Index
40/01 Verwaltungsverfahren;Norm
AsylG 1997 §7;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Berger und Dr. Pfiel als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Trefil, über die Beschwerde des C in L (geboren 1981), vertreten durch Dr. Wolfgang Vacarescu, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Jakominiplatz 16/II, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 6. Februar 2001, Zl. 219.096/8-I/02/01, betreffend §§ 7 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein am 10. März 1981 geborener Staatsangehöriger der Türkei kurdischer Abstammung, reiste am 8. August 2000 in das Bundesgebiet ein und stellte am 10. August 2000 einen Asylantrag. Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 29. August 2000 führte er im Wesentlichen aus, er sei "nicht eingetragenes Mitglied der HADEP" . Einer seiner Onkel, der für die PKK gekämpft habe, sei 1992 getötet worden. Er selbst sei etwa ab 1995, wenn er zum Parteilokal der HADEP gegangen sei, immer wieder von der Polizei angehalten, festgenommen und auch geschlagen worden. Er habe sich darüber auch - erfolglos - bei einer Polizeidienststelle beschwert. Man habe seitens der Polizei versucht, ihn zur Zusammenarbeit zu bewegen, was er aber abgelehnt habe. Außerdem habe es Zusammenstöße mit "faschistischen Jugendlichen" gegeben. Das genaue Datum der Übergriffe könne er nicht benennen. Würde er in die Türkei zurückkehren, würde "das Gleiche von vorne beginnen", man würde ihn "nicht in Ruhe lassen".
Das Bundesasylamt wies den Asylantrag mit Bescheid vom 15. September 2000 gemäß § 6 Z 3 AsylG ab und stellte fest, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei sei zulässig. Das Vorbringen des Beschwerdeführers qualifizierte das Bundesasylamt als unglaubwürdig.
Der Beschwerdeführer erhob Berufung, über die der unabhängige Bundesasylsenat (die belangte Behörde) am 6. November 2000 eine mündliche Berufungsverhandlung durchführte, in der der Beschwerdeführer und sein in Österreich wohnhafter Bruder einvernommen wurden sowie von einem "Sachverständigen für die politische Lage in der Türkei" zur Situation in der Türkei und zum Bestehen einer Verfolgungsgefahr für den Beschwerdeführer Stellung genommen wurde. Dem Beschwerdeführer wurde Gelegenheit zu einer Stellungnahme zu den Ausführungen des Sachverständigen gegeben, er äußerte sich jedoch dahingehend, dass er weder Fragen an diesen habe noch eine Stellungnahme abgeben könne. In der Folge wurde die Beendigung des Beweisverfahrens und daran anschließend die Verkündung des Berufungsbescheides protokolliert.
Mit diesem Bescheid hob die belangte Behörde den erstinstanzlichen Bescheid auf und verwies die Angelegenheit zur neuerlichen Durchführung des Verfahrens und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurück. Begründend führte sie in der schriftlichen Ausfertigung des Berufungsbescheides aus, das Vorbringen des Beschwerdeführers in der mündlichen Berufungsverhandlung sei im Hinblick auf "seine Mitwirkung im Rahmen der HADEP, seine Teilnahme an politischen Aktionen und der gegen ihn gerichteten Übergriffe durch türkische Polizeikräfte und Anhänger der (faschistischen) Partei MHP ('Graue Wölfe') ... stimmig und daher glaubwürdig" gewesen. Ebenso verhalte es sich mit seinen Angaben betreffend Verfolgungshandlungen gegen Familienangehörige. Nicht glaubwürdig seien hingegen aus näher dargestellten Gründen die in der Berufungsverhandlung gemachten Angaben des Beschwerdeführers in Bezug auf den ihm drohenden Militärdienst in der Türkei aufgrund einer bereits erfolgten Ladung durch die Militärbehörde. Der von der belangten Behörde hinsichtlich der politischen und allgemeinen "Menschenrechtslage" in der Türkei festgestellte Sachverhalt stütze sich auf ein in der Berufungsverhandlung erstattetes Gutachten sowie ergänzend auf mehrere im Bescheid angeführte Berichte, mit denen die Ausführungen des Sachverständigen im Wesentlichen übereinstimmen würden. Auf Grundlage des festgestellten Sachverhaltes könne "eine Verfolgungsgefahr für den Berufungswerber im Falle seiner Rückkehr in seine Heimatregion ... nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden"; die Prüfung des Vorliegens einer "innerstaatlichen Fluchtalternative" sei "nicht Gegenstand im Rahmen der Beurteilung eines Asylantrages als offensichtlich unbegründet". Der erstinstanzliche Bescheid sei daher zu Unrecht auf § 6 AsylG gestützt worden und somit aufzuheben gewesen.
