TE Vwgh Erkenntnis 2004/2/19 2001/20/0678

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Veröffentlicht am 19.02.2004
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl und die Hofräte Dr. Nowakowski und Dr. Berger als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, in der Beschwerdesache des S in W (geboren 1978), vertreten durch Dr. Hans Peter Ringhofer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Franz-Josefs-Kai 5, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 10. August 2001, Zl. 220.779/0-XIV/08/01, betreffend §§ 7 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres) zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein indischer Staatsangehöriger, gelangte am 5. September 2000 in das Bundesgebiet und stellte am 8. September 2000 einen Asylantrag. Am 30. November 2000 sagte er bei einer niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt zu seinen Fluchtgründen aus, er sei ein Sikh aus dem Punjab. Die Polizei habe ihn - ebenso wie seinen Vater - verhaften wollen, weil er oft von Sikh-Extremisten besucht worden sei, die ihn zur Zusammenarbeit mit ihnen aufgefordert hätten. Im Falle seiner Rückkehr nach Indien befürchte er, seine Verhaftung, weil er - unzutreffend - verdächtigt werde, gemeinsam mit den erwähnten Freunden Verbrechen verübt zu haben. Er habe Angst vor seiner Festnahme, weil "die Polizei schon Unschuldige umgebracht" habe. Seine Ausreise aus Indien sei von einem Schlepper organisiert worden.

Das Bundesasylamt wies den Asylantrag mit Bescheid vom 29. Dezember 2000 gemäß § 7 AsylG ab und sprach gemäß § 8 AsylG aus, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Indien zulässig sei. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, es könne nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Indien asylrelevante Verfolgung zu gewärtigen hätte. Er habe den von ihm behaupteten Sachverhalt nicht glaubhaft machen können, weil sich seine Aussagen "auf abstrakte und allgemein gehaltene Darstellungen" beschränkt hätten. Weiter führte das Bundesasylamt aus:

"Konkrete oder detaillierte Angaben konnten Sie trotz Nachfrage nicht machen. Würde es bereits genügen, wenn das Vorbringen von Tatsachen abstrakt ausreichend wäre, so könnte von Beweiswürdigung im eigentlichen Sinn wohl kaum gesprochen werden. Durch Ihre bloßen Behauptungen, die jede Substantiierung missen ließen und die sie auf keinerlei Beweismittel stützen konnten, konnten Sie die von Ihnen dargelegten Sachverhalte nicht glaubhaft machen. Der Umstand, dass sie problemlos legal ausreisen konnten und offenbar keine Bedenken hatten, sich der Passkontrolle auszusetzen, deutet jedenfalls darauf hin, dass Sie sich Verfolgungshandlungen seitens der Behörden Ihres Heimatlandes weder selbst befürchteten noch zu befürchten hatten."

Selbst bei Vorliegen des vom Beschwerdeführer angegebenen Sachverhaltes liege aber unter Berücksichtigung der (näher dargestellten) Verhältnisse in Indien und insbesondere im Punjab "keine hinreichend intensive, objektivierbare asylrelevante Verfolgung vor".

Der Beschwerdeführer erhob Berufung, in welcher er im Wesentlichen ausführte, er sei in seinem Heimatland in Verdacht geraten, ein Sikh-Extremist zu sein; sein Vater sei deshalb verhaftet und bei den Verhören durch die Polizei schwer misshandelt worden. Auch ihm drohe im Falle seiner Rückkehr die sofortige Verhaftung. Die Situation im Punjab sei vom Bundesasylamt unrichtig dargestellt worden; es komme immer wieder zu Folterungen und Tötungen von Gefangenen im Polizeigewahrsam.

