Index
E000 EU- Recht allgemein;Norm
11997E030 EG Art30;Beachte
Vorabentscheidungsverfahren:* Ausgesetztes Verfahren: 99/10/0273 B 27. August 2002 * EuGH-Entscheidung: EuGH 62000CJ0150 5. April 2004Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Jabloner und die Hofräte Dr. Novak, Dr. Mizner, Dr. Stöberl und Dr. Köhler als Richter, im Beisein des Schriftführers MMag. Zavadil, über die Beschwerde des Mag. pharm. G in J, vertreten durch Schönherr Barfuss Torggler & Partner, Rechtsanwälte in 1014 Wien, Tuchlauben 13, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Frauenangelegenheiten und Verbraucherschutz vom 9. November 1999, Zl. 332.860/1-VI/B/12a/99, betreffend Untersagung des Inverkehrbringens eines als Verzehrprodukt angemeldeten Produktes, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1172,88 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit Eingabe vom 9. September 1999, eingelangt am 10. September 1999, meldete der Beschwerdeführer das Produkt "Genes Vit - Junior - Brausetabletten" (Orangengeschmack) gemäß § 18 LMG als Verzehrprodukt an.
Der von der belangten Behörde beigezogene Amtssachverständige für Pharmazie führte aus, dass es sich bei dem Produkt nach der allgemeinen Verkehrsauffassung um ein Arzneimittel und in der Folge um eine zulassungspflichtige Arzneispezialität handle.
In seiner Stellungnahme zu diesem Gutachten brachte der Beschwerdeführer vor, dass das Produkt in Deutschland erzeugt und in der EU als Lebensmittel vertrieben werde. Es diene vorwiegend Ernährungszwecken. Die dem Produkt zugesetzten Mengen an Vitaminen entsprächen jener Dosierung, wie sie auch durch die tägliche Nahrung aufgenommen würden; diese Mengen würden nur geringfügig von den in Verzehrprodukten üblicherweise enthaltenen Vitaminmengen abweichen (2,0 mg gegenüber 1,6 mg Vitamin B6; 1,6 gegenüber 1,5 mg Vitamin B2; 1,4 mg gegenüber 1,1 mg Vitamin B1; 0,15 mg gegenüber 0,1 mg Biotin). Der Amtssachverständige habe nicht konkret dargelegt, warum bei diesen geringfügigen Differenzen pharmakologische Wirkungen zu erwarten seien. Tatsächlich müssten für therapeutische Zwecke die gegenständlichen Vitamine in wesentlich höheren Dosierungen verwendet werden; eine entsprechende Tagesdosis betrage bei Vitamin B6 5-10 mg bzw 50- 300 mg pro Tag, bei Vitamin B2 5-10 mg, bei Vitamin B1 1-2 mg und mehr (zur Behandlung von Vitamin B1-Hypovitaminose 20-300 mg), bei Vitamin D3 5-10 mg ("Stoßtherapie"). Das Gutachten des Amtssachverständigen enthalte keine Erfahrungssätze und wissenschaftlichen Erkenntnisse, auf deren Grundlage sich die Schlüssigkeit der Auffassung, dem Produkt kämen auf Grund seiner "qualitativen und quantitativen Zusammensetzung" pharmakologische Wirkungen zu, überprüfen ließe.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 9. November 1999 untersagte die belangte Behörde gemäß § 18 Abs. 2 LMG das Inverkehrbringen des gegenständlichen Produktes. In der Begründung führte sie unter Berufung auf das als schlüssig erachtete Gutachten des Amtssachverständigen aus, dass das Produkt folgende pharmakologisch wirksame Bestandteile enthalte: 2 mg Vitamin B6, ,6 mg Vitamin B2, 1,4 mg Vitamin B1, 0,15 mg Biotin und 5 µg Vitamin D3; die Einnahmeempfehlung laute: 1 Brausetablette täglich. Laut einschlägiger Fachliteratur kämen den Inhaltsstoffen des gegenständlichen Erzeugnisses im Hinblick auf das vorliegende Produkt zweifelsfrei spezifische pharmakologische Wirkungen zu (siehe u.a. Hager's Handbuch der pharmazeutischen Praxis; Martindale: The Extra Pharmacopeia; Hunnius: Pharmazeutisches Wörterbuch, usw.). Vitamin B6 (Pyridoxin) stelle als Phosphorsäureester ein wichtiges Coferment des Eiweißstoffwechsels dar. Seine Funktion