TE Vwgh Erkenntnis 2004/1/29 2002/20/0041

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.01.2004
beobachten
merken

Index

40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1997 §28;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Berger und Dr. Moritz als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde der D in W, geboren 1974, vertreten durch Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 14. Dezember 2001, Zl. 212.979/18-II/04/01 (mündlich verkündet am 7. November 2001), betreffend §§ 7 und 8 Asylgesetz (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Türkei, reiste am 21. August 1998 zusammen mit ihrem am 13. November 1992 geborenen Sohn in das Bundesgebiet ein und stellte am 1. September 1998 einen Asylantrag.

Bei ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 30. Oktober 1998 gab die Beschwerdeführerin im Wesentlichen zu Protokoll, vor zehn Jahren habe ihr Vater die Türkei verlassen und in Österreich einen Asylantrag gestellt. Nach seiner Ausreise sei die Familie der Beschwerdeführerin von der Polizei unter Druck gesetzt worden. In der Folge seien auch die Mutter und der Bruder der Beschwerdeführerin nach Österreich gekommen. Um dem Druck der Polizei zu entgehen, habe die Beschwerdeführerin beschlossen, zu heiraten. Die Ehe sei jedoch 1996 geschieden worden. In der Folge habe die Beschwerdeführerin wieder in der elterlichen Wohnung gelebt. Diese sei mehrmals von der Polizei durchsucht worden. Die Polizei habe der Beschwerdeführerin vorgeworfen, dass ihre Familie im Ausland lebe. Die wiederholten Hausdurchsuchungen hätten dazu geführt, dass der Sohn der Beschwerdeführerin aus Angst vor der Polizei zu stottern begonnen habe. Die Beschwerdeführerin habe nicht gewollt, dass ihr Kind in der Schule von der Polizei gestört werde. Daher habe sie beschlossen, nach Österreich zu kommen.

Bei einer weiteren Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 23. März 1999 legte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen dar, sie sei Kurdin und habe Probleme mit der Polizei gehabt. Ihr Vater sei 1990 nach Österreich geflüchtet und habe in der Folge ihren jüngeren Bruder nachgeholt. Der ältere Bruder der Beschwerdeführerin sei 1992 illegal nach Österreich gekommen. In der Türkei seien nur die Beschwerdeführerin und ihre Mutter verblieben. Dort habe der Druck auf die Beschwerdeführerin zugenommen. Polizisten seien in die Wohnung und sogar in die Schule gekommen und hätten die Beschwerdeführerin befragt und bedroht. Wegen des Druckes habe sie die Schule abbrechen müssen. In der Hoffnung, dass sie die Polizei dann in Ruhe lasse, habe die Beschwerdeführerin bereits im Alter von 16 Jahren geheiratet und eine Familie gegründet. Die Ehe sei jedoch 1996 wieder geschieden worden. Die Polizisten hätten immer wieder gewollt, dass die Beschwerdeführerin verrate, wo ihr Vater sei und was er mache. Sie sei auch mehrmals geschlagen worden. Ihr Vater und ein Bruder hätten sich für die Sache der Kurden eingesetzt, weswegen auch die Beschwerdeführerin Probleme bekommen habe. Im Juli oder August 1998 seien Polizisten in die Wohnung gekommen und hätten der Beschwerdeführerin einen Faustschlag ins Gesicht versetzt, weshalb nunmehr ihr Unterkiefer schief sei. Für eine alleinstehende Frau sei es im Übrigen unmöglich, in eine andere Stadt zu übersiedeln.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 30. August 1999 wurde der Asylantrag der Beschwerdeführerin gemäß § 7 Asylgesetz abgewiesen und gemäß § 8 Asylgesetz festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Türkei zulässig sei. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, die von der Beschwerdeführerin genannten Verhöre und Befragungen wiesen nicht die für die Asylgewährung erforderliche Intensität einer Verfolgung auf.

Bei der mündlichen Berufungsverhandlung vor der belangten Behörde am 15. März 2001 legte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen dar, sie befürchte wie vor ihrer Ausreise aus der Türkei im Falle einer Rückkehr Gegenstand polizeilicher Überprüfungen, Verhöre und Misshandlungen zu werden. Die türkische Polizei greife, wenn keine Männer da seien, die Frauen an und verwende Frauen als Köder, damit sich die Männer ergäben. Außerdem habe die türkische Polizei auch geglaubt, dass sich die Beschwerdeführerin ebenfalls politisch betätige.

Bei einer weiteren mündlichen Verhandlung vor der belangten Behörde am 7. November 2001 gab die Beschwerdeführerin an, dass ihr in den Jahren 1995 und 1996, ebenso aber auch danach (bis 1998), seitens türkischer Polizeiorgane vorgehalten worden sei, kurdische Vereine, aber auch die PKK, finanziell und auf sonstige Weise zu unterstützen, etwa zu Versammlungen zu gehen. Sie sei jedoch niemals verurteilt worden, da die Polizei keine Beweise gehabt habe; dies deshalb, da die Beschwerdeführerin in Wirklichkeit niemals in diese Richtung tätig gewesen sei.