Die belangte Behörde führte am 5. Juli 2001 eine mündliche Berufungsverhandlung durch, bei der der Beschwerdeführer einvernommen wurde und ein Indien betreffendes Gutachten, ein Länderbericht des (deutschen) Auswärtigen Amtes vom 8. Mai 2001 und eine Auskunft des UNHCR (wonach Asylwerber im Falle ihrer Abschiebung nach Indien "grundsätzlich nicht mit Verfolgung seitens staatlicher Stellen lediglich auf Grund des Umstandes, dass sie in Österreich um Asyl angesucht haben, rechnen müssen") erörtert wurden. In dem erwähnten Gutachten (von dem sich im vorgelegten Verwaltungsakt nur mit Dezember 2000 datierte Auszüge aus "Ergänzungen zum Gutachten Indien vom Juni 2000" finden) wird zum Bestehen einer "innerstaatlichen Fluchtalternative" für Sikhs in Indien ausgeführt, Sikhs könnten sich fast im ganzen indischen Bundesgebiet niederlassen und dort ihren Beruf ausüben, in der Praxis könnten dem aber "unüberwindbare Schwierigkeiten entgegenstehen, z.B. fehlende Sprachkenntnisse, fehlende finanzielle Ressourcen oder fehlendes Know-how". Ein mittelloser und schlecht bzw. nicht ausgebildeter Sikh könne im Falle einer Neuansiedlung nicht mit Unterstützung durch andere Sikhs rechnen; "zur Not könnte er allerdings in einem Sikh-Tempel (Gurudwara) Zuflucht suchen, wo ihm zumindest eine gewisse Zeit eine Schlafgelegenheit und Verpflegung zur Verfügung gestellt würde". Diese Unterstützung innerhalb der Sikh-Gemeinschaft sei auch dafür verantwortlich, "dass man praktisch kaum Sikhs betteln sieht".

Im Länderbericht des Auswärtigen Amtes vom 8. Mai 2001 wird zu "Ausweichmöglichkeiten" in Indien u.a. ausgeführt, die Ausweichmöglichkeiten innerhalb des Landes seien dann eingeschränkt, wenn die betreffende Person strafrechtlich verfolgt werde; sie würden "von der staatlichen Infrastruktur" abhängen. Bei strafrechtlicher Verfolgung z.B. in Nordindien sei ein unbehelligtes Leben in Südindien "grundsätzlich möglich, ohne dass die Person ihre Identität verbergen muss". In den größten Städten sei die Polizei jedoch personell und materiell besser ausgestattet. Terroristen aus dem Punjab seien etwa nach mehreren Jahren friedlichen Aufenthaltes in New Delhi aufgespürt und verhaftet worden; aus kleineren Städten habe es jedoch "bisher keine derartigen Meldungen gegeben". In Bezug auf den Punjab wird ausgeführt, die Situation sei "von Ruhe gekennzeichnet, trotz verschiedener Bombenanschläge auf Verkehrseinrichtungen". Die Polizei führe den Kampf gegen den Terrorismus weiter, wobei sie Menschenrechtsberichten zufolge vor ungesetzlichen Maßnahmen und Menschenrechtsverletzungen ("extra-legale Tötung, willkürliche Verhaftung, Inhaftierung ohne richterliche Kontrolle, Folterung und Verschwindenlassen") nicht zurückschrecke. Insbesondere junge Männer, die der Sikh-Religion angehören, sowie Familienangehörige mutmaßlicher Militanter seien dem Risiko willkürlicher Verhaftung ausgesetzt. Es sei davon auszugehen, dass "auch künftig insbesondere Angehörige der Sikh-Religion Opfer von Maßnahmen der Sicherheitskräfte werden, da bei ihnen Affinitäten zu militanten Organisationen angenommen werden". Über eigene Erkenntnisse in diesem Zusammenhang verfüge das Auswärtige Amt nicht.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wurde die Berufung des Beschwerdeführers gemäß §§ 7 und 8 AsylG abgewiesen. Begründend wurde ausgeführt, "in sachverhaltsmäßiger Hinsicht und hinsichtlich der Beweiswürdigung" schließe sich die belangte Behörde den diesbezüglichen Ausführungen im erstinstanzlichen Bescheid "vollinhaltlich an und erhebt diese auch zum Inhalt" des angefochtenen Bescheides. Vor diesem Hintergrund sei keine aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers ersichtlich. Im Rahmen der rechtlichen Würdigung führte die belangte Behörde weiter aus, dass der Beschwerdeführer "keine Verfolgung im Sinne der Genfer FlKonv glaubhaft zu machen vermochte, da sein Vorbringen zu seinem Fluchtgrund auf Grund einiger Widersprüche und zahlreicher Unplausibilitäten als unglaubwürdig zu werten ist". Die Befürchtung des Beschwerdeführers, er könnte im Falle seiner Rückkehr nach Indien von der Polizei umgebracht werden, sei eine "völlig haltlose Spekulation". Selbst wenn das Vorbringen des Beschwerdeführers zu seiner Bedrohungssituation den Tatsachen entspräche, stehe ihm in Indien eine inländische Fluchtalternative offen, weil er sich problemlos in einem anderen Landesteils Indiens niederlassen könne.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