erstrecke sich insbesondere auf Decarboxylierungen, Transaminierungen und Racemisierungen. An Mangelerscheinungen wurden vor allem Veränderungen der Haut und der Schleimhäute beschrieben. Es würden juckende, schuppende Erytheme um Mund, Nase und Augen auftreten, unter Umständen komme es zu Brennen der Lippen. Ferner würden Nervenentzündungen und Anämie beobachtet. Therapeutisch werde Vitamin B6 in der Neurologie und Dermatologie sowie in der inneren Medizin bei Emesis gravidarum, Nausea und Reisekrankheiten sowie zur Behandlung von Strahlenkrankheiten angewandt. Zahlreiche Arzneispezialitäten seien zugelassen worden, die bezogen auf die einzunehmende Tagesdosierung dem in Rede stehenden Produkt vergleichbar seien (z.B. "Multibionta-Kapseln"). Riboflavin (Vitamin B2) sei ein wasserlösliches Vitamin, das vor allem als Komponente zweier Flavin-Coenzyme (Flavin-Mononucleotid (FMN) und Flavin-Adenin-Dinucleotid (FAD)) diene. Letztere seien für viele Redoxprozesse im Organismus verantwortlich. Als Mangelerscheinungen seien Läsionen der Mundschleimhaut, seborrhoische Dermatitis und andere Erkrankungen der Haut und der Schleimhäute beschrieben. Vitamin B1 (Thiamin) sei als Cofaktor in verschiedene für den Kohlenhydratstoffwechsel wichtige Enzyme eingebaut. Bei kohlehydratreicher Kost sei der tägliche Vitamin B1- Bedarf erhöht, bei vermehrter Fettzufuhr sei er vermindert; der Bedarf werde auch durch vermehrte Muskelarbeit gesteigert. Die wichtigsten Mangelsymptome seien Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels und des Wasserhaushaltes. Die am längsten bekannte und schwerste Stoffwechselentgleisung sei die Beri-Beri. Im Einzelnen könnten neurologische und vegetative Symptome (Kopfschmerzen, Parästhesien, periphere Neuritis), gastrointestinale Symptome (Appetitlosigkeit, Achylie, Verstopfung, Erbrechen), Symptome am Bewegungsapparat (Muskelschwäche, Wadenkrämpfe) und cardio-vaskuläre Symptome (Herzklopfen, Dyspnoe, Extrasystolen, Überleitungsstörungen) auftreten. Vitamin B1 werde insbesondere in der Neurologie (Neurititiden, Alkohol- und andere Intoxikationen, Viruserkrankungen des Nervensystems, Muskellähmungen) therapeutisch verwendet. Biotin werde auch als Biowuchsstoff, Coenzym R, Hautschutzvitamin, Hautfaktor oder antiseborrhoisches Vitamin bezeichnet. Biotin sei im Stoffwechsel als prosthetische Gruppe von Enzymen an Carboxylierungen beteiligt. Als Cofaktor für Pyruvatcarboxylase und Acetyl-Coenzym-A-Carboxylase spiele Biotin eine wichtige Rolle im Kohlenhydrat- und Fettmetabolismus. Vitamin H-Mangel rufe im Tierversuch Hauterkrankungen (Seborrhoe) und Haarausfall hervor. Mangelerscheinungen beim Menschen würden sehr selten beobachtet, weil neben der Aufnahme durch die tägliche Nahrung auch die Darmflora zur Versorgung mit Biotin beitrage. In der Regel würden bei gesunden Menschen nur im Falle von extrem einseitiger Ernährung Mangelerscheinungen beobachtet. Durch den Verzehr großer Mengen roher Eier (diese enthielten den Biotinantagonisten Avidin) über längere Zeit könne eine Dermatitis und Glossitis hervorgerufen werden, die bei der Zufuhr von Biotin geheilt werden könne. Symptome des Biotinmangels seien Müdigkeit, Muskelschmerzen, seborrhoische Dermatitis, Erbrechen, Inappetenz, Übelkeit, Parästhesien, Veränderungen an Haut und Schleimhaut sowie Anämie. Die medizinische Anwendung von Biotin ergebe sich bei der Therapie von Seborrhoe, Akne und Furunkulose. Die zugelassene Arzneispezialität "Biojad-Dragees" enthalte u. a. 0,5 mg Biotin pro Dragee. Vitamin D werde im menschlichen Körper zu mehreren Metaboliten umgewandelt. Zum Teil seien diese Metaboliten sehr wirksam. Vitamin D-Mangel verursache Rachitis. Ein Überangebot an