Noch vor Zustellung der schriftlichen Ausfertigung dieses Berufungsbescheides wies das Bundesasylamt mit Bescheid vom 22. November 2000 - ohne den Beschwerdeführer ergänzend einzuvernehmen oder andere Verfahrensschritte zu setzen - den Asylantrag neuerlich - nunmehr gestützt auf § 7 AsylG - ab und stellte gemäß § 8 AsylG die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei fest. Das Bundesasylamt legte diesem Bescheid als Beweismittel die "niederschriftliche Berufungsverhandlung vor dem unabhängigen Bundesasylsenat", die Angaben bei der Ersteinvernahme sowie "das hieramtige Länderwissen" zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers zugrunde und führte aus, dem gesamten Vorbringen sei "kein Umstand entnehmbar, der auch nur ansatzweise den Glaubwürdigkeitskriterien standhält". Beim Beschwerdeführer liege im Hinblick auf sein Vorbringen in der Berufungsschrift und in der Verhandlung vor dem unabhängigen Bundesasylsenat ein "bloßes gesteigertes Vorbringen" vor; diesem sei die Glaubwürdigkeit abzusprechen.
Der Beschwerdeführer erhob am 11. Dezember 2000 neuerlich Berufung, in der er unter anderem beantragte, eine mündliche Berufungsverhandlung durchzuführen und ihn einzuvernehmen. Das dem erstinstanzlichen Bescheid zugrunde gelegte "Länderwissen" sei ihm nicht zur Kenntnis gebracht worden. Laut einer Aussendung des "Deutschen Menschenrechtsvereins" würden in die Türkei abgeschobene Kurden "immer wieder gefoltert". Ein Kurde, dessen Asylantrag in Deutschland abgelehnt worden sei, sei nach seiner Rückkehr in die Türkei festgenommen, gefoltert und "wegen Separatismus" vor Gericht gestellt worden; im Falle eines Schuldspruches drohe ihm die Todesstrafe. Zur Zeit befinde sich die "Eskalation zwischen türkischen Behörden und kurdischen Angehörigen auf dem Höhepunkt". Aufgrund der Festnahme des PKK-Führers Öcalan am 16. Februar 1999, über den mittlerweile die Todesstrafe verhängt worden sei, sei es zu massiven Unruhen gekommen. Die türkischen Truppen hätten "ihre Offensive in den Kurdengebieten und an der irakischen Grenze sowie im Norden Iraks ausgeweitet". Es seien (bis zum Oktober 1999) zahlreiche Kurden getötet worden. Der Beschwerdeführer verweigere den Militärdienst, weil das Risiko, als Kurde während des Militärdienstes asylrelevanten Übergriffen ausgesetzt zu sein, groß sei, er voraussichtlich in Kampfgebieten zum Einsatz käme, wo er gegen Angehörige der kurdischen Volksgruppe kämpfen müsse, und die türkische Armee schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen begehe sowie "die Völkermordkonvention verletzt". Der Beschwerdeführer habe sich auch politisch für die HADEP engagiert; im Falle seiner Rückkehr habe er mit einer unmenschlichen Behandlung und allenfalls einer langjährigen Haftstrafe wegen Wehrdienstverweigerung zu rechnen.
