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62 Arbeitsmarktverwaltung;Norm
AlVG 1977 §16 Abs1 litg;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bernard und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Sulyok, Dr. Strohmayer und Dr. Köller als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Müller, über die Beschwerde des A in W, vertreten durch Dr. Hans Schwarz, Rechtsanwalt in 1100 Wien, Favoritenstraße 108/3, gegen den auf Grund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien vom 2. Oktober 2001, GZ. LGSW/Abt. 10-AlV/1218/56/2001-7102, betreffend Nachsicht vom Ruhen des Anspruches auf Notstandshilfe, zu Recht erkannt:
Spruch
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
Der Beschwerdeführer hat dem Bund (Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit) Aufwendungen in der Höhe von EUR 381,90 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer steht seit 1993 im Bezug von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung.
In der Zeit von 15. Juli 2001 bis 19. August 2001 befand sich der Beschwerdeführer im Sudan. Am Tag nach seiner Rückkehr stellte er bei der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice das Ansuchen, Nachsicht vom Ruhen der Notstandshilfe für die Dauer seines Auslandsaufenthaltes zu gewähren. Als berücksichtigungswürdigen Grund, weshalb Nachsicht zu erteilen sei, führte der Beschwerdeführer wörtlich an:
"weil mein Kind Ferien hat und in den Urlaub fahren möchte, dies ist der Wunsch meines Kindes."
Mit Bescheid vom 22. August 2001 sprach die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien aus, dass der Anspruch des Beschwerdeführers auf Notstandshilfe gemäß § 38 iVm § 16 Abs. 1 lit. g AlVG für den Zeitraum von 15. Juli 2001 bis 19. August 2001 ruhe. Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer im genannten Zeitraum im Ausland gewesen sei.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Berufung. Er führte aus, das Ruhen des Anspruches auf Notstandshilfe sei gemäß § 16 Abs. 3 AlVG bei Vorliegen berücksichtigungswürdiger Gründe, worunter insbesondere zwingende familiäre Gründe fielen, auf Antrag nachzusehen. Sowohl seine Eltern und Geschwister als auch die Familie seiner Ehefrau seien nicht in Österreich, sondern im Sudan aufhältig. Seit vielen Jahren sei es dem Beschwerdeführer nicht möglich gewesen, seine Familie zu sehen. Da es der größte Wunsch seines siebenjährigen Sohnes gewesen sei, einmal seine im Sudan lebende Familie kennen zu lernen, habe er sich entschlossen, ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Das persönliche Kennenlernen bzw. regelmäßige Treffen der eigenen Familie sei ebenso wie die Verehelichung oder das Begräbnis eines Familienangehörigen als zwingender familiärer Grund iSd § 16 Abs. 3 AlVG anzusehen.
Mit dem nunmehr beim Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde der Berufung des Beschwerdeführers keine Folge. In der Begründung führte sie nach einer Darstellung des Verwaltungsgeschehens aus, eine Nachsicht bei Auslandsaufenthalten sei nur im Falle von zwingenden familiären Gründen vorgesehen. Die Tatbestände, die zu einer Nachsicht des Ruhens iSd § 16 Abs. 3 AlVG führen könnten, seien analog zu den entsprechenden Bestimmungen des Kollektivvertrages für das eisen- und metallverarbeitende Gewerbe geregelt. Demnach könnten beispielsweise anlässlich des Ablebens und der Teilnahme an der Bestattung eines Elternteils, des Ehepartners oder Lebensgefährten sowie eines Kindes drei Tage Nachsicht gewährt. Im Besuch von Familienangehörigen im Ausland erkenne die belangte Behörde keinen zwingenden familiären Grund iSd § 16 Abs. 3 AlVG.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde mit dem Begehren, ihn kostenpflichtig aufzuheben.
Der Beschwerdeführer führt im Wesentlichen aus, dass die der belangten Behörde in § 16 Abs. 3 AlVG eingeräumte Ermessensentscheidung einer einzelfallbezogenen Prüfung bedurft hätte. Die belangte Behörde habe es jedoch unterlassen, sich mit dem konkreten Einzelfall auseinander zu setzen und habe bei der Auslegung des § 16 Abs. 3 AlVG eine kollektivvertragliche Bestimmung für den Fall der Dienstverhinderung aus wichtigen Gründen analog angewendet. Die Bescheidbegründung enthalte keinerlei Anhaltspunkte dafür, weshalb die belangte Behörde gerade den Kollektivvertrag für das eisen- und metallverarbeitende Gewerbe herangezogen habe. Die in diesem Kollektivvertrag genannten wichtigen Gründe, die trotz Entgeltfortzahlung zur Freistellung von der Arbeit berechtigen würden, seien nicht mit jenen Gründen vergleichbar, die den Auslandsaufenthalt eines seit vielen Jahren Arbeitslosen rechtfertigen könnten. Bei der Interpretation der in § 16 Abs. 3 AlVG genanten "zwingenden familiären Gründe" sei vielmehr Art. 8 EMRK, der auch das Recht auf Familienbesuch gewährleiste, heranzuziehen. Bei der Ermessensentscheidung der belangten Behörde seien im Hinblick auf die Nichtverfügbarkeit des Beschwerdeführers während seines Auslandsaufenthaltes sowohl die Dauer seiner bisherigen Arbeitslosigkeit, die aktuelle Arbeitsmarktsituation als auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich gerade im Zeitraum seiner Abwesenheit eine Beschäftigung ergeben hätte, zu berücksichtigen gewesen. Zudem sei eine Interessensabwägung vorzunehmen gewesen, bei der die familiären Gründe dem Interesse der Versichertengemeinschaft an einer raschen Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt gegenüber zu stellen gewesen wären.