Vitamin-D könne zu einer Vergiftung führen. Die angeführten pharmakologischen Wirkungen seien auf Grund der qualitativen und quantitativen Zusammensetzung des Produktes auch zu erwarten. Die vorliegende Dosierung bewege sich in jenem Rahmen, der in der erwähnten Fachliteratur zur Vorbeugung und Behandlung entsprechender Mangelkrankheiten beschrieben sei. Das Produkt sei nach der allgemeinen Verkehrsauffassung als Arzneimittel und in der Folge als zulassungspflichtige Arzneispezialität zu beurteilen. Ein Inverkehrbringen sei daher erst nach der erfolgten Zulassung als Arzneispezialität statthaft; eine derartige Zulassung liege jedoch nicht vor. Die Ausführungen des Beschwerdeführers, das Produkt werde in Deutschland erzeugt und könne in der EU als Lebensmittel rechtmäßig in Verkehr gebracht werden, sowie der Hinweis auf den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht würden ins Leere gehen. Denn nationale Handelsregelungen und technische Vorschriften seien nach den Artikeln 30 bis 36 EGV zu beurteilen, solange es keine spezifische Gemeinschaftsregelung (Harmonisierungsmaßnahme) auf dem betreffenden Gebiet gebe. Im Arzneimittelbereich habe sich ein auf der Richtlinie 65/65/EWG aufbauendes, auf dem Prinzip der Produktzulassung beruhendes Regelungssystem zur Harmonisierung einschlägiger Reglementierungen etabliert. Durch die entsprechenden Gemeinschaftsregelungen werde jedoch der Bereich der Einstufung von Arzneimitteln nicht abschließend determiniert; vielmehr sei die nähere Ausführung gemeinschaftlich vorgegebener Rahmenbestimmungen der nationalen Regelungskompetenz zugewiesen. Bezüglich der Beurteilung von Arzneimitteln ergebe sich daher, dass aus anderen Mitgliedstaaten eingeführte Erzeugnisse sehr wohl im nationalen Recht eines Mitgliedstaates den für Arzneimittel geltenden Regelungen unterworfen werden dürften.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde; darin wird Rechtswidrigkeit des Inhalts sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht. Der Beschwerdeführer erachtet sich in seinem Recht auf Nichtuntersagung einer gemäß § 18 Abs. 1 LMG als Verzehrprodukt angemeldeten Ware verletzt.
Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und beantragte in ihrer Gegenschrift die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Der Beschwerdeführer strebt im Verwaltungsverfahren die Zulassung (Nichtuntersagung) seines Produktes als Verzehrprodukt an.
Verzehrprodukte sind Stoffe, die dazu bestimmt sind, von Menschen gegessen, gekaut oder getrunken zu werden, ohne überwiegend Ernährungs- oder Genusszwecken zu dienen oder Arzneimittel zu sein (§ 3 LMG).
§ 3 LMG setzt nach seinem letzten Halbsatz für die Verzehrprodukteigenschaft voraus, dass es sich nicht um ein Arzneimittel handelt.
Die Frage, ob ein Arzneimittel vorliegt, ist anhand der durch
§ 1 Abs. 1 AMG gegebenen Definition zu lösen.
Danach sind "Arzneimittel"
"Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die nach der allgemeinen Verkehrsauffassung dazu dienen oder nach Art und Form des Inverkehrbringens dazu bestimmt sind, bei Anwendung an oder im menschlichen oder tierischen Körper
1. Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhafte Beschwerden zu heilen, zu lindern, zu verhüten oder zu erkennen,
2. die Beschaffenheit, den Zustand oder die Funktionen des Körpers oder seelische Zustände erkennen zu lassen,
3. vom menschlichen oder tierischen Körper erzeugte Wirkstoffe oder Körperflüssigkeiten zu ersetzen,
4. Krankheitserreger, Parasiten oder körperfremde Stoffe abzuwehren, zu beseitigen oder unschädlich zu machen oder
5. die Beschaffenheit, den Zustand oder die Funktionen des Körpers oder seelische Zustände zu beeinflussen."
