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40/01 Verwaltungsverfahren;Norm
AsylG 1997 §23;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Steiner und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Grünstäudl und Dr. Berger als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde des S in M, geboren 1978, vertreten durch Dr. Johann Grandl, Rechtsanwalt in 2130 Mistelbach, Hauptplatz 18, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 6. April 2000, Zl. 207.219/0-I/03/99, betreffend § 7 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein in Kabul geborener Staatsangehöriger von Afghanistan und Angehöriger der tadschikischen Volksgruppe, reiste am 17. September 1998 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 18. September 1998 Asyl. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 27. Oktober 1998 gab er an, sein Vater sei unter Najibullah Oberst gewesen, habe sich nach der Machtübernahme der Mudjahedin im Jahr 1992 zur Ruhe gesetzt und in der Folge zunächst - zu ergänzen: auch nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban im September 1996 - keine Schwierigkeiten gehabt. An einem Abend im August 1998 hätten Taliban das Haus gestürmt und den Vater des Beschwerdeführers unter dem unberechtigten Vorwurf, aus der Militärzeit noch Waffen zu haben, festgenommen. Der Beschwerdeführer selbst habe fliehen und sich bei einer Tante verstecken können. Von seiner Mutter habe er erfahren, dass auch er sich melden und Waffen abgeben solle und die Taliban nach ihm suchten. Etwa zwei Wochen später habe er das Land verlassen. Einen Grund dafür, warum die Taliban "erst so lange nach der Machtübernahme in Kabul" gekommen seien, könne er nicht nennen. Im Falle einer Rückkehr fürchte er, von den Taliban hingerichtet oder zur Arbeit als Drogenkurier oder "Killer" gezwungen zu werden. In Kabul sei allgemein bekannt, dass die Taliban mit "ihnen unlieben Personen" derart umgingen.
Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom 15. Dezember 1998 den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG ab, weil ihm das Vorbringen als unglaubwürdig erschien, erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan aber mit Rücksicht auf die dort herrschende allgemeine Lage gemäß § 8 AsylG für nicht zulässig.
In seiner Berufung gegen den ersten Spruchpunkt dieser Entscheidung bekämpfte der Beschwerdeführer die vom Bundesasylamt herangezogenen Argumente gegen seine Glaubwürdigkeit.
Die belangte Behörde führte am 10. März 2000 eine mündliche Berufungsverhandlung durch, in der sie den Beschwerdeführer im Beisein eines Sachverständigen ergänzend einvernahm.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung gemäß § 7 AsylG ab. Sie begründete diese Entscheidung damit, dass ihr das Vorbringen des Beschwerdeführers über den Vorfall im August 1998 im Gegensatz zu den Behauptungen über den militärischen Rang seines Vaters unter Najibullah nicht als glaubwürdig erscheine und eine Verfolgung des seinen Angaben zufolge nie politisch tätig gewesenen Beschwerdeführers auf Grund seiner tadschikischen Volksgruppenzugehörigkeit "kaum" wahrscheinlich sei.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
1. Vorweg ist festzuhalten, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid anhand der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen hat (vgl. in diesem Zusammenhang etwa die hg. Erkenntnisse vom 12. Mai 1999, Zl. 98/01/0455, und vom 20. Oktober 1999, Zl. 99/01/0117).