Ohne eine (neuerliche) Berufungsverhandlung durchzuführen, wies die belangte Behörde mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 6. Februar 2001 die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG ab und erklärte seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Türkei gemäß § 8 AsylG für zulässig. Begründend wurde im Wesentlichen - gleichlautend mit dem am 6. November 2000 verkündeten und am 20. Dezember 2000 ausgefertigten (ersten) Berufungsbescheid - ausgeführt, das Vorbringen des Beschwerdeführers sei im Hinblick auf "seine Mitwirkung im Rahmen der HADEP, seine Teilnahme an politischen Aktionen und der gegen ihn gerichteten Übergriffe durch türkische Polizeikräfte und Anhänger der (faschistischen) Partei MHP ('Graue Wölfe') ... stimmig und daher glaubwürdig" gewesen. Der Beschwerdeführer habe im April 1999 eine blutende Kopfverletzung erlitten. Der letzte Übergriff sei im Sommer 1999 erfolgt. Auch die Angaben betreffend Verfolgungshandlungen gegen Familienangehörige (Tötung zweier Onkel, die für die PKK gekämpft hätten, Inhaftierung zweier weiterer Verwandter und Tätlichkeiten - auch von Seiten des türkischen Militärs - gegenüber der Familie eines ermordeten Onkels) seien glaubwürdig gewesen. Nicht glaubwürdig seien hingegen aus näher dargestellten Gründen die Angaben des Beschwerdeführers in Bezug auf den ihm drohenden Militärdienst in der Türkei aufgrund einer bereits erfolgten Ladung durch die Militärbehörde. Festgestellt werde, dass der Beschwerdeführer keine Ladung und keinen Einberufungsbefehl von den türkischen Militärbehörden erhalten habe, noch habe bislang ein Kontakt mit diesen stattgefunden. Gegen den Beschwerdeführer sei "bis zu seiner Ausreise" kein behördliches Verfahren anhängig gewesen. Weiters traf die belangte Behörde umfangreiche Feststellungen zur allgemeinen Lage in der Türkei, wobei sie sich einerseits auf ein in der Berufungsverhandlung am 6. November 2000 erstattetes Gutachten sowie andererseits auf mehrere im Bescheid angeführte Berichte stützte, mit denen die Ausführungen des Sachverständigen im Wesentlichen übereinstimmen würden. Auf Grundlage des festgestellten Sachverhaltes könne zwar "eine Verfolgungsgefahr für den Berufungswerber im Falle seiner Rückkehr in seine Heimatregion ... nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden"; allerdings habe seinem Vorbringen nicht entnommen werden können, dass er jener Personengruppe innerhalb der HADEP angehöre, die nach den vorliegenden Berichten als aktive Funktionäre dieser Partei von den türkischen Behörden asylrelevant verfolgt würden. Der Beschwerdeführer habe zwar an HADEP-Veranstaltungen teilgenommen und bei diesen mitgeholfen, jedoch "keine führende Rolle" eingenommen. Der Beschwerdeführer sei zwar in Raufhändel mit politischen Gegnern und türkischen Sicherheitskräften verwickelt gewesen, diese hätten jedoch keine "asylerheblichen Misshandlungen oder sonstige Verfolgung (Inhaftierung etc.)" nach sich gezogen. Es lägen auch keine Anhaltspunkte für eine asylrelevante Verfolgung infolge "Sippenhaft" oder in Anbetracht seiner (künftigen) Ableistung des Militärdienstes vor. Von der neuerlichen Durchführung einer (bereits im Rahmen des vorangegangenen Berufungsverfahrens stattgefundenen) Berufungsverhandlung habe die belangte Behörde abgesehen, weil weder im erstinstanzlichen Verfahren noch in der Berufung ein Sachverhalt neu und in konkreter Weise behauptet worden sei und auch keine neuen Bescheinigungsmittel vorgelegt wurden.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
Der angefochtene Bescheid leidet an einem Verfahrensmangel, weil die belangte Behörde sich in Bezug auf die zur politischen und allgemeinen "Menschenrechtslage" in der Türkei getroffenen Feststellungen nicht nur auf die am 6. November 2000 im ersten Berufungsverfahren (betreffend die Abweisung des Asylantrages nach § 6 AsylG) in Anwesenheit des Beschwerdeführers erstattete Stellungnahme des Sachverständigen gestützt hat, sondern sich auch auf eine Vielzahl von im Bescheid zwar zitierten, dem Beschwerdeführer aber weder in der soeben erwähnten Berufungsverhandlung noch im Rahmen des zweiten Berufungsverfahrens in einer mündlichen Verhandlung vorgehaltenen Berichte stützte.