Nach § 1 Abs. 3 Z. 2 AMG sind Verzehrprodukte im Sinne des LMG, sofern sie nach Art und Form des Inverkehrbringens nicht dazu bestimmt sind, die Zweckbestimmungen des Abs. 1 Z. 1 bis 4 zu erfüllen, keine Arzneimittel.
§ 1 Abs. 1 AMG stellt für das Vorliegen eines "Arzneimittels" somit - alternativ - auf zwei verschiedene Kriterien ab, nämlich darauf, ob Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen "nach der allgemeinen Verkehrsauffassung dazu dienen" (objektive Zweckbestimmung) oder "nach Art und Form des Inverkehrbringens dazu bestimmt sind" (subjektive Zweckbestimmung), bei Anwendung am oder im menschlichen oder tierischen Körper die in den Z. 1 bis 5 beschriebenen Wirkungen hervorzurufen bzw. Funktionen zu erfüllen. Das Vorliegen des subjektiven Kriteriums bedingt unabhängig davon, ob auch die objektive Zweckbestimmung bejaht werden kann, schon für sich allein die Einstufung eines Produkts als Arzneimittel. Aus § 1 Abs. 3 Z. 2 AMG folgt allerdings, dass ein Produkt, auf das die Voraussetzungen des § 3 LMG zutreffen, und das nach seiner subjektiven Zweckbestimmung (nur) dazu bestimmt ist, Wirkungen im Sinne des § 1 Abs. 1 Z. 5 AMG zu erzielen, kein Arzneimittel ist. Hingegen kann eine Ware nicht als Verzehrprodukt beurteilt werden, wenn sie objektiv geeignet oder subjektiv dazu bestimmt ist, die in § 1 Abs. 1 Z. 1 bis 4 AMG genannten Wirkungen zu erfüllen (vgl. z.B. das Erkenntnis vom 27. August 2002, Zl. 99/10/0176, und die dort zitierte Vorjudikatur).
Die mit dem angefochtenen Bescheid ausgesprochene Untersagung, das von der beschwerdeführenden Partei angemeldete Produkt als Verzehrprodukt in Verkehr zu bringen, beruht auf der Bejahung der Arzneimitteleigenschaft auf der Grundlage der objektiven Zweckbestimmung des Produkts. Die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides in Ansehung der Untersagung des Inverkehrbringens des Produktes als Verzehrprodukt hängt somit davon ab, ob dem Produkt objektiv-arzneiliche Wirkungen im Sinne des § 1 Abs. 1 Z. 1 bis 4 AMG zukommen.
Der Verwaltungsgerichtshof hatte sich mit der Frage der Arzneimitteleigenschaft von Vitaminpräparaten auf Grund ihrer objektiven Zweckbestimmung bereits mehrfach zu befassen (vgl. die Erkenntnisse vom 28. April 1997, Zl. 95/10/0131 und Zl. 96/10/0239, vom 7. September 1998, Zl. 97/10/0242, vom 19. Oktober 1998, Zl. 97/10/0152 und Zl. 97/10/0043, sowie vom 9. Oktober 2000, Zl. 2000/10/0075). Der Verwaltungsgerichtshof vertrat die Auffassung, die Begründung eines Bescheides, mit dem das Inverkehrbringen eines Produktes als Verzehrprodukt deshalb untersagt werde, weil dem Produkt objektiv-arzneiliche Wirkungen im Sinne des § 1 Abs. 1 Z. 1 bis 4 AMG zukommen, entspreche nur dann dem Gesetz, wenn dargelegt wird, welche objektiv-arzneilichen Wirkungen im konkreten Fall, insbesondere auf Grund des Gehaltes an bestimmten Substanzen, unter der Annahme des bestimmungsgemäßen Gebrauches zu erwarten sind. Ein Bescheid, der lediglich auf der nicht zum Gehalt an bestimmten Inhaltsstoffen in Beziehung gesetzten Annahme beruht, die den Inhaltsstoffen im Allgemeinen zukommenden pharmakologischen Wirkungen seien "auf Grund der qualitativen und quantitativen Zusammensetzung des Produktes auch zu erwarten", entbehre einer nachvollziehbaren Begründung.
Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat im Urteil vom 29. April 2004, C-150/00 (Kommission/Österreich), Folgendes ausgesprochen:
"Die Republik Österreich hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 28 EG verstoßen, dass sie Vitamin- oder Mineralstoffpräparate, die in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig als Nahrungsergänzungsmittel hergestellt oder in den Verkehr gebracht werden, durchgängig als Arzneimittel einstuft, wenn ihr Gehalt an Vitaminen außer den Vitaminen A, C, D oder K oder an Mineralstoffen außer solchen der Gruppe Chromate die einfache Tagesdosis dieser Nährstoffe überschreitet oder wenn sie, unabhängig von der Dosierung, die Vitamine A, D oder K enthalten."
In den Urteilsgründen (Rn 63) legte der EuGH u.a. Folgendes dar:
"Da Vitamine und Mineralstoffe gewöhnlich als Stoffe definiert werden, die in ganz geringer Menge für die tägliche Ernährung und das ordnungsgemäße Funktionieren des Organismus unbedingt erforderlich sind, können sie im Allgemeinen nicht als Medikamente angesehen werden, soweit sie nur in kleinen Mengen eingenommen werden. Dagegen ist unstreitig, dass Vitamin- oder Mineralstoffpräparate bisweilen, im Allgemeinen in starken Dosen, zu therapeutischen Zwecken bei bestimmten Krankheiten verwendet werden, deren Ursache nicht der Vitamin- oder Mineralstoffmangel ist. In diesen Fällen stellen diese Präparate unbestreitbar Arzneimittel dar (Urteil Van Bennekom, Randnrn. 26 und 27)."
Der EuGH verwies ferner (Rn 64, 65) auf seine ständige Rechtsprechung, wonach es den nationalen Behörden obliege,
"von Fall zu Fall zu entscheiden, ob ein Vitamin- oder Mineralstoffpräparat als Arzneimittel einzustufen ist, und dabei alle seine Merkmale, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen Eigenschaften - so, wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen -, die Modalitäten seiner Anwendung, den Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann, zu berücksichtigen (u.a. Urteile Van Bennekom, Randnr. 29, vom 21. März 1991 in der Rechtssache C-60/89, Monteil und Samanni, Slg. 1991, I-1547, Randnr. 29, vom 16. April 1991 in der Rechtssache C-112/89, Upjohn, Slg. 1991, I-1703, Randnr. 23, und Kommission/Deutschland, Randnr.17).
Die zuständigen nationalen Behörden können also auch andere Merkmale als dasjenige berücksichtigen, ob ein Erzeugnis ein Risiko für die Gesundheit der Bevölkerung birgt. Es liegt auf der Hand, dass sich auch ein Erzeugnis, das kein reales Risiko für die Gesundheit darstellt, auf das Funktionieren des Organismus auswirken kann. Für die Einstufung eines Erzeugnisses als Arzneimittel 'nach der Funktion' müssen sich die Behörden daher vergewissern, dass es zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der Körperfunktionen bestimmt ist und somit Auswirkungen auf die Gesundheit im Allgemeinen haben kann (Urteil Upjohn, Randnr.17)."
Im vorliegenden Zusammenhang in den Blick zu nehmen ist weiters der Rn 73, 74 zu entnehmende Hinweis, wonach Präparate, die (bestimmte) Vitamine enthalten, nicht als "Arzneimittel nach der Funktion" einzustufen sind, wenn ihr Gehalt an diesen Stoffen zu gering ist, um ihre Eignung "zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen Körperfunktionen" zu begründen.
Dem Vorbringen der österreichischen Regierung, es komme häufig vor, dass Verbraucher Nahrungsergänzungsmittel in höheren Dosierungen konsumierten als auf den Beipackzetteln angegeben; dies erhöhe das Risiko der Überdosierung, erwiderte der EuGH, es seien
"fast alle Erzeugnisse potenziell gesundheitsschädlich, wenn sie im Übermaß aufgenommen werden, so dass für die Beurteilung, ob ein Erzeugnis ein Arzneimittel 'nach der Funktion' ist, auf die normale Anwendungsweise abzustellen ist" (Rn 75).