2. Die Auseinandersetzung der belangten Behörde mit der Frage einer dem Beschwerdeführer drohenden Verfolgung wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit lautet - ungekürzt - wie folgt:
"Gleichwohl der Asylwerber - wie in der Verhandlungsschrift gutachterlich festgehalten - mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in Afghanistan der tadschikischen Volksgruppe zugerechnet wird, kann daraus nicht geschlossen werden, dass er deswegen einer maßgebenden Verfolgungsgefahr ausgesetzt ist. Es ist zwar nicht zu bestreiten, dass - wie der Gutachter im Rahmen der mündlichen Verhandlung festgehalten hat - die derzeitigen Machthaber in Afghanistan, die hauptsächlich Paschtunen sind, den Angehörigen anderer Ethnien mit Skepsis begegnen, doch entspricht die vorgebrachte Furcht des Asylwerbers vor Verfolgung der Sorge aller Afghanen und besonders nichtpaschtunischer Ethnien, die tendenziell mit den Taliban nicht einverstanden sind. Vor diesem Hintergrund ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Asylwerber aus dem Grund seiner Volkszugehörigkeit tatsächlich ein Opfer von Verfolgung in Afghanistan werden könnte, kaum gegeben."
Diese Überlegung ist gedanklich nicht nachvollziehbar, weil der zugrunde gelegte Umstand, dass die Furcht des Beschwerdeführers von allen anderen "tendenziell mit den Taliban nicht einverstandenen" Staatsangehörigen Afghanistans geteilt werde, nicht den Schluss erlaubt, dass eine Verfolgung im hier maßgeblichen Beurteilungszeitraum kaum wahrscheinlich gewesen sei. Die belangte Behörde hat es darüber hinaus verabsäumt, die in der Verhandlung hervorgekommenen familiären Wurzeln des Beschwerdeführers in Karabagh und somit nach Ansicht des Sachverständigen einer der "Kernregionen der Tadschiken", womit ein vergleichsweise größeres Risiko verbunden sei, in die Beurteilung einzubeziehen (vgl. die Erwähnung ähnlicher Ausführungen des Sachverständigen in dem Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2001/20/0663, und das Erkenntnis vom 22. Oktober 2003, Zl. 2000/20/0428, betreffend einen Tadschiken aus dem Panshir). Es ist aber auch anzumerken, dass die protokollierten Einschätzungen des Sachverständigen, denen die belangte Behörde folgen wollte, nicht näher begründet waren und das bloße Vertrauen auf die Kompetenz des Sachverständigen kein Grund dafür sein konnte, von der Heranziehung von Länderberichten - wie dies im vorliegenden Fall geschehen ist - zur Gänze Abstand zu nehmen (vgl. die bei Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I2, E 150 ff zu § 52 AVG, dargestellte hg. Rechtsprechung über die Unbrauchbarkeit bloßer Meinungsäußerungen eines Sachverständigen als Beweismittel). Die Beschwerde rügt dieses Vorgehen mit Recht und verweist auf eine Mehrzahl zur Zeit der Bescheiderlassung vorliegender Berichte über Repressalien der Taliban gegen ethnische Minderheiten (vgl. auch das Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2000/20/0258).
3. Die demnach nicht fehlerfreie Verfolgungsprognose der belangten Behörde in Bezug auf die (bloße) Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides - auch aus der Sicht der belangten Behörde - aber nur für den Fall von Bedeutung, dass die Beweiswürdigung hinsichtlich der vom Beschwerdeführer behaupteten Vorgänge im August 1998 der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle standhält. Diese Beweiswürdigung stützt sich nicht etwa auf Widersprüche in den Angaben des Beschwerdeführers, sondern auf den schon vom Bundesasylamt u.a. herangezogenen Gesichtspunkt der "zu späten" Verhaftung des Vaters des Beschwerdeführers. Die belangte Behörde hält dem Beschwerdeführer vor, sein Vater habe nach dem Machtverlust Najibullahs "immerhin einen Zeitraum von sechs Jahren hindurch" (also unter Einrechnung der Zeit vor der Machtergreifung der Taliban in Kabul) bzw. nach der Besetzung Kabuls durch die Taliban "auch in den folgenden rund zwei Jahren keinerlei Schwierigkeiten" gehabt und der Beschwerdeführer könne nicht angeben, was die späte Waffensuche bei seinem Vater ausgelöst habe. Dieser von der belangten Behörde sowohl in der Bescheidbegründung als auch in der Gegenschrift jeweils in mehrfacher Wiederholung ins Treffen geführte Gesichtspunkt soll den Schluss rechtfertigen, dass der Beschwerdeführer in Bezug auf die von ihm behaupteten Vorfälle nicht die Wahrheit gesagt habe.
