TE Vwgh Erkenntnis 2003/12/17 2000/20/0512

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Veröffentlicht am 17.12.2003
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1997 §23;
AsylG 1997 §28;
AsylG 1997 §7;
AVG §60;
FlKonv Art1 AbschnC Z5;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Steiner und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Grünstäudl und Dr. Berger als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde des A, geboren 1971, vertreten durch Dr. Eva Maria Barki, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Landhausgasse 4, gegen den am 4. Oktober 2000 verkündeten und am 11. Oktober 2000 schriftlich ausgefertigten Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates, Zl. 209.869/0- IV/11/99, betreffend § 7 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der am 20. März 1971 in M geborene Beschwerdeführer, ein der kurdischen Volksgruppe angehörender Staatsbürger der Türkei, reiste am 29. Dezember 1994 von Istanbul kommend über den Flughafen Wien-Schwechat mit seinem Reisepass legal nach Österreich ein. Er verfügte über einen auf Grund der Einladung seines in Wien wohnhaften Bruders bzw. seiner Schwägerin von der österreichischen Botschaft in Ankara ausgestellten, vom 28. Dezember 1994 bis 27. Jänner 1995 gültigen Touristensichtvermerk.

Der Beschwerdeführer stellte am 2. Jänner 1995 einen Asylantrag und brachte vor, er stamme aus dem Dorf E in der Provinz Tunceli, einem von Kurden bewohnten Ort in Ostanatolien. Er machte als Fluchtgrund Unterdrückungsmaßnahmen und Übergriffe der Soldaten gegen die Kurden in seinem Heimatdorf geltend. Die Soldaten seien "zum Beispiel" fünf- bis sechsmal im Monat in "unsere" Häuser gekommen, hätten sie (die Bewohner des Ortes) mit Stöcken geschlagen und mit kaltem Wasser angeschüttet, weil sie Kurden seien und "die Guerilla" unterstützten. Die Überfälle hätten seit 1979 stattgefunden, seien aber in den beiden letzten Jahren "besonders schlimm" geworden und hätten cirka zehnmal im Monat im Haus des Beschwerdeführers stattgefunden. Einmal sei der Beschwerdeführer mit verbundenen Augen aus seinem Haus geführt und abseits des Dorfes von Soldaten mit Stöcken verprügelt worden. Ein anderes Mal sei er nach einer Ausweiskontrolle in M auf der Wachstube von Soldaten geprügelt worden, weil er Kurde sei und angeblich die PKK unterstütze. Im Zusammenhang mit den Überfällen sei auch sein Cousin M am 28. August 1994 von Soldaten aus dem Haus getrieben, auf dem Dorfplatz erschossen und einem anderen Cousin namens B sei bei diesem Vorfall von einem Soldaten "die Hand abgetrennt" worden. Am 16. November 1994 sei "unser" Haus von den Soldaten angezündet worden, um die Familie des Beschwerdeführers zu vertreiben. Seither hätten sie kein Quartier mehr gehabt. Insgesamt seien im Dorf zwei Häuser in Brand gesetzt worden, und zwar derjenigen Bewohner, die unter dem Verdacht gestanden seien, "die Guerilla am meisten" zu unterstützen. Die Nahrungsmittel seien für Kurden beschränkt und ihnen von den Soldaten auch regelmäßig abgenommen worden, sodass die Familie des Beschwerdeführers (acht Personen) nie genug Nahrung gehabt habe. Auch das sei ein Grund für sein Asylansuchen. Der Beschwerdeführer sei der Meinung, dass es für einen Kurden, den man bei einer Ausweisleistung schon an seinem Geburtsort erkenne, in der gesamten Türkei keinen sicheren Ort vor Verfolgung gebe.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 25. Jänner 1995 wurde der Asylantrag des Beschwerdeführers nach § 3 des Asylgesetzes 1991 abgewiesen. Das Bundesasylamt hielt das Vorbringen des Beschwerdeführers (auch wegen seiner legalen Ausreise) nicht für glaubwürdig, schätzte den Beschwerdeführer infolge seiner "Probleme mit Quartier und Lebensunterhalt" als Wirtschaftsflüchtling ein und verneinte eine generelle Verfolgungsgefahr für Kurden in der gesamten Türkei.