Verkehrsbeschränkungen unter Berufung auf Art. 30 EG erforderten es, ein reales Risiko für die Gesundheit der Bevölkerung zu ermitteln und zu bewerten, wofür in jedem Einzelfall eine eingehende Prüfung der mit dem Zusatz der fraglichen Vitamine oder Mineralstoffe möglicherweise verbundenen Folgen erforderlich wäre (Rn 96).
Der Verwaltungsgerichtshof hatte das vorliegende Beschwerdeverfahren bis zur Entscheidung des EuGH im Vertragsverletzungsverfahren ausgesetzt. Nach Ergehen des Urteiles des EuGH ist festzuhalten, dass sich die oben dargelegte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Gesetzmäßigkeit der Bescheidbegründung im Einklang mit der soeben dargestellten Rechtsprechung des EuGH befindet.
Im vorliegenden Beschwerdefall hängt die Entscheidung somit davon ab, ob in der Bescheidbegründung dargelegt wurde, welche objektiv-arzneilichen Wirkungen im konkreten Fall, insbesondere auf Grund des Gehaltes an bestimmten Substanzen, unter der Annahme des bestimmungsgemäßen Gebrauches zu erwarten sind.
Die Beschwerde macht insbesondere mangelnde Schlüssigkeit des von der belangen Behörde ihrem Bescheid zu Grunde gelegten Gutachtens und dem entsprechend Mängel der Begründung des angefochtenen Bescheides geltend. Das Gutachten erschöpfe sich im Wesentlichen in allgemeinen und lapidaren Ausführungen zu den im Produkt enthaltenen Vitaminen. Es werde dargestellt, welche allgemeinen Wirkungen die zugesetzten Vitamine erzielen könnten; weiters würden Mangelerscheinungen und deren Symptome beschrieben. Die arzneiliche Wirksamkeit dieser Vitamine in den im vorliegenden Fall eingesetzten Mengen werde jedoch nicht nachgewiesen; vielmehr werde die Frage der Quantität der Zutaten des gegenständlichen Produkts völlig außer Acht gelassen. Nach der Einstufungspraxis der belangten Behörde würden Vitaminpräparate dann als Verzehrprodukte beurteilt, wenn die Konzentration an Vitamin B1 1,1 mg, an Vitamin B2 1,5 mg, an Vitamin B6 1,6 mg sowie an Biotin 0,1 mg pro Tag nicht übersteige. Das Gutachten lasse nicht erkennen, wieso die geringfügigen Überschreitungen dieser internen Grenzwerte an den Vitaminen B1, B2, B6 und Biotin sowie der minimale Gehalt an Vitamin D3 von 5 µg aus einem Verzehrprodukt ein Arzneimittel machen sollten. Aus dem Umstand, dass Präparate, denen die im gegenständlichen Produkt enthaltenen Vitamine in einer - allerdings nicht genannten - Dosierung zugesetzt seien, therapeutisch verwendet werden könnten, schließe der Bescheid darauf, dass diese Wirkungen unabhängig von der Konzentration auch im vorliegenden Fall zu erwarten seien. Die belangte Behörde beschränke sich auf die unkritische Wiedergabe der Behauptung aus dem Gutachten, dass sich die vorliegende Dosierung "in jenem Rahmen bewegt, der in der erwähnten Fachliteratur zur Vorbeugung und Behandlung entsprechender Mangelkrankheiten beschrieben ist"; die belangte Behörde verabsäume es aber, diesen "Rahmen" unter genauer Angabe der Fundstellen in der erwähnten Fachliteratur zu nennen. Der Bescheid führe keine Erfahrungssätze oder wissenschaftlichen Erkenntnisse an, auf deren Grundlage sich die Schlüssigkeit der Auffassung, dem gegenständlichen Produkt kämen auf Grund seiner qualitativen und quantitativen Zusammensetzung pharmakologische Wirkungen zu, überprüfen ließe, und vermöge somit die Einstufung des gegenständlichen Produkts als Arzneimittel nicht zu begründen. Die belangte Behörde wäre umso mehr verpflichtet gewesen, die Frage der Wirksamkeit der zugesetzten Mengen an verwendeten Vitaminen zu klären und schlüssig und überprüfbar darzulegen, als der Beschwerdeführer in seiner Stellungnahme sehr konkrete Behauptungen aufgestellt habe. Obwohl damit ausdrücklich vorgebracht worden sei, dass die verwendeten Vitamine in der eingesetzten Konzentration arzneilich nicht wirksam seien, sodass das Produkt nicht als Arzneimittel einzustufen gewesen sei, behaupte die belangte Behörde, der Beschwerdeführer hätte keine Argumente vorgebracht, die die Einstufung als Arzneimittel in Frage stellen könnten. Die Behörde hätte aber nachvollziehbar darlegen müssen, ab welcher Konzentration bestimmte Inhaltsstoffe arzneilich wirksam seien. Weiters seien die tatsächliche Dosierung und die Aufnahmemenge festzustellen sowie auszuführen, dass diese arzneilichen Wirkungen auch in der konkreten Zusammensetzung gegeben seien.
Die Beschwerde ist mit ihrem Vorwurf von Ermittlungs- und Feststellungsmängeln im Recht. Im Gutachten und der auf diesem aufbauenden Bescheidbegründung werden (im Wesentlichen) Wirkungen der im gegenständlichen Produkt enthaltenen Substanzen beschrieben, ohne diese Darlegungen zum Gehalt des vorliegenden Produkts an bestimmten Inhaltsstoffen konkret in Beziehung zu setzen; weiters werden die bei Vitaminmangelzuständen im Allgemeinen auftretenden Symptome beschrieben. Außerdem wird dargelegt, dass Vitamin B6, Vitamin B1 und Biotin auch therapeutisch verwendet würden; hingewiesen wird in diesem Zusammenhang auf als Arzneispezialitäten zugelassene Produkte, die hinsichtlich der Tagesdosis von Vitamin B6 dem gegenständlichen Produkt "vergleichbar" seien, sowie auf eine Arzneispezialität, die u.a. 0,5 mg Biotin pro Dragee enthalte.
Diese Ausführungen entsprechen nicht den oben dargelegten Anforderungen an die gesetzmäßige Begründung eines Bescheides, mit dem das Inverkehrbringen eines Produktes als Verzehrprodukt deshalb untersagt wird, weil dem Produkt objektiv-arzneiliche Wirkungen im Sinne des § 1 Abs. 1 Z. 1 bis 4 AMG zukommen; denn es fehlen konkrete Feststellungen, wonach dem Produkt im Hinblick auf seine konkrete Zusammensetzung, also seinen quantitativen Gehalt an bestimmten Stoffen, bei bestimmungsgemäßer Verwendung (der Einnahmeempfehlung entsprechend) eine objektiv-arzneiliche Wirkung zukommt, mit anderen Worten, dass es auf Grund seines Gehaltes an bestimmten Inhaltsstoffen bei "normalem" Gebrauch "zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen Körperfunktionen" im Sinne der oben referierten Rechtsprechung des EuGH geeignet sei.
Der Hinweis auf einzelne Bestandteile anderer Vitaminpräparate, die als Arzneimittel zugelassen sind, kann konkrete, ins Einzelne gehende Feststellungen in der oben aufgezeigten Richtung nicht ersetzen. Zu der hier entscheidenden Frage nach den Wirkungen des gegenständlichen Produkts auf Grund seiner konkreten quantitativen Zusammensetzung beschränkt sich der Bescheid auf die Annahme, dass "die angeführten pharmakologischen Wirkungen auf Grund der qualitativen und quantitativen Zusammensetzung des Produktes auch zu erwarten sind", und den Hinweis, dass sich die vorliegende Dosierung in jenem (allerdings nicht genannten) Rahmen bewege, der in der angeführten (nicht jedoch unter Angabe der genauen Fundstellen wiedergegebenen) Fachliteratur zur Vorbeugung und Behandlung entsprechender Mangelkrankheiten beschrieben sei. Erfahrungssätze oder wissenschaftliche Erkenntnisse, auf deren Grundlage sich die Schlüssigkeit der Annahme, dem Produkt kämen bei Einhaltung der Einnahmeempfehlungen objektiv-arzneiliche Wirkungen zu, überprüfen ließe, werden jedoch nicht angeführt.
Der angefochtene Bescheid war daher - ohne auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen - gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 18. Mai 2004
Schlagworte
Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4Besondere Rechtsgebiete DiversesEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2004:2004100076.X00Im RIS seit
23.06.2004Zuletzt aktualisiert am
29.03.2012