Dem gegenüber entspricht es dem historischen Allgemeinwissen, dass die Konsolidierung einer Herrschaft - wie sie bei den Taliban in Bezug auf Kabul für den Zeitraum von September 1996 bis August 1998 anzunehmen ist - statt eines Nachlassens von Maßnahmen gegen wirkliche oder vermeintliche Gegner oder sonst missliebige Personen auch die gegenteilige Wirkung haben kann. Vom Asylwerber kann auch nicht verlangt werden, dass er die Glaubwürdigkeit seines Vorbringens durch eine behauptete Kenntnis der Motive, die den Verfolger zur Wahl eines bestimmten Zeitpunktes bewogen haben, zu untermauern versucht oder Vermutungen darüber anbietet, ob etwa im vorliegenden Fall eine gezielte Beschuldigung oder eine gegenüber bestimmten Personengruppen oder nach anderen allgemeinen Gesichtspunkten angeordnete Maßnahme anzunehmen sei. Überlegungen zur objektiven Wahrscheinlichkeit des Behaupteten hätten vielmehr von der Berichtslage in Bezug auf vergleichbare Vorfälle ausgehen müssen. Zur Plausibilität des Vorbringens über den behaupteten Vorfall im August 1998 hat die belangte Behörde, obwohl es sich dabei um den zentralen Gesichtspunkt in der Begründung des angefochtenen Bescheides handelt, aber auch keine Fragen an den in der Berufungsverhandlung anwesenden Sachverständigen gestellt (vgl. die Wiedergabe von Ausführungen des Sachverständigen über eine landesweite, mit zahlreichen Verhaftungen verbundene Waffensuche der Taliban im Jahr 1998 in dem mit dem hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2001/20/0663, aufgehobenen Bescheid der belangten Behörde).
Die Hilfsargumente der belangten Behörde in Bezug auf das Aussageverhalten des Beschwerdeführers betreffend seinen Cousin in Deutschland, seine zunächst mit ihm nach Österreich gekommene Schwester und seine in Pakistan zurückgelassene Mutter sind von vornherein nicht geeignet, die Beweiswürdigung allein zu tragen und beruhen hinsichtlich der Schwester - die wohl als einzige von diesen Personen als "Zeugin" in Betracht gekommen wäre - auf der nicht näher begründeten Unterstellung, die Behauptung des Beschwerdeführers, ihren Aufenthalt nicht zu kennen, entspreche nicht der Wahrheit.
Dass es sich gegebenenfalls nur um eine "legitime polizeiliche Waffensuche" der Taliban und nicht - zumindest auch - um Verfolgung wegen Unterstellung einer gegnerischen Gesinnung gehandelt hätte, hat die belangte Behörde im vorliegenden Fall nicht angenommen (vgl. die Wiedergabe einer solchen Einschätzung in dem hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2001/20/0230). Ausgehend von der Annahme, die behaupteten Maßnahmen gegen den Vater des Beschwerdeführers seien in Wahrheit nicht gesetzt worden, hat sie sich auch mit der Praxis der Taliban in Bezug auf mögliche "Sippenhaftung" nicht mehr auseinandergesetzt und nicht den Versuch unternommen, die Behauptungen über die persönliche Betroffenheit des Beschwerdeführers einer gesonderten Beweiswürdigung zu unterziehen.
Der angefochtene Bescheid war daher unabhängig von den Ausführungen der belangten Behörde über die geringe Wahrscheinlichkeit einer bloß ethnisch motivierten Verfolgung des Beschwerdeführers gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 26. November 2003
Schlagworte
Anforderung an ein GutachtenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2003:2000200269.X00Im RIS seit
31.12.2003