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001 Verwaltungsrecht allgemein;Norm
ASVG §539;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bernard und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Sulyok, Dr. Strohmayer und Dr. Köller als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Müller, über die Beschwerde der S Speditionsgesellschaft m.b.H. in P, vertreten durch Dr. Longin Josef Kempf und Dr. Josef Maier, Rechtsanwälte in 4722 Peuerbach, Steegenstraße 3, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Oberösterreich vom 16. November 1998, Zl. SV(SanR)-410035/3-1998- Ru/Ma, betreffend Nachsicht der Verzugszinsen gemäß § 59 Abs. 2 ASVG (mitbeteiligte Partei: Oberösterreichische Gebietskrankenkasse, 4010 Linz, Gruberstraße 77), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz) hat der beschwerdeführenden Gesellschaft Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid hat die belangte Behörde (in Abweisung eines diesbezüglichen Einspruches der beschwerdeführenden Partei) ausgesprochen, dass dem Antrag der beschwerdeführenden Partei, die Verzugszinsen in der Höhe von S 1,202.548,70 gemäß § 59 Abs. 2 ASVG nachzusehen, nicht stattgegeben werde.
Die mitbeteiligte Partei habe ihren erstinstanzlichen Bescheid im Wesentlichen damit begründet, dass eine im Jahr 1995 durchgeführte Beitragsprüfung (über den Zeitraum 1990 bis 1994) eine Nachverrechnung von Sozialversicherungsbeiträgen in der Höhe von insgesamt S 8,615.505,46 (inklusive Beitragszuschlägen) ergeben hätte. Auf Grund der angespannten finanziellen Situation der beschwerdeführenden Partei wären zur Abstattung dieses Nachverrechnungsbetrages Ratenzahlungen bewilligt worden. Im Rahmen der Ratenvereinbarung wären Verzugszinsen in der Höhe von S 1,202.548,70 "angefallen". Das Ersuchen der beschwerdeführenden Partei, diese Verzugszinsen nachzusehen, hätte die mitbeteiligte Partei mit Schreiben vom 25. November 1997 abgelehnt. Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine positive Ermessensentscheidung wären nicht gegeben, weil die Einhebung der Verzugszinsen die wirtschaftlichen Verhältnisse der beschwerdeführenden Partei nicht gefährden würden und es sich auch nicht nur um einen kurzfristigen Zahlungsverzug handeln würde. Die Behauptung der beschwerdeführenden Partei, ihr wäre von der mitbeteiligten Partei anlässlich der Ratenvereinbarung für den Fall ordnungsgemäßer Tilgung des Rückstandes eine Nachsicht der Verzugszinsen zugesichert worden, würde jeder Grundlage entbehren.
Den vorgelegten Verwaltungsakten ist in diesem Zusammenhang zu entnehmen, dass anlässlich der Beitragsprüfung vom 2. März 1995 "Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von S 8,615.505,46" nachverrechnet wurden. Dieser Betrag bezieht sich nicht nur auf die beschwerdeführende Partei, die "S. Speditionsgesellschaft m.b.H.", sondern auch auf die "S. Transportvermittlungsges.m.b.H.", die "M. Ges.m.b.H., die "K. & Co Ges.m.b.H." und die "S. Güterbeförderung Ges.m.b.H.". Auf Ersuchen der "S. Transportvermittlungsges.m.b.H." vom 16. Februar 1995 (über deren Verhältnis zur beschwerdeführenden Partei weder aus dem angefochtenen Bescheid noch aus den vorgelegten Verwaltungsakten Klarheit zu gewinnen ist) betreffend "Ratenzahlung für Gesamt-Beitragsnachverrechnung von ca. ÖS 9,5 Mio. 1990 bis 1994" um Genehmigung von Ratenzahlungen unter "gleichzeitiger Annullierung der anfallenden Ratenzinsen" kam es am 27. März 1995 zu einer Besprechung betreffend "Firmengruppe S. Gütertransporte", in der die von "S." zu leistende monatliche Abstattungsrate mit S 350.000,-- festgesetzt wurde. Dabei wurde "mit der Entlastung jenes Kontos mit der höchsten Beitragsnachverrechnung" (betreffend die Kontonummer der S. Speditionsges.m.b.H.) begonnen. In der schriftlichen Bestätigung der mitbeteiligten Partei an die "S. Transportvermittlungsges.m.b.H." vom 30. März 1995 wird Folgendes ausgeführt:
"Diese Vereinbarung beginnt mit 15.5.1995 und wird zunächst befristet bis 30.4.1996. Voraussetzung dafür sowie für eine allfällige Verlängerung über April 1996 hinaus ist, daß
1. die laufenden Beträge in der richtigen Höhe, d.h. inklusive der bei den Beitragsprüfungen der letzten Jahre immer wieder zur Nachverrechnung gebrachten Überstundenlöhne sowie sonstiger Differenzen erstellt werden und
2. die fristgerechte Überweisung der auf diese Weise richtig berechneten Beiträge.