Dadurch, dass sich die belangte Behörde nicht mit den konkreten Umständen des Einzelfalles auseinander gesetzt und keine Abwägung der für und gegen eine Nachsichtserteilung sprechenden Argumente vorgenommen habe, habe sie den angefochtenen Bescheid sowohl mit einer Rechtswidrigkeit des Inhaltes als auch mit einer Rechtswidrigkeit infolge Verletzung der Verfahrensvorschriften belastet.
Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde als unbegründet beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Nach § 16 Abs. 1 lit. g AlVG ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld während des Aufenthaltes im Ausland, soweit nicht Abs. 3 oder Regelungen auf Grund internationaler Verträge anzuwenden sind.
Gemäß § 16 Abs. 3 AlVG ist das Ruhen des Arbeitslosengeldes gemäß Abs. 1 lit. g auf Antrag des Arbeitslosen bei Vorliegen berücksichtigungswürdiger Umständen nach Anhörung des Regionalbeirates bis zu drei Monate während eines Leistungsanspruches (§ 18) nachzusehen. Berücksichtungswürdige Umstände sind Umstände, die im Interesse der Beendigung der Arbeitslosigkeit gelegen sind, insbesondere wenn sich der Arbeitslose ins Ausland begibt, um nachweislich einen Arbeitsplatz zu suchen oder um sich nachweislich beim Arbeitgeber vorzustellen oder um sich einer Ausbildung zu unterziehen, oder Umstände, die auf zwingenden familiären Gründen beruhen.
Gemäß § 38 AlVG sind diese Bestimmungen auf die Notstandshilfe sinngemäß anzuwenden.
§ 16 AlVG sah in der Stammfassung BGBl. Nr. 609/1977 keine Möglichkeit der Nachsicht vom Ruhen des Arbeitslosengeldes bei einem Auslandsaufenthalt des Arbeitslosen vor. Mit der Novelle BGBl. Nr. 380/1978 wurde der Behörde die im freien Ermessen liegende Möglichkeit eingeräumt, bei Auslandsaufenthalten des Arbeitslosen vom Ruhen des Arbeitslosengeldes abzusehen, wenn sich der Arbeitslose ins Ausland begibt, um nachweislich einen Arbeitsplatz zu suchen oder um sich nachweislich bei einem Arbeitgeber vorzustellen. Durch die Novelle BGBl. Nr. 615/1987 wurde einerseits im Abs. 3 des § 16 leg. cit. anstelle der Ermessensentscheidung durch die Wendung "ist ... nachzusehen" die Nachsicht vom Ruhen des Arbeitslosengeldes bei Auslandsaufenthalt bei Vorliegen von berücksichtigungswürdigen Umständen zwingend geregelt. Andererseits wurden als berücksichtigungswürdige Umstände auch Umstände, die auf zwingenden familiären Gründen beruhen, in den Abs. 3 aufgenommen. In der Regierungsvorlage (282 Blg XVII GP NR, 9) wird hiezu ausgeführt:
"In Hinkunft soll eine Nachsicht vom Ruhen des Arbeitslosengeldes bei einem Auslandsaufenthalt auch dann erfolgen, wenn sich der Arbeitslose aus zwingenden familiären Gründen (z.B. Verehelichung, Begräbnis von Familienangehörigen) im Ausland aufgehalten hat."
Nach Dirschmied/Pfeil (AlVG, 4. Erg-Lfg. § 16 Erl.6.2) schließt die beispielhafte Aufzählung in den Materialien die Nachsicht bei Teilnahme an anderen nach Herkommen und Sitte bedeutenden Familienereignissen nicht aus.
In der Judikatur wurden weder die Zahnbehandlung im Ausland (vgl. das hg. Erkenntnis vom 17. Dezember 1999, 99/02/0273) noch die "Unterstützung des Sohnes bei der Absolvierung der Matura und dem Beginn des Studiums" (vgl. das hg. Erkenntnis vom 8. März 1994, 93/08/0110) als zwingende familiäre Gründe angesehen.
Der Wortlaut und die dargestellten Motive der Gesetzwerdung dieser Bestimmung zeigen, dass nur in Ausnahmefällen familiäre Gründe als berücksichtigungswürdige Umstände für die Erteilung der Nachsicht vom Ruhen des Anspruches auf Geldleistungen aus der Arbeitslosenversicherung darstellen können. Wenn im vorliegenden Fall die belangte Behörde die vom Beschwerdeführer vorgetragenen Gründe, seinem Sohn das Kennenlernen seiner Großeltern zu ermöglichen, nicht als zwingende familiäre Gründe im Sinne des § 16 Abs. 3 AlVG angesehen hat, kann ihr nicht mit Erfolg entgegengetreten werden. Die Nichterteilung der Nachsicht vom Ruhen bzw. das Ruhen der Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung stellen entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers keinen Eingriff in das von ihm auf Art. 8 EMRK gestützte Recht auf Familienbesuch dar.
Die Beschwerde erwies sich daher als unbegründet und war gemäß § 42 Abs. 1 VwGG abzuweisen.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003.
Wien, am 26. Mai 2004
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2004:2001080182.X00Im RIS seit
02.07.2004