Ein weiterer Verfahrensmangel liegt vor, weil der Beschwerdeführer in seiner Berufung vom 11. Dezember 2000 ein jedenfalls nicht von vornherein als irrelevant zu erkennendes Vorbringen zur Gefahr der Folterung von in die Türkei abgeschobenen Kurden, zur eskalierenden Situation in den Kurdengebieten und zu seiner behaupteten Wehrdienstverweigerung erstattet hat, auf das von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid nicht eingegangen wurde. Selbst wenn man davon ausgeht, dass das Berufungsvorbringen des Beschwerdeführers in Bezug auf die Eskalation der Auseinandersetzungen zwischen Kurden und dem türkischen Militär infolge der Festnahme und Verurteilung des PKK-Führers Öcalan und die Folgen der behaupteten Wehrdienstverweigerung keinen Sachverhalt darstellten, der in relevanter Weise von den vom Sachverständigen bei seinen Ausführungen in der Verhandlung am 6. November 2000 ohnehin berücksichtigten Umständen abweicht, so gilt dies jedenfalls nicht für das - hinsichtlich einer allfälligen Rückkehrgefährdung zu den Feststellungen der belangten Behörde im Widerspruch stehende - Vorbringen über die Gefahr der Folterung von in die Türkei abgeschobenen Kurden.
Der Beschwerdeführer ist mit diesem Vorbringen den - ohnehin nicht nachvollziehbar begründeten - Feststellungen des Bundesasylamtes wie auch den im ersten Berufungsbescheid von der belangten Behörde getroffenen Feststellungen mit ins Einzelne gehenden Argumenten entgegen getreten. Die Erledigung der Berufung mit einem das Verfahren beendenden Bescheid erforderte schon aus diesem Grund eine mündliche Berufungsverhandlung, die vom Beschwerdeführer in seiner Berufung auch beantragt worden ist (vgl. zum Erfordernis einer schlüssigen Beweiswürdigung im erstinstanzlichen Bescheid und zur Verhandlungspflicht bei Neuerungen - auch im Hinblick auf die hier gegebene Problematik, dass in einem ersten Berufungsverfahren, nicht aber im "zweiten Rechtsgang" eine mündliche Berufungsverhandlung stattgefunden hat -
die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 12. Dezember 2002, Zl. 2000/20/0236, und vom 23. Jänner 2003, Zl. 2002/20/0533, mit zahlreichen Nachweisen; auf die Begründung dieser Erkenntnisse wird gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen, wobei allerdings zu beachten ist, dass im vorliegenden Fall § 67d Abs. 1 AVG noch in der Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 137/2001 anzuwenden war).
Indem in der Beschwerde darauf hingewiesen wird, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in die Türkei festgenommen würde, und dass schon die bloße Einreise eines Kurden im wehrdienstfähigen Alter in die Türkei die Gefahr politisch motivierter Verfolgung mit sich bringen soll, zeigt die Beschwerde - unabhängig von der Würdigung des Vorbringens des Beschwerdeführers über die behauptete Einberufung - auch die Relevanz der erwähnten Verfahrensmängel auf. Hätte der Beschwerdeführer Gelegenheit gehabt, im Rahmen einer Berufungsverhandlung zu den von der belangten Behörde in das Verfahren eingeführten Unterlagen Stellung zu nehmen und hätte sich die belangte Behörde mit dem (insbesondere hinsichtlich einer allfälligen Rückkehrgefährdung von in die Türkei abgeschobenen Kurden) im Widerspruch zu ihren Feststellungen stehenden Berufungsvorbringen in einer Verhandlung auseinander gesetzt, so ist nicht auszuschließen, dass sie in diesem Fall zu einem anderen Bescheid gekommen wäre.
Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 26. Mai 2004
Schlagworte
freie BeweiswürdigungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2004:2001200176.X00Im RIS seit
05.07.2004