Wir werden uns spätestens durch eine Anfang März 1996 durchzuführende Beitragsprüfung überzeugen, ob Sie diese Auflagen eingehalten haben.
Sollten wir während der befristeten Laufzeit oder anläßlich der nächsten Beitragsprüfung weitere Unregelmäßigkeiten feststellen oder Sie diese Ratenvereinbarung nicht einhalten, werden wir den gesamten Nachverrechnungsbetrag ohne weiteren Zahlungsaufschub fällig stellen.
Über Ihr Ersuchen um Nachsicht der während dieser Vereinbarung anfallenden Verzugszinsen kann erst entschieden werden, wenn die Kapitalschuld getilgt ist.
Wir ersuchen Sie, sowohl die Raten als auch die jeweils neu anfallenden Beiträge pünktlich zu entrichten und weisen darauf hin, daß die monatlichen Teilzahlungen auf das dafür neu geschaffene Verrechnungskonto ... zu leisten sind."
Im Einspruch - so heißt es in der Begründung des angefochtenen Bescheides weiter - habe die beschwerdeführende Partei (u.a.) vorgebracht, dass durch die Einhebung der Verzugszinsen eine wirtschaftliche Erschwernis bzw. Gefährdung gegeben wäre, zumal Kredite in Anspruch genommen werden müssten. Bereits im Schreiben vom 19. November 1996 habe die beschwerdeführende Partei festgehalten, der damalige Sachbearbeiter hätte ihr zugesagt, dass bei einer reibungslosen Tilgung "die Verzugszinsen mit Bezahlung der letzten Rate wieder gutgeschrieben würden".
Die belangte Behörde führte weiter aus, die bloße Behauptung der beschwerdeführenden Partei, durch die Einhebung von Verzugszinsen wirtschaftlich gefährdet zu sein, stelle keine tatsächliche Gefährdung im Sinne des § 59 Abs. 2 ASVG dar. Beweise für eine tatsächliche konkrete Gefährdung des Unternehmens der beschwerdeführenden Partei seien nicht beigebracht bzw. nicht einmal angeboten worden. Auch der zweite Tatbestand (des § 59 Abs. 2 ASVG) sei nicht erfüllt, weil bei einer neuerlichen Beitragsprüfung bei der beschwerdeführenden Partei weitere Unregelmäßigkeiten festgestellt worden seien. Die Voraussetzungen, eine positive Entscheidung im Sinne des § 59 Abs. 2 ASVG zu fällen, lägen daher nicht vor.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde.
Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1. Gemäß § 59 Abs. 2 erster Satz ASVG in der Fassung der 29. Novelle, BGBl. Nr. 31/1973 (der zweite Satz dieser Gesetzesstelle kommt in Anbetracht der Länge des Zeitraumes der Ratenzahlungen sachverhaltsbezogen nicht in Betracht), lautet:
"Der zur Entgegennahme der Zahlung berufene Versicherungsträger kann die Verzugszinsen herabsetzen oder nachsehen, wenn durch ihre Einhebung in voller Höhe die wirtschaftlichen Verhältnisse des Beitragsschuldners gefährdet wären."