In der dagegen erhobenen Berufung machte der Beschwerdeführer geltend, der eigentlich fluchtauslösende Vorfall vom 28. August 1994 sei vom Bundesasylamt nicht (offenbar gemeint: nicht im Einzelnen) protokolliert worden, weil es ihn - als nicht gegen den Beschwerdeführer gerichtet - für nicht relevant erachtet habe. An dem genannten Tag seien der Beschwerdeführer, M (nun als Onkel des Beschwerdeführers bezeichnet) und dessen Sohn B zwischen 21.00 und 22.00 Uhr nach der Arbeit auf dem Weg von M nach Hause von Soldaten beschossen worden, wobei der Onkel getötet und der Beschwerdeführer nur leicht verletzt worden sei; der Cousin habe einen Arm verloren. Es sei dies nicht der erste Überfall auf die Familie gewesen. Zum Beleg für diesen Vorfall legte der Beschwerdeführer die beglaubigte Übersetzung eines Auszuges aus einem Artikel einer türkischen Wochenzeitschrift von Anfang Jänner 1995 vor. Im Übrigen wiederholte der Beschwerdeführer die bereits vor dem Bundesasylamt geschilderten Vorfälle, verwies im Einzelnen auf deren Asylrelevanz und trat unter Hinweis auf neuere Lageberichte der Auffassung entgegen, Kurden seien in der Türkei nicht verfolgt. Die Übergriffe der türkischen Behörden hätten ein derartiges Ausmaß erreicht, dass etwa die deutsche Regierung im Einklang mit anderen westlichen Ländern beschlossen habe, Kurden nicht mehr in die Türkei abzuschieben.

Der die Berufung abweisende Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 3. März 1995 wurde mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 11. September 1996, Zl. 95/20/0217, (primär) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben, weil die Berufungsbehörde, soweit sie von den Angaben des Beschwerdeführers ausgegangen war, zu Unrecht deren Asylrelevanz verneint habe. Dem Vorfall vom 28. August 1994 komme im Gesamtzusammenhang jedenfalls Bedeutung zu.

Der Beschwerdeführer wurde am 19. November 1996 über Auftrag der Berufungsbehörde vom Bundesasylamt ergänzend einvernommen. Eingangs erwähnte er, dass eine Tante vor drei Tagen in M von Soldaten erschossen worden sei. Im Übrigen wiederholte der Beschwerdeführer im Wesentlichen sein bisheriges Vorbringen, insbesondere schilderte er im Einzelnen den in der Berufung erwähnten Vorfall vom 28. August 1994. Bei M habe es sich jedoch nicht um seinen Onkel, sondern um seinen Cousin gehandelt. Der Beschwerdeführer habe mit seinen beiden Cousins im Cafe EFES in M gearbeitet und es gegen 20.00 Uhr verlassen. Sie hätten zum Schutz die Polizei verständigt, wie es ihnen für den Fall aufgetragen worden sei, dass sie sich nach 17.00 Uhr im Freien bewegten. Nach Einbruch der Dunkelheit halte sich niemand mehr im Freien auf, weil die Soldaten "auf alles schießen, was sich bewegt". In der Nähe ihres Wohnhauses hätten sie unter einer Laterne stehend plötzlich Schüsse gehört und sich deshalb zu Boden geworfen. Der Beschwerdeführer habe dadurch Hautabschürfungen erlitten, B sei am rechten Handgelenk getroffen worden. Auch M sei von einer Kugel getroffen worden und verstorben. Der Beschwerdeführer sei ca. 25 Minuten aus Sicherheitsgründen am Boden liegen geblieben. B habe um Hilfe geschrieen und sei dann auf sein Elternhaus zugerannt. Danach sei er ins Spital gebracht worden, wo seine rechte Hand amputiert worden sei.

Nach diesem Ereignis sei der Beschwerdeführer mehrmals - wie auch schon davor - von den Soldaten mit verbundenen Augen von zu Hause abgeholt, ein bis zwei Tage angehalten und auf näher beschriebene Weise gefoltert und mit dem Umbringen bedroht worden; und zwar, weil er die Soldaten zu Unrecht für den Tod seines Cousins verantwortlich gemacht habe und sie ihn als "PKK-Kämpfer" bzw. deren Unterstützung verdächtigt hätten. Darauf hin habe sich der Beschwerdeführer zum Verlassen der Türkei entschlossen. Mittlerweile sei sein Vater mehrmals nach dem Aufenthaltsort des Beschwerdeführers befragt worden.

Darüber hinaus wurde dem Beschwerdeführer die Aussage der Ehegattin des M, P, geb. Arslan, in ihrem Asylverfahren vor dem Bundesasylamt am 26. September 1995 vorgehalten. Diese hatte den Vorfall vom 28. August 1994 - nach der in den Verwaltungsakten enthaltenen Niederschrift - dahin geschildert, dass sich ihr Ehegatte in M nach der Ausgangssperre, die um 20.30 Uhr beginne, gemeinsam mit zwei anderen Kellnern auf dem Nachhauseweg befunden habe, als er von türkischen Soldaten, die ohne Vorwarnung das Feuer eröffnet hätten, erschossen worden sei. Die beiden Anderen seien auch getroffen worden und hätten schwer verletzt überlebt. Sie habe sich damals mit ihrem (neunjährigen) Sohn im Haus aufgehalten und die Schüsse gehört. Ihr Sohn sei auf die Straße zu seinem sterbenden Vater gelaufen, dabei jedoch von einem Soldaten mit dem Gewehrkolben auf den Kopf (bewusstlos) geschlagen worden. Die "beiden Überlebenden" seien "bei der Staatsanwaltschaft wegen des Verdachtes von Terrorismus bei Gericht angezeigt" worden, beide seien jedoch am 28. Februar 1995 freigesprochen worden. Damit sei bestätigt worden, dass "mein Ehegatte und die beiden anderen Kellner als unschuldige Personen von den Soldaten angegriffen wurden" (vgl. auch die Wiedergabe dieser Aussage in dem hg. Erkenntnis vom 26. Februar 1998, Zl. 97/20/0768). Bezüglich des Verwandtschaftsverhältnisses ist noch erwähnenswert, dass P die bei ihrer Vernehmung anwesende F - dabei handelt es sich um die eingangs erwähnte Schwägerin (Frau des Bruders) des Beschwerdeführers - als "Nichte" bezeichnete.

Auf den Vorhalt, dass P bei der Schilderung dieses Vorfalls den Beschwerdeführer nicht (namentlich) erwähnt habe, erwiderte dieser, dass er sich das nicht erklären könne. Auf weiteren Vorhalt, dass den Angaben der P zufolge die beiden Begleiter ihres Mannes wegen Terrorismus angezeigt, jedoch freigesprochen worden seien und der Beschwerdeführer "diesbezüglich" nichts erwähnt habe, betonte der Beschwerdeführer, dass er schon bei seiner ersten Vernehmung auf ein solches Verfahren, das bei seiner Ausreise noch anhängig gewesen sei, hingewiesen habe.

Die gegen den in der Folge erlassenen (Ersatz)Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 22. Jänner 1997 erhobene Beschwerde wurde wegen des Inkrafttretens des AsylG in Anwendung seiner Übergangsbestimmungen vom Verwaltungsgerichtshof zurückgewiesen.

Die zuständig gewordene belangte Behörde stellte die Ladung für die Berufungsverhandlung am 4. Oktober 2000 dem Beschwerdeführer zu Handen seiner ausgewiesenen Rechtsvertreterin am 11. September 2000 zu. In der Verhandlung, zu welcher der Beschwerdeführer ohne Angabe von Gründen nicht gekommen ist, wurden umfangreiche Unterlagen zu den Verhältnissen in der Türkei, insbesondere die Lage der Kurden betreffend, verlesen.

Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete die belangte Behörde den angefochtenen, die Berufung "gemäß § 7 AsylG" abweisenden Bescheid. In der schriftlichen Ausfertigung vom 11. Oktober 2000 wurde folgender, der Entscheidung zu Grunde gelegter Sachverhalt festgestellt:

"Der Asylwerber stammt aus K, E, M, Provinz Tunceli und ist kurdischer Abstammung. Der Asylwerber arbeitete mit seinen beiden Cousins, B und M, in einem Cafe in M. Als diese drei am 28.08.1994 gegen 20.00 Uhr das Lokal EFES verließen, verständigten sie wie üblich vorher zum Schutze die Polizei, da nach Einbruch der Dunkelheit eine Ausgangssperre bestand. Dennoch wurden sie auf dem Nachhauseweg von Soldaten beschossen, wobei M ums Leben kam, B schwer verletzt und der Asylwerber leicht verletzt wurde. Gegen B und den Asylwerber wurden Verfahren bei Gericht wegen des Verdachtes des Terrorismus eingeleitet, beide wurden jedoch am 28.02.1995 freigesprochen. Der Asylwerber hatte seinen Heimatort zwischenzeitlich bereits verlassen. Er reiste nach Istanbul, wo er am 28.12.1994 ankam und bei einem Bekannten nächtigte. Am 29.12.1994 gelangte er dann legal per Flugzeug in das Bundesgebiet."

Beweiswürdigend führte die belangte Behörde im Anschluss daran aus, "die Feststellungen ergeben sich aus dem diesbezüglich glaubwürdigen Vorbringen des Asylwerbers, aus der Aussage der Gattin des Cousins, P, in ihrem Asylverfahren sowie dem vorgelegten Zeitungsartikel."

In den weiteren Ausführungen begründete die belangte Behörde näher, weshalb sie "das übrige Vorbringen des Asylwerbers" im Hinblick auf im Einzelnen dargestellte Widersprüche und Steigerungen in seinen Angaben sowie ergänzend auch wegen des durch das Nichtkommen zur Berufungsverhandlung "bekundeten Desinteresses am Asylverfahren" für nicht glaubwürdig erachtete.

Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung folgerte die belangte Behörde, der Beschwerdeführer sei zwar selbst in den Vorfall vom 28. August 1994 involviert gewesen, doch habe er keinerlei Umstände glaubhaft darzutun vermocht, die ein zielgerichtetes Vorgehen der Behörden seines Heimatlandes gegen seine Person annehmen ließen. Vielmehr sei der Beschwerdeführer in einem Gerichtsverfahren betreffend diesen Vorfall freigesprochen worden, weshalb das Bestehen einer wohlbegründeten Furcht im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention nicht angenommen werden könne. Sonstige Umstände, die individuell und konkret den Beschwerdeführer betreffen und auf eine konkrete Verfolgung des Beschwerdeführers hindeuten könnten, hätten nicht festgestellt werden können. Schließlich ging die belangte Behörde noch vom Vorliegen einer inländischen Fluchtalternative für den nicht politisch tätig gewesenen Beschwerdeführer in der Westtürkei, insbesondere in den Großstädten wie Istanbul, aus.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

Die Beschwerde hält der Beurteilung der belangten Behörde entgegen, der Angriff vom 28. August 1994 habe sich auch gegen ihn als Mitglied einer Familie gerichtet, die von den türkischen Behörden und dem türkischen Militär verfolgt worden sei. Dass der Beschwerdeführer nur leicht verletzt worden sei, bedeute nicht, dass der Angriff nicht auch ihm gegolten habe. Vielmehr ergebe sich das Gegenteil "logisch nachvollziehbar" aus der weiteren Feststellung, dass gegen den Beschwerdeführer ein Verfahren wegen des Verdachtes des Terrorismus eingeleitet worden sei. Nicht nachvollziehbar sei die Feststellung, dass der Beschwerdeführer von diesem Vorwurf am 28. Februar 1995 freigesprochen worden sei, zumal er sich zu diesem Zeitpunkt bereits als Asylwerber in Österreich befunden habe. Von einem Freispruch sei ihm nichts bekannt, ihm sei auch kein Urteil zugestellt worden. Ein Freispruch in Abwesenheit sei für türkische Gerichtsverfahren auch absolut unüblich. Die belangte Behörde habe nicht ausgeführt, worauf sich diese Feststellung stütze.

Ausgehend von den oben wiedergegebenen Feststellungen der belangten Behörde wurde gegen den Beschwerdeführer, nachdem er gemeinsam mit anderen Familienmitgliedern Zielscheibe eines Attentats des türkischen Militärs geworden war, ein Verfahren wegen des Verdachtes des "Terrorismus" eingeleitet, ohne dass dazu ein konkreter Anlass bestanden hätte, wobei das vor dem Hintergrund der Herkunft des Beschwerdeführers aus einer ostanatolischen Provinz, in der damals der Ausnahmezustand gegolten hat, seiner kurdischen Abstammung und der gegen die Kurden dort ergriffenen Maßnahmen zu sehen ist. Dem angefochtenen Bescheid ist nicht zu entnehmen, dass die belangte Behörde dieses Vorgehen gegen den Beschwerdeführer nicht als Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (FlKonv) angesehen hätte und der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Ausreise nicht Flüchtling gewesen wäre. Vielmehr hat die belangte Behörde den danach erfolgten Freispruch - offenbar ungeachtet dessen, dass gegen den Beschwerdeführer, als auf ihn geschossen wurde, noch gar kein Gerichtsverfahren anhängig war - als maßgeblich für die Verneinung einer Verfolgungsgefahr erachtet und damit der Sache nach Art. 1 Abschnitt C Z 5 FlKonv angewendet (vgl. allgemein zur Bedeutung des Flüchtlingsbegriffs der FlKonv und der Beendigungstatbestände des Art. 1 Abschnitt C FlKonv für die Entscheidung über die Asylgewährung das Erkenntnis vom 15. Mai 2003, Zl. 2001/01/0499; zum Umfang der Ermittlungspflicht bei Anwendung der Z 5 leg. cit. vgl. etwa das Erkenntnis vom 19. Dezember 2001, Zl. 2000/20/0318).

Dem Beschwerdeeinwand, die belangte Behörde habe nicht ausgeführt, worauf sich die - aus ihrer Sicht entscheidungswesentliche - Feststellung zum Freispruch des Beschwerdeführers stütze, ist zwar beizupflichten. Doch ist aus dem oben und teilweise auch im angefochtenen Bescheid wiedergegebenen Inhalt der Angaben des Beschwerdeführers und von P erkennbar, dass die belangte Behörde offenbar in Bezug auf die festgestellten Einzelheiten des Vorfalls vom 28. August 1994 von der Aussage des Beschwerdeführers in seiner Vernehmung am 19. November 1996 und hinsichtlich der Einleitung eines Gerichtsverfahrens wegen Terrorismus von insoweit übereinstimmenden Angaben ausgegangen und betreffend den mittlerweile ergangenen Freispruch der Aussage der P gefolgt ist. Zu bemängeln ist aber, dass sich im angefochtenen Bescheid hinsichtlich der (positiv) getroffenen Feststellungen, wie sie oben wörtlich wiedergegeben wurden, keine Beweiswürdigung findet. Eine solche Würdigung wäre aber vorzunehmen gewesen, weil in Bezug auf die Ereignisse am 28. August 1994 in wesentlichen Teilen nicht übereinstimmende - die Angaben des Beschwerdeführers in den verschiedenen Verfahrensstadien waren dazu (teilweise) auch widersprüchlich - Beweisergebnisse vorlagen. Trotzdem begnügte sich die belangte Behörde mit deren bloßer Erwähnung. Es ist daher für den Verwaltungsgerichtshof nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen die belangte Behörde zum genannten Vorfall (zum Verwandtschaftsverhältnis des Beschwerdeführers zu M, zum Beginn der Ausgangssperre, zur Schwere der Verletzungen) der Aussage des Beschwerdeführers gefolgt ist und den damit nicht in Einklang stehenden Angaben der P offenbar keine Glaubwürdigkeit beigemessen und auf Abweichungen in dem vorgelegten Artikel (etwa zum Ort und zur Dauer des Angriffs) nicht Bedacht genommen hat.

Das wäre aus der Sicht des Beschwerdeführers - soweit von seinen Angaben ausgegangen wurde - zwar nicht zu beanstanden. Billigte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer aber insoweit eine höhere Glaubwürdigkeit als P zu, dann hätte es einer schlüssigen Begründung dafür bedurft, weshalb die belangte Behörde in Bezug auf die (für den Beschwerdeführer nachteilig gewertete) Feststellung zum angeblichen Freispruch auf die Angaben der P zurückgegriffen hat. Eine diesbezügliche Beweiswürdigung - unter Bedachtnahme darauf, dass die Genannte im Zusammenhang mit dem Vorfall vom 28. August 1994 und dem Gerichtsverfahren vom Beschwerdeführer nicht ausdrücklich gesprochen hat und (mangels Relevanz in ihrem Asylverfahren) dazu auch nicht näher, insbesondere zur Quelle ihres Wissens, befragt wurde - konnte aber auch nicht deshalb unterbleiben, weil der Beschwerdeführer der diesbezüglichen Aussage nicht widersprochen habe. Dem Beschwerdeführer wurden zwar diese Angaben der P in seiner ergänzenden Vernehmung am 19. November 1996 vorgehalten, doch hat er diesen Vorhalt - im Hinblick auf dessen Formulierung und die dazu ergangene Antwort - erkennbar nur darauf bezogen, dass er es bis dahin unterlassen habe, ein Gerichtsverfahren gegen ihn zu erwähnen. Die Richtigkeit der Behauptung, er sei vom Verdacht des Terrorismus durch das Gericht - wie die Beschwerde zutreffend aufzeigt: in Abwesenheit - freigesprochen worden, kann bei einer derartigen Reaktion aber noch nicht als zugestanden gelten. Indem die belangte Behörde die ihrer Ansicht nach allein maßgebliche Feststellung zum Freispruch des Beschwerdeführers somit nicht tragfähig begründet hat, belastete sie den angefochtenen Bescheid mit einem wesentlichen Begründungsmangel.

Klammert man aber diese Feststellung aus, dann kann schon deshalb auch nicht vom Bestehen einer inländische Schutzalternative ausgegangen werden, was die Beschwerde ebenfalls zutreffend aufzeigt.

Der angefochtene Bescheid war somit aus den dargestellten Gründen wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit b und c VwGG aufzuheben, ohne dass die weiteren Beschwerdeargumente zur Beweiswürdigung hinsichtlich der negativen Feststellungen und zur Annahme einer "inländischen Fluchtalternative" einer Prüfung zu unterziehen waren. Für den Ersatzbescheid ist noch anzumerken, dass es gegebenenfalls auch einer Auseinandersetzung mit der Frage bedürfen wird, ob bei einer Rückkehr des Beschwerdeführers in sein Heimatgebiet mit einer Wiederholung von - offenbar politisch/ethnisch motivierten - Vorfällen wie am 28. August 1994 noch mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu rechnen ist.

Der Kostenzuspruch im verzeichneten Ausmaß gründet sich auf die §§ 47ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333.

Wien, am 17. Dezember 2003

Schlagworte

Begründung Begründungsmangel

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2003:2000200512.X00

Im RIS seit

03.02.2004
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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