicht mehr im Umlauf gewesen sei. Im Übrigen seien auch die Schilderungen des Beschwerdeführers zu den angeblich fluchtauslösenden Ereignissen höchst widersprüchlich. Eine detaillierte Auseinandersetzung damit erübrige sich nach Ansicht der belangten Behörde, weil schon im Hinblick auf die Unglaubwürdigkeit des behaupteten Herkunftsstaates eine sich auf diesen Staat beziehende Bedrohungssituation nicht vorliege.
Was die Begründung der Refoulement-Entscheidung betrifft, so finden sich im angefochtenen Bescheid nach Wiedergabe der maßgeblichen Rechtsvorschriften (lediglich) folgende Ausführungen:
"Da der Berufungswerber auf Grund des festgestellten Sachverhaltes nicht aus Sierra Leone stammt und ihm hinsichtlich seines auf dieses Land bezogenen Vorbringens die Glaubwürdigkeit versagt blieb, und weiters festzuhalten ist, dass weder im Verfahren hervorgekommen noch bei der Behörde notorisch bekannt ist, dass im Zeitpunkt der gegenständlichen Entscheidung im Hinblick auf das gesamte Staatsgebiet von Sierra Leone eine mit dem immer wieder aufflammenden Bürgerkrieg verbundene extreme Gefahrenlage mit besonders exzessiver und unkontrollierter Gewaltanwendung, vor allem gegenüber der Zivilbevölkerung, vorliegt, ist nicht zu erkennen, dass der Berufungswerber in Sierra Leone iSd § 57 FrG bedroht wäre."
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
Gegen die Beweiswürdigung der belangten Behörde führt die Beschwerde hauptsächlich das geringe Alter des Beschwerdeführers und dessen fehlende Schulausbildung ins Treffen. Auch unter Berücksichtigung dieser Umstände vermag der Verwaltungsgerichtshof auf Grund der ihm zukommenden Überprüfungsbefugnis (vgl. das Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 3. Oktober 1985, Zl. 85/02/0053) eine Unschlüssigkeit in der Beweiswürdigung der belangten Behörde nicht zu erkennen. Zudem hegt der Verwaltungsgerichtshof vor dem Hintergrund der erwähnten fehlenden Kenntnisse der vom Beschwerdeführer nach seinen Behauptungen in Sierra Leone gesprochenen Sprache Krio und seines im angefochtenen Bescheid aufgezeigten mangelnden Wissens über Sierra Leone keine Bedenken gegen die Ansicht der belangten Behörde, dass der Beschwerdeführer "eindeutig" (gemeint: offensichtlich) nicht aus diesem Staat stamme und dass daher sein Vorbringen zur Bedrohungssituation in Sierra Leone im Sinn des § 6 Z 3 AsylG offensichtlich tatsachenwidrig sei.
Soweit der Beschwerdeführer unter Bezugnahme auf § 29 Abs. 1 AsylG rügt, dem angefochtenen Bescheid sei eine Übersetzung der maßgeblichen Gesetzesbestimmungen nicht angeschlossen gewesen (was in der Gegenschrift auf ein Versehen zurückgeführt wird), so vermag er damit eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides nicht aufzuzeigen (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 29. März 2001, Zl. 2000/20/0473, mwN).
Gegen die Entscheidung nach § 8 AsylG wendet die Beschwerde zunächst ein, die belangte Behörde verstricke sich selbst in Widersprüche, wenn sie einerseits im Rahmen der Asylentscheidung Sierra Leone als (offensichtlich) unrichtigen Herkunftsstaat des Beschwerdeführers bezeichne, andererseits aber die Zulässigkeit u. a. der Abschiebung des Beschwerdeführers in Bezug auf diesen Staat prüfe. Dem ist, worauf die Gegenschrift zutreffend hinweist, die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entgegen zu halten, nach der unter dem Begriff des Herkunftsstaates im Sinn des § 8 AsylG derjenige Staat zu verstehen ist, hinsichtlich dessen bei der Entscheidung über den Asylantrag das Bestehen einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr zu prüfen ist. Im Fall einer evident falschen Darstellung einer Bedrohungssituation in einem vom Asylwerber fälschlich als seinen Herkunftsstaat bezeichneten Staat ist die Asylbehörde ohne ein weiteres konkretes Vorbringen oder sonstigen konkreten Hinweisen nicht verhalten, zu ermitteln, welcher Staat der (wahre) Herkunftsstaat des Asylwerbers sein könnte und ob er dort allenfalls im Sinne der Flüchtlingskonvention bedroht sein könnte (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 16. April 2002, Zl. 2000/20/0131, mwN).
Zur Refoulement-Entscheidung macht der Beschwerdeführer aber auch geltend, er habe in der Berufung eingehend die aktuellen Zustände in Sierra Leone geschildert und die belangte Behörde habe sich über diese Angaben im angefochtenen Bescheid hinweggesetzt. So sei die belangte Behörde "ohne jede Begründung" zum Ergebnis gelangt, dass in Sierra Leone trotz des nach ihren Angaben immer wieder aufflammenden Bürgerkrieges eine extreme Gefahrenlage der Zivilbevölkerung nicht vorliege.
Dieses Vorbringen führt die Beschwerde zum Erfolg.
Wie erwähnt hat der Beschwerdeführer in der Berufung unter Anführung von Berichtsquellen, darunter eine österreichische Tageszeitung, das Wiederaufflammen des Bürgerkrieges in Sierra Leone im Mai 2000 und die damit verbundene Gefahr für die Zivilbevölkerung und deren Massenflucht in die Hauptstadt Freetown geschildert (vgl. zum vorübergehenden Zusammenbruch des Friedensprozesses in Sierra Leone im Mai 2000 sowie zu den dadurch bewirkten neuen Strömen von Binnenflüchtlingen und der Verschärfung der Situation in den Lagern Sierra Leones die hg. Erkenntnisse vom 21. November 2002, Zlen. 2000/20/0313 und 2000/20/0330). Auch im vorgelegten Verwaltungsakt der belangten Behörde finden sich Berichte, die entsprechende Angaben beinhalten. So scheint die aktenkundige Unterlage "Chronologie der Ereignisse in Sierra Leone" nicht nur wesentliche Punkte des Berufungsvorbringens des Beschwerdeführers über die Situation in Sierra Leone im Jahr 2000 zu bestätigen. Vielmehr ist dieser Darstellung der Ereignisse in Sierra Leone - in Bezug auf Juli 2000 - u.a. zu entnehmen, dass es in den von Rebellen kontrollierten Gebieten vermehrt zu Exekutionen, Vergewaltigungen und Rekrutierungen von Kindern sowie zu Behinderungen humanitärer Organisationen (in diesem Zusammenhang ist in dieser Unterlage von 40.000 inländischen Flüchtlingen die Rede) gekommen ist.
Indem es die belangte Behörde unterlassen hat, sich im angefochtenen Bescheid vom 28. Juli 2000 mit diesen Ereignissen auseinander zu setzen, belastete sie die Refoulement-Entscheidung mit einem wesentlichen Verfahrensmangel. Der angefochtene Bescheid war daher in seinem die Entscheidung nach § 8 AsylG betreffenden Teil gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 22. Oktober 2003
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2003:2000200421.X00Im RIS seit
14.11.2003