Eine Herabsetzung oder Nachsicht der Verzugszinsen kommt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nur dann (ausnahmsweise) in Betracht, wenn gerade durch deren Einhebung eine Gefährdung der wirtschaftlichen Verhältnisse eintreten würde, d. h. wenn eine solche Gefährdung nicht schon durch andere Umstände (wie z.B. die Einhebung der Sozialversicherungsbeiträge) eingetreten ist. Eine Nachsicht oder Herabsetzung der Zinsen ist somit nicht schon bei bloß (anderweitig verursachter) angespannter wirtschaftlicher Lage des Unternehmens oder immer dann zulässig, wenn ein Unternehmen Verluste schreibt, sondern nur dann, wenn gerade durch die Einhebung der Verzugszinsen eine konkrete wirtschaftliche Gefährdung eintreten würde, die ansonsten nicht gegeben wäre. Die Gefährdung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Beitragsschuldners muss aber nicht notwendiger Weise den Existenzverlust des Unternehmens zur Folge haben. Eine Gefährdung kann sich etwa daraus ergeben, dass zur Aufbringung der Mittel für die Entrichtung der Verzugszinsen ein Kredit aufgenommen werden musste oder muss, dessen Rückzahlung zu einer wirtschaftlichen Gefährdung führt oder führen könnte, oder dass wegen der Bezahlung der Verzugszinsen die hiefür aufgewendeten Mittel in anderer Weise, etwa zur Tilgung anderer Schulden oder für betriebsnotwendige Investitionen nicht eingesetzt werden könnten und daraus eine wirtschaftliche Gefährdung erwachsen ist oder erwachsen könnte. Der Umstand allein, dass das Unternehmen während einer längeren Verfahrensdauer, während der Beiträge oder schon die Verzugszinsen eingehoben wurden, "überlebt" hat, steht der Nachsicht von Verzugszinsen nicht im Wege, weil dies nicht zwangsläufig bedeutet, dass nicht dennoch durch die Einhebung der Verzugszinsen in voller Höhe die wirtschaftlichen Verhältnisse des Beitragsschuldners gefährdet sein könnten. In diesem Zusammenhang hat der Verwaltungsgerichtshof etwa dem Verhältnis zwischen dem Betrag der Verzugszinsen und dem Betrag der gesamten Verbindlichkeiten sowie dem Umstand Bedeutung beigemessen, ob der angestrebte Verzugszinsennachlass zu einer wesentlichen Sanierung des Unternehmens beitragen könnte. Bei einer Entscheidung über die Herabsetzung oder Nachsicht der Verzugszinsen ist nicht auf die Sachlage im Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen, sondern auf die Sachlage und Rechtslage im Zeitpunkt der Bescheiderlassung. (Vgl. zum Ganzen die hg. Erkenntnisse vom 20. Mai 1987, Zl. 87/08/0037, und vom 22. April 1997, Zl. 95/08/0243, mwN).
2.1. Rechtswidrig soll der angefochtene Bescheid dem Beschwerdevorbringen zufolge sein, weil die beantragte Nachsicht entgegen der ursprünglichen Zusage und trotz Erfüllung der gestellten Bedingungen (Tilgung der nachverrechneten Kapitalschuld) nicht gewährt worden sei. Dadurch, dass die Nachsicht der Verzugszinsen im Widerspruch zur erteilten Zusage verweigert worden sei, sei es zu einer erheblichen Gefährdung der wirtschaftlichen Verhältnisse der beschwerdeführenden Partei gekommen. Die belangte Behörde hätte den die Nachsicht versprechenden Prüfer der mitbeteiligten Partei einvernehmen müssen.
2.2. Eine Nachsicht der Verzugszinsen im Sinne des § 59 Abs. 2 ASVG kann nur durch einen Bescheid erfolgen. Soweit die beschwerdeführende Partei aus der (strittigen) Zusage eines Prüfers der mitbeteiligten Partei, die Verzugszinsen nachzusehen, einen Rechtsanspruch auf Nachsicht der Verzugszinsen im Sinne des § 59 Abs. 2 ASVG ableiten möchte, ist sie darauf zu verweisen, dass Vereinbarungen der hier in Betracht zu ziehenden Art zwischen dem Beitragsschuldner und der mitbeteiligten Partei im öffentlichen Recht nur wirksam wären, wenn ihr Abschluss auf einer gesetzlichen Ermächtigung beruhte. Eine solche Ermächtigung zum Abschluss von Einzelvereinbarungen mit Pflichtversicherten zu deren Vorteil besteht jedoch nicht (vgl. das hg. Erkenntnis vom 3. Oktober 2002, Zl. 97/08/0594, mwN). Daher kann dahin gestellt bleiben, ob der Beitragsprüfer der mitbeteiligten Partei die behauptete Zusage gemacht hat. Auch soweit nach dem Beschwerdevorbringen gerade die Nichteinhaltung der erwähnten Zusage eine Gefährdung der wirtschaftlichen Verhältnisse der beschwerdeführenden Partei verursacht haben soll, waren Erhebungen über das Vorliegen einer solchen Zusage nicht erforderlich, weil es auf diesen Umstand nach dem Gesagten (Pkt. 1) nicht ankommt.
3.1. Die beschwerdeführende Partei bringt weiters vor, die anlässlich der Beitragsnachverrechnung (in Absprache mit der Bank) ausgehandelte Ratenvereinbarung habe die äußerste wirtschaftlich mögliche und gerade noch tragbare Zahlungskondition dargestellt. Die belangte Behörde hätte Erhebungen über die wirtschaftlichen Verhältnisse der beschwerdeführenden Partei durchführen und entsprechende Feststellungen treffen müssen. Sie hätte auch den die Nachsicht versprechenden Prüfer der mitbeteiligten Partei einvernehmen müssen, weil dadurch auch eine konkrete Prüfung der Gefährdung der wirtschaftlichen Verhältnisse der beschwerdeführenden Partei im Sinne ihres Vorbringens ermöglicht worden wäre.
3.2.1. Die Behörde hat den entscheidungsrelevanten Sachverhalt zwar von Amts wegen festzustellen, die durch die Einhebung von Verzugszinsen bewirkte wirtschaftliche Gefährdung darzulegen obliegt im Verfahren aber dem Beitragsschuldner (vgl. dazu und zu den Anforderungen an eine solche Darlegung wiederum die Erkenntnisse Zl. 87/08/0037 und Zl. 95/08/0243, sowie das hg. Erkenntnis vom 22. September 1988, Zl. 88/08/0183). Demgemäß hat die Behörde den Beitragsschuldner aufzufordern und ihm Gelegenheit zu geben, seine wirtschaftlichen Verhältnisse umfassend und entsprechend belegt offen zu legen, um so bei der Entscheidung über die Nachsicht der Verzugszinsen auf die wirtschaftliche Lage des Beitragsschuldners Bedacht nehmen zu können. Erst wenn der Beitragsschuldner nach einer solchen Aufforderung seiner dadurch ausgelösten Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen ist, besteht für die Behörde keine Verpflichtung mehr, im Rahmen der Ermessensübung auf die wirtschaftliche Lage des Beitragsschuldners Bedacht zu nehmen (vgl. das die Vorschreibung eines Beitragszuschlages gemäß § 113 Abs. 1 ASVG betreffende, gleichermaßen auf Entscheidungen nach § 59 Abs. 2 ASVG zutreffende hg. Erkenntnis vom 5. Juni 2002, Zl. 99/08/0138, mwN, sowie nochmals das Erkenntnis Zl. 87/08/0037).
3.2.2. Im Beschwerdefall gehen alle beteiligten Parteien von Verzugszinsen in der Höhe von S 1,202.548,70 aus. Nach der Aktenlage resultiert dieser Betrag aber aus Beitragsforderungen, die nicht (bloß) die Beschwerdeführerin, sondern auch andere Unternehmen der "Firmengruppe S. Gütertransporte" betreffen. Da nicht feststeht, ob überhaupt und bejahendenfalls in welcher Höhe Verzugszinsen auf die Beschwerdeführerin entfallen, durfte die belangte Behörde über die Nachsicht dieser Forderungen nicht gegenüber der Beschwerdeführerin absprechen. Der angefochtenen Bescheid leidet deshalb an Rechtswidrigkeit des Inhaltes, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war. Hinsichtlich jener Verzugszinsen, die nicht die Beschwerdeführerin betreffen, wären allfällige Nachsichtsansuchen von den (jeweils) betreffenden Unternehmen zu stellen, welche dann auch deren wirtschaftliche Situation darzustellen hätten.
Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG und der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003. Stempelgebührenersatz war wegen der sachlichen Abgabenfreiheit (§ 110 ASVG) nicht zuzusprechen.
Wien, am 5. November 2003
Schlagworte
Ermessen Rechtsgrundsätze Allgemein Anwendbarkeit zivilrechtlicher Bestimmungen Verträge und Vereinbarungen im öffentlichen Recht VwRallg6/1 Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung MitwirkungspflichtEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2003:1999080004.X00Im RIS seit
03.12.2003