Der der mündlichen Verhandlung beigezogene Sachverständige führte dazu aus, dass ein starkes Interesse der Polizei bestehe, Unterstützungen der PKK oder anderer (verbotener) kurdischer Organisationen zu verfolgen. Eine derartige Unterstützung sei strafbar und werde von den Staatssicherheitsgerichten geahndet. Wenn daher trotz dieses starken Interesses die Polizei nach dreijährigen Ermittlungen nicht genügend Beweise für eine Anklage habe finden können, sei es ausgeschlossen, dass die Beschwerdeführerin ohne neue solide Verdachtsmomente Gefahr liefe, im Fall ihrer Rückkehr in die Türkei vor einem Staatssicherheitsgericht angeklagt zu werden. Davon zu unterscheiden sei die Möglichkeit, dass einzelne eifrige Polizeibeamte weiterhin auf eigene Faust ermittelten, um vielleicht doch noch zu einer Bestätigung ihres ursprünglichen Verdachtes zu gelangen. Eine solche Möglichkeit könne im Falle der Beschwerdeführerin naturgemäß nicht ausgeschlossen werden, der Sachverständige würde diese Möglichkeit jedoch insbesondere angesichts der bereits vergleichsweise langen Dauer erfolgloser polizeilicher Ermittlungen sowie im Hinblick auf den Umstand, dass der Beschwerdeführerin keine führende Rolle in einer verbotenen Organisation unterstellt werde, mit jedenfalls unter 50 % bewerten. Staatssicherheitsgerichte würden bereits beim Vorliegen von Anhaltspunkten für die Verwirklichung eines derartigen Deliktes Haftbefehle erlassen, und zwar auch bei einer geringeren Verdachtsdichte als für die Ausstellung von Haftbefehlen durch türkische Strafgerichte notwendig sei. Wenn daher zwischen 1995 und 1998 kein auf die Beschwerdeführerin lautender Haftbefehl von einem Staatssicherheitsgericht ausgestellt worden sei, müsse die Verdachtslage sehr dünn gewesen sein.

In einer bei der mündlichen Verhandlung am 7. November 2001 erörterten schriftlichen Äußerung des Sachverständigen hatte dieser dargelegt, dass der Individualitätsgrundsatz der Bestrafung bei politischen Delikten im Allgemeinen nicht eingehalten werde. Wenn eine gesuchte Person aber im Ausland sei, versuche die türkische Polizei nicht, diese durch Verhaftungen und Folterungen von Familienmitgliedern zur Rückkehr zu bewegen. Die türkische Polizei wisse, dass solche Personen nicht zurückkehrten. Daher sei es auszuschließen, dass von der türkischen Polizei ständig Auskünfte über solche Personen eingeholt würden.

Der Sachverständige gab ferner im Wesentlichen zu Protokoll, dass eine Gefahr, dass jeder türkische Staatsbürger kurdischer Abstammung allein dieser Abstammung wegen im Falle seiner Rückstellung in die Türkei jederzeit geschlagen, misshandelt und gefoltert werde, nicht bestehe. Eine solche Gefahr setze einen politischen Bezug (aktueller Vorwurf der Unterstützung der PKK oder einer sonstigen verbotenen Organisation, Teilnahme an Demonstrationen, Beleidigung des türkischen Staates, Besetzung eines türkischen Konsulates oder ähnliches) voraus. Die Asylantragstellung im Ausland werde von den türkischen Behörden nicht zur Grundlage eines solchen Vorwurfes gemacht. Die über Dokumente verfügende Beschwerdeführerin würde im Falle ihrer Abschiebung in die Türkei auch anlässlich ihrer Übernahme durch türkische Grenzorgane mit keinen Misshandlungen zu rechnen haben, sondern lediglich mit längeren, allenfalls auch mehrtägigen Überprüfungen (Anfrage beim zuständigen Passamt).

Bei der mündlichen Berufungsverhandlung am 7. November 2001 wurden schließlich die Beweisanträge der Beschwerdeführerin auf Einholung eines medizinischen Gutachtens zur Deformierung ihres Unterkiefers und betreffend Zeitpunkt, Ausmaß und Hergang der Verletzung sowie auf Einvernahme der Mutter der Beschwerdeführerin, welche bei verschiedenen Besuchen der Polizeiorgane anwesend gewesen sei, als unerheblich abgewiesen, da in diesen Punkten die Entscheidung "auf der Grundlage des Vorbringens" der Beschwerdeführerin ergehen werde.