Der angefochtene Bescheid hält der nachprüfenden Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof nicht stand. Obwohl die belangte Behörde den Beschwerdeführer im Rahmen der Berufungsverhandlung einvernommen hat, erschöpft sich die Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides in einer "vollinhaltlichen" Übernahme der Beweiswürdigung der Behörde erster Instanz und einem nicht näher konkretisierten Hinweis auf "einige Widersprüche und zahlreiche Unplausibilitäten" im Vorbringen des Beschwerdeführers. Die Ausführungen zur Beweiswürdigung der Behörde erster Instanz, auf die die belangte Behörde verwies, sind jedoch überwiegend nicht nachvollziehbare abstrakte Rechtsformeln; welche "konkreten und detaillierten Angaben" der Beschwerdeführer nicht gemacht habe und inwiefern daraus auf dessen Unglaubwürdigkeit habe geschlossen werden können, wird nicht konkret ausgeführt. Sollte die belangte Behörde aber gemeint haben, dass die Behauptungen des Beschwerdeführers in der Berufungsverhandlung - allenfalls auch in Gegenüberstellung zu seinen vor dem Bundesasylamt gemachten Angaben - nicht glaubwürdig seien, so hätte sie dies nachvollziehbar darzulegen gehabt. Der angefochtene Bescheid genügt somit nicht den Anforderungen an eine schlüssige und nachvollziehbare Beweiswürdigung (vgl. dazu etwa das Erkenntnis vom 24. April 2003, Zl. 2002/20/0490, mwN).

Auch die Annahme der belangten Behörde, wonach dem Beschwerdeführer eine innerstaatliche Schutzalternative zur Verfügung stehe, ist unzureichend begründet. Diese erwähnte Annahme vermag der Verwaltungsgerichtshof schon deshalb nicht nachzuvollziehen, weil die belangte Behörde dabei jegliche Auseinandersetzung damit vermissen hat lassen, dass nach dem Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 8. Mai 2001 eine solche Ausweichmöglichkeit bei strafrechtlicher Verfolgung vor allem in größeren Städten - in denen sich der Beschwerdeführer unter Umständen aus wirtschaftlichen Gründen aufhalten müsste - nicht bestehe; überdies finden sich schon in diesem Bericht Hinweise auf eine landesweite Strafverfolgung, auf die die belangte Behörde nicht näher eingegangen ist (vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere das hg. Erkenntnis vom 19. Dezember 2001, Zl. 2001/20/0498). Zudem hat sich die belangte Behörde nicht damit auseinander gesetzt, inwiefern auch für andere Landesteile Indiens die im oben erwähnten Länderbericht in Bezug auf den Punjab enthaltenen Ausführungen, die Polizei schrecke vor willkürlicher Verhaftung, Folterung und "Verschwindenlassen" nicht zurück, maßgeblich seien (solche Ausführungen in Bezug auf "ganz Indien" finden sich etwa in dem im hg. Erkenntnis vom 12. September 2002, Zl. 2002/20/0017, erwähnten Gutachten).

Nach dem Gesagten war der angefochtene Bescheid somit wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333.

Wien, am 19. Februar 2004

Schlagworte

Begründungspflicht und Verfahren vor dem VwGH Begründungsmangel als wesentlicher Verfahrensmangel

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2004:2001200678.X00

Im RIS seit

16.03.2004
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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