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde die Berufung der Beschwerdeführerin abgewiesen. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Beschwerdeführerin habe vorgebracht, vor ihrer Ausreise aus der Türkei misshandelt worden zu sein. Sie befürchte, teils im Zusammenhang mit auf ihren Vater bzw. ihren Bruder bezogenen polizeilichen Nachforschungen, teils aber auch allgemein wegen ihrer Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe und teils wegen ihr selbst unterstellter politischer Gesinnung im Falle ihrer Rückkehr neuerlich misshandelt zu werden. Das Sachverständigengutachten habe aber keine genügenden Anhaltspunkte dafür erbracht, dass die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Gefährdung tatsächlich auch noch zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung in dem für eine Gewährung von Asyl bzw. Abschiebungsschutz "erforderlichen Ausmaß von Wahrscheinlichkeit (d.h. 50+x%; ...) bestehe". Der Sachverständige habe ausgeschlossen, dass die Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit ihren sich in Österreich befindlichen männlichen Verwandten nunmehr in der Türkei noch "ständig" mit dem Begehren um Erteilung von "Auskünften über diese Personen" behelligt werde, da die türkische Polizei selbst wisse, dass Personen, die ins Ausland geflüchtet seien, nicht mehr zurückkehrten. Hinsichtlich einer die Beschwerdeführerin unabhängig von ihrer Verwandtschaft treffenden Gefährdung habe der Sachverständige sowohl die Gefahr zielgerichteter Verfolgung wie jene einer Misshandlung ohne zielgerichtete Verfolgung teils ausgeschlossen (eine Anklage vor dem Staatssicherheitsgericht), teils mit (jedenfalls) unter 50 % bewertet. Letzteres gelte sowohl für von "einzelnen eifrigen Polizeibeamten" trotz der bisherigen negativen Ergebnisse weiter betriebenen polizeilichen Ermittlungen als auch dafür, "in Zusammenhang mit kurzzeitigen ... Aufgriffen bzw. Anhaltungen" misshandelt zu werden (die letztere Gefahr liege jedenfalls nunmehr, d.h. seit dem Jahr 2000, bei einer Aufgriffswahrscheinlichkeit von ca. 50 % und einer Misshandlungswahrscheinlichkeit von unter 50 %, bei höchstens 25 %). Bezüglich der Gefahr, dass die Beschwerdeführerin anlässlich ihrer Rückkehr in die Türkei beim Passieren der Grenzkontrolle "vertieft" überprüft und dabei allenfalls misshandelt werde, bestehe eine "höhere Wahrscheinlichkeit" nach den Ausführungen des Sachverständigen nur dann, wenn die Beschwerdeführerin in Begleitung österreichischer Polizisten erschiene. Eine derartige Begleitung sei jedoch nur im Fall von erwartetem Widerstand gegen die Abschiebung vorgesehen. Unter Zugrundelegung rechtstreuen Verhaltens der Beschwerdeführerin sei demnach eine Gefährdung beim Passieren der türkischen Grenzkontrolle nicht zu erwarten.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:

Die belangte Behörde ist davon ausgegangen, dass das Vorbringen der Beschwerdeführerin, im Juli oder August 1998 (also unmittelbar vor ihrer Ausreise aus der Türkei) von Polizisten so stark ins Gesicht geschlagen worden zu sein, dass seither ihr Unterkiefer deformiert sei, der Wahrheit entspricht. Zu diesem Zeitpunkt waren seit der Ausreise des letzten erwachsenen männlichen Mitgliedes der Familie der Beschwerdeführerin aus der Türkei ihrer dem Bescheid zu Grunde gelegten Darstellung zufolge bereits sechs Jahre vergangen.

Dessen ungeachtet hat sich die belangte Behörde auf die Äußerungen des Sachverständigen gestützt, wonach es (sogar) auszuschließen sei, dass die Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit ihren in Österreich befindlichen männlichen Verwandten in der Türkei noch ständig mit dem Begehren um Erteilung von Auskünften über diese Personen behelligt würde, da die türkische Polizei selbst wisse, dass Personen, die ins Ausland geflüchtet seien, nicht mehr zurückkehren würden.

Diese Äußerungen des Sachverständigen sind jedoch in Verbindung mit der gleichzeitigen Annahme, dass die Beschwerdeführerin noch sechs Jahre nach der Ausreise des letzten erwachsenen Familienmitgliedes im Zusammenhang mit einschlägigen polizeilichen Erhebungen in der von ihr beschriebenen Weise erheblich misshandelt worden sei, zur schlüssigen Begründung des angefochtenen Bescheides nicht geeignet. Der angefochtene Bescheid war daher schon deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 29. Jänner 2004

Schlagworte

Begründungspflicht und Verfahren vor dem VwGH Begründungsmangel als wesentlicher Verfahrensmangel

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2004:2002200041.X00

Im RIS seit

09.03.2004
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten