TE Vfgh Erkenntnis 2000/11/28 V59/00

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.11.2000
beobachten
merken

Index

90 Straßenverkehrsrecht, Kraftfahrrecht
90/01 Straßenverkehrsordnung 1960

Norm

B-VG Art18 Abs2
StVO 1960 §43 Abs1 litb
Verordnung der BH Urfahr-Umgebung v 21.09.98 betr die Anordnung von Verkehrsbeschränkungen im Gemeindegebiet von Reichenau

Leitsatz

Gesetzwidrigkeit einer Geschwindigkeitsbeschränkung im Gemeindegebiet von Reichenau mangels Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen; keine Erforderlichkeit der Verordnung im Sinne des Gesetzes

Spruch

1. Die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Urfahr-Umgebung vom 21. September 1998, ZVerkR 11/300/18-1998 O/Rb, betreffend die Anordnung von Verkehrsbeschränkungen im Gemeindegebiet Reichenau, kundgemacht am 8. Oktober 1998 durch die entsprechenden Straßenverkehrszeichen, wird als gesetzwidrig aufgehoben.

2. Die Oberösterreichische Landesregierung ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Landesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die Bezirkshauptmannschaft Urfahr-Umgebung erließ am 21. September 1998 eine Verordnung, mit der im Gemeindegebiet Reichenau Verkehrsbeschränkungen angeordnet wurden, die folgenden Wortlaut hat (Hervorhebungen im Original):

"V E R O R D N U N G

betreffend die Anordnung von Verkehrsbeschränkungen

im Gemeindegebiet Reichenau

Gemäß §43 Abs1 litb in Verbindung mit §94 b Straßenverkehrsordnung 1960 wird von der Bezirkshauptmannschaft Urfahr-Umgebung als Straßenaufsichtsbehörde für die

Leonfeldner-Bundesstraße zwischen Strkm. 20,300 und km 21,825

eine

'Geschwindigkeitsbeschränkung 70 km/h'

(§52 a Zif. 10 a und b StVO)

in beide Fahrtrichtungen verordnet.

Die gegenständliche Verordnung wird durch entsprechende Straßenverkehrszeichen kundgemacht und tritt mit deren Aufstellung in Kraft.

Für den Bezirkshauptmann:"

2. Beim Verfassungsgerichtshof ist zur Zahl B1668/99 eine Beschwerde gemäß Art144 B-VG gegen ein Berufungserkenntnis des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom 24. August 1999 anhängig, mit dem über den Beschwerdeführer wegen Verstoßes gegen §52 lita Z10a StVO 1960 gemäß §99 Abs3 lita StVO 1960 eine Geldstrafe von Schilling 4.000,- bzw. eine Ersatzfreiheitsstrafe von 96 Stunden verhängt wurde, weil er am 9. Oktober 1998 um 15.09 Uhr den näher bezeichneten PKW mit näher bezeichnetem Kennzeichen auf der Leonfeldner-Bundesstraße B 126 im Gemeindegebiet Sonnberg im Mühlkreis in Richtung Bad Leonfelden bei Straßenkilometer 21,337 mit einer Geschwindigkeit von 113 km/h gelenkt und dadurch die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h um 43 km/h überschritten habe.

Der Beschwerdeführer erachtet sich wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung in seinen Rechten verletzt.

3. Der Verfassungsgerichtshof ging in seinem Prüfungsbeschluß vom 28. Juni 2000, B1668/99-8, davon aus, daß die Beschwerde zulässig sei, daß die belangte Behörde die in Prüfung genommene Verordnung bei Erlassung des angefochtenen Bescheides anzuwenden hatte und auch der Verfassungsgerichtshof sie bei der Beurteilung der Beschwerde anzuwenden hätte.

4. Der Verfassungsgerichtshof beschloß, die genannte Verordnung gemäß Art139 Abs1 B-VG auf ihre Gesetzmäßigkeit zu prüfen, weil er das Bedenken hegte, daß die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Urfahr-Umgebung vom 21. September 1998, ZVerkR 11/300/18-1998 O/Rb, betreffend die Anordnung von Verkehrsbeschränkungen im Gemeindegebiet Reichenau, nicht erforderlich im Sinn des §43 Abs1 litb Z1 StVO 1960 ist.

5. Die Bezirkshauptmannschaft Urfahr-Umgebung als verordnungserlassende Behörde führte in einer Stellungnahme vom 23. August 2000 - wie bereits im Rahmen ihrer Stellungnahme im zum Prüfungsbeschluß führenden Verfahren B1668/99 - aus, es entspreche den Tatsachen, daß weder aus dem verkehrstechnischen Gutachten vom 14. Juli 1998 noch aus der Stellungnahme der Bundesstraßenverwaltung (Straßenerhalter) vom 7. April 1998 die Notwendigkeit der Erlassung der in Rede stehenden Geschwindigkeitsbeschränkung abgeleitet werden könne. Auch aus den Erhebungen des Bezirksgendarmeriekommandos Urfahr vom 19. Februar 1998 ergebe sich keine Veranlassung, eine derartige Geschwindigkeitsbeschränkung zu erlassen. Aufgrund dieser Entscheidungsgrundlagen hätte die Bezirkshauptmannschaft Urfahr-Umgebung keinesfalls eine Geschwindigkeitsbeschränkung verordnet.

Mit Schreiben vom 27. Februar 1998 bzw. vom 15. September 1998 habe jedoch der zuständige Verkehrslandesrat dem Bezirkshauptmann von Urfahr-Umgebung die dezidierte Weisung erteilt, auf der Leonfeldner-Bundesstraße von Straßenkilometer 20,3 bis 22 eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 70 km/h zu verordnen.

Nachdem die Gemeinden Afiesl, Schönegg, Vorderweißenbach, Bad Leonfelden und einige hundert Autofahrer (Unterschriftenaktion - 2.673 Unterschriften) vehement die Aufhebung der Verordnung verlangt hätten, habe der zuständige Verkehrslandesrat ein neuerliches verkehrstechnisches Gutachten erstellen lassen. Das Gutachten vom 31. Mai 1999 bescheinige neuerlich, daß die derzeit bestehende Geschwindigkeitsbeschränkung wenig zielführend erscheine.

6. Die Oberösterreichische Landesregierung erstattete eine Äußerung, in der unter anderem folgendes ausgeführt wird:

“Die Weisung des Verkehrsreferenten vom 27. Februar 1998 erfolgte nicht willkürlich, sondern war das Ergebnis von Erhebungen, die aus Anlaß eines Schulbusunfalles durchgeführt wurden.

Eine stichprobenartige Geschwindigkeitsmessung, die am 25. Februar 1998 im Unfallbereich vor der Gaststätte 'Gefrorene Pipe', Ortschaft Glashütten, Gemeinde Reichenau, durchgeführt wurde, ergab eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 66,5 bzw. 68 km/h und eine Geschwindigkeit, die von 85% der Fahrzeuglenker eingehalten wird (V85-Geschwindigkeit), in der Höhe von 70 bzw. 71 km/h. Am 26. Februar 1998 wurde im Beisein des Verkehrsreferenten der Oö. Landesregierung ein Lokalaugenschein auf dem gegenständlichen Straßenstück vorgenommen, wobei die zahlreichen Haltestellen von öffentlichen Verkehrsmitteln sowie die Haus- und Firmenzufahrten als Gefahrenquellen erkannt wurden. Von den beigezogenen Eltern und Großeltern des Unfallopfers sowie von Anrainern im Bereich des Gasthauses wurde nicht nur auf die Personenschadensunfälle, die in der Unfallstatistik erfaßt werden, hingewiesen, sondern auch auf die vielen Sachschadensunfälle, von denen die Gendarmerie oft keine Kenntnis erlangt, da die verunfallten Fahrzeuge noch in der Nacht mit dem Traktor aus dem Straßengraben gezogen werden. Das - von der nun in Prüfung gezogenen Verordnung umfaßte - Straßenstück befindet sich in jenem Abschnitt der B 126, auf dessen besondere Gefahren durch das Verkehrszeichen 'Schleudergefahr' hingewiesen wird.

Auf Grund dieser Erhebungen hat der Verkehrsreferent der Oö. Landesregierung der Bezirkshauptmannschaft die Weisung erteilt, ein Verfahren zur Erlassung einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf 70 km/h einzuleiten, das den genauen Bereich, in dem die Geschwindigkeitsbeschränkung verordnet würde, ergeben sollte. Da der Bezirkshauptmannschaft die Ergebnisse der Unfallstatistik bekannt sein mußten, wurde im Schreiben vom 27. Februar 1998 insbesondere auf die Berichte der Anrainer über nicht gemeldete Unfälle hingewiesen. Die Festlegung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit stützte sich auf das Ergebnis der durchgeführten Geschwindigkeitsmessung.

Die Weisung vom 27. Februar 1998 wurde am 15. September 1998 wiederholt, weil nach Ansicht des Verkehrsreferenten die übrigen Entscheidungsgrundlagen nicht geeignet waren, die Erforderlichkeit einer Geschwindigkeitsbeschränkung in Zweifel zu ziehen.

In der Stellungnahme des Bezirksgendarmeriekommandos ist bei sieben von zwölf Unfällen im unmittelbaren Bereich vor und nach dem Gasthaus 'Gefrorene Pipe' (angeführt sind Unfälle zwischen Straßen-km 21,430 und 22,230) angegeben, daß die Fahrgeschwindigkeit unbekannt sei. Der Bezirksgendarmeriekommandant faßte dennoch im Schreiben vom 19.2.1998 die Auflistung dieser Unfälle folgendermaßen zusammen: 'Bei keinem der oben angeführten Verkehrsunfälle dürfte nach ho. Ansicht die Fahrgeschwindigkeit die Ursache für die eingetretenen Unfälle gewesen sein!' Es ist nicht nachvollziehbar, wie die Fahrgeschwindigkeit als nicht unfallverursachend gewertet werden kann, wenn sie unbekannt ist.

...

Die Stellungnahme der Abteilung Straßenbau, Straßenbezirk Mühlviertel, vom 7. April 1998 bezog sich im Wesentlichen auf eine Stellungnahme vom 17. Oktober 1989(!). Es mag sein, daß es die Straßenverwaltung nicht als ihre Aufgabe ansieht, die Unfallsituation zu beobachten, sondern lediglich die örtlichen Gegebenheiten und den Straßenzustand beurteilt. Es mag auch zutreffen, daß die in Frage stehenden 2 km den 'am Besten und am Sichersten ausgebauten Straßenabschnitt der B 126' darstellen. Tatsache ist aber, daß bei km 20,684 durch das Verkehrszeichen 'Schleudergefahr' (einschließlich einer Zusatztafel '3 km') auf die besonderen Gefahren auch dieses Straßenabschnitts hingewiesen wird. Überdies zeigen die Erfahrungen aus der Praxis, daß der Sicherheitsgewinn, der durch gut ausgebaute Straßen zu erreichen wäre, vielfach dadurch wettgemacht wird, daß sich das Geschwindigkeitsniveau erhöht. Gerade wenn - wie hier - aus dem Straßenbild, insbesondere aus dem guten Ausbauzustand der Straße, nicht ersichtlich ist, daß es sich um eine unfallträchtige Strecke handelt, ist eine durch ein Verkehrszeichen angezeigte Geschwindigkeitsbeschränkung erforderlich.

Das Gutachten des straßenverkehrstechnischen Sachverständigen vom 14. Juli 1998 argumentiert ähnlich wie die Straßenverwaltung mit den zu befürchtenden Folgewirkungen. Gestützt auf ein ausführlicheres Meßprotokoll einer Geschwindigkeitsmessung vom 3. März 1998 wird im Wesentlichen damit argumentiert, daß der Großteil der Verkehrsteilnehmer ohnehin jene Geschwindigkeit einhält, die mit einer Geschwindigkeitsbeschränkung zu erreichen wäre. Dem ist entgegenzuhalten, daß die verordnete Geschwindigkeitsbeschränkung anzeigen soll, daß höhere Geschwindigkeiten nicht gefahren werden dürfen, weil sie zu gefährlichen Situationen führen können. Wenn dies aus dem Straßenbild nicht ersichtlich ist, muß es im Interesse der Sicherheit der Straßenbenützer durch ein Verkehrszeichen angezeigt werden.

Eine Vorher- und Nachheruntersuchung des straßenverkehrstechnischen Sachverständigendienstes des Landes vom 31. Mai 1999 bestätigte die Erforderlichkeit der Geschwindigkeitsbeschränkung. In diesem Bericht wurde eine Absenkung der Maßzahlen für die Geschwindigkeit im Ausmaß von 5 bis 8 Stundenkilometer festgestellt. Es wird weiters ausgeführt, daß im Bereich des Gasthauses von einer durchaus angepaßten Fahrgeschwindigkeit gesprochen werden kann, da die Zahl der Überschreiter der Geschwindigkeitsbeschränkung bei etwa einem Viertel des Fahrzeugkollektivs lag. Eine Analyse der Unfallstatistik seit Verordnung der Geschwindigkeitsbeschränkung ergab eine positive Entwicklung. Es waren lediglich zwei Unfälle (26.3.1999 ein Leichtverletzter, 3.4.1999 zwei Leichtverletzte); der Unfall vom 16.1.1999 wurde erst nachgemeldet. Die Geschwindigkeitsbeschränkung hat demnach zu einer Senkung des Geschwindigkeitsniveaus im Bereich des Gasthauses geführt. Es ist daher die Annahme berechtigt, daß Unfälle vermieden werden konnten bzw. die Schwere der Verletzungen von unfallbeteiligten Personen gemildert werden kann.

Für den Bereich (im Sinn der Kilometrierung) vor dem Gasthaus, für den keine Vergleichswerte vorlagen, wurde die Akzeptanz der Geschwindigkeitsbeschränkung als gering eingeschätzt. Rund 70% der Fahrzeuglenker haben die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten. Es wurde daher vorgeschlagen, das längenmäßig verordnete Ausmaß der Geschwindigkeitsbeschränkung auf den unmittelbaren Nahbereich des Gasthauses 'Gefrorene Pipe' zu reduzieren und gefährliche Überholmanöver durch eine strengere Überwachung zu verhindern. Diesem Vorschlag schloß sich auch die Bundesstraßenverwaltung an, die somit ihre frühere Haltung relativierte. In einem Telefonat teilte der damalige Leiter des Straßenbaubezirkes Mühlviertel mit, daß seiner Meinung nach lediglich die Länge der Geschwindigkeitsbeschränkung ein Fehler gewesen wäre (siehe Aktenvermerk vom 17.8.1999). Da sich jedoch eine Reihe von Unfällen vor Verordnung der Geschwindigkeitsbeschränkung auf den angeblich 'geraden' Straßenstücken ereignet hat, bestand aus fachlicher Sicht keine Veranlassung, die Geschwindigkeitsbeschränkung in ihrer Länge zu verkürzen.

Neuerlich bestätigt wurde die Erforderlichkeit der verordneten Maßnahme durch eine im August 2000 durchgeführte Verkehrserhebung. Die Verkehrserhebung zeigt - wie aus den vorgelegten Akten ersichtlich ist - den Straßenverlauf im digitalen Rauminformationssystem, eine Streckenbeschreibung sowie eine Fotodokumentation des Streckenverlaufs mit den Verkehrszeichen, Siedlungszufahrten und Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel. Weiters ist enthalten eine Darstellung der Unfälle mit Personenschaden im Zeitraum vom 1.1.1990 bis 8.10.1998 (Zeitpunkt, zu dem die Verkehrszeichen 'Geschwindigkeitsbeschränkung' aufgestellt wurden), sowie eine Darstellung der Unfälle mit Personenschaden vom 8.10.1998 bis 21.8.2000. Die Örtlichkeiten, an denen sich diese Unfälle ereignet haben, sind jeweils in die Karte eingetragen. Überdies brachte diese Verkehrserhebung zu Tage, daß die erforderlichen Sichtweiten bei zehn Anbindungen nicht gegeben wären, wenn eine Geschwindigkeit von 100 km/h erlaubt wäre. Alle in der Erhebung dargestellten Sachverhalte waren - bis auf die aktuellen Unfallzahlen - schon zum Zeitpunkt der Erlassung der Verordnung bekannt und hätten in dieser Qualität hergestellt werden können.

Die Ausführungen zeigen, daß die in Prüfung gezogene Verordnung auf fachlichen - wenn auch widersprüchlichen - Entscheidungsgrundlagen basiert. Widersprüchliche Entscheidungsgrundlagen bilden jedoch nach Ansicht der Oö. Landesregierung keinen Grund dafür, eine willkürliche Verordnungserlassung anzunehmen. Auf Grund der Entscheidungsgrundlagen (sachlich begründete Weisung des Verkehrslandesrates nach erfolgter Geschwindigkeitsmessung und Lokalaugenschein sowie Stellungnahmen verschiedenster Institutionen) traf die verordnungserlassende Behörde eine Entscheidung. Der vom Verfassungsgerichtshof geforderte Unterschied der Verkehrs- und Umweltverhältnisse zu anderen Straßenstrecken dürfte gegeben sein, da durch das Gefahrenzeichen 'Schleudergefahr' hinreichend dokumentiert scheint, daß sich der von der Verordnung umfaßte Straßenabschnitt wesentlich von anderen Straßenabschnitten der B 126 unterscheidet. Ein weiterer Unterschied resultiert aus den vielen Anbindungen an die Bundesstraßen vor dem Gasthaus 'Gefrorene Pipe', die ohne Geschwindigkeitsbeschränkung nicht die erforderlichen Sichtmöglichkeiten gewähren. Auch wenn diese Erkenntnisse erst bei Folgeuntersuchungen in den Jahren 1999 und 2000 deutlich zu Tage getreten sind, waren sie zum Zeitpunkt der Verordnungserlassung bereits vorhanden. Sie wurden lediglich unzureichend dokumentiert."

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. Es ist offenkundig, daß bei der aufgrund der eingangs angeführten Beschwerde gebotenen Überprüfung des Berufungserkenntnisses des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich auch die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Urfahr-Umgebung vom 21. September 1998, ZVerkR 11/300/18-1998 O/Rb, betreffend die Anordnung von Verkehrsbeschränkungen im Gemeindegebiet Reichenau, anzuwenden ist.

Da auch die sonstigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist das Verordnungsprüfungsverfahren zulässig.

2.1. Die vom Verfassungsgerichtshof in seinem Prüfungsbeschluß geltend gemachten Bedenken gegen die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Urfahr-Umgebung vom 21. September 1998, VerkR 11/300/18-1998 O/Rb, treffen zu.

2.2. §43 Abs1 litb Z1 StVO 1960 sieht die Erlassung von Geschwindigkeitsbeschränkungen für bestimmte Straßenstrecken durch Verordnung vor, "wenn und insoweit es die Sicherheit, Leichtigkeit oder Flüssigkeit des sich bewegenden oder die Ordnung des ruhenden Verkehrs, die Lage, Widmung, Pflege, Reinigung oder Beschaffenheit eines an der Straße gelegenen Gebäudes oder Gebietes oder wenn und insoweit es die Sicherheit eines Gebäudes oder Gebietes und/oder der Personen, die sich dort aufhalten, erfordert".

2.3. Wie der Verfassungsgerichtshof in VfSlg. 8984/1980 und 9721/1983 ausführte und in VfSlg. 13371/1993 und 14051/1995 wiederholte, sind "bei Prüfung der Erforderlichkeit einer Verordnung nach §43 StVO 1960 ... die bei der bestimmten Straße oder Straßenstrecke, für welche die Verordnung erlassen werden soll, anzutreffenden, für den spezifischen Inhalt der betreffenden Verordnung relevanten Umstände mit jenen Umständen zu vergleichen, die für eine nicht unbedeutende Anzahl anderer Straßen zutreffen". Der Verfassungsgerichtshof geht sohin in ständiger Judikatur davon aus, daß bei Anwendung der vom Gesetzgeber mit unbestimmten Begriffen umschriebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erlassung von Geschwindigkeitsbeschränkungen durch Verordnung die zuständige Behörde einen Vergleich der Verkehrs- und Umweltverhältnisse anzustellen hat: Die betreffenden Verhältnisse an den Straßenstrecken, für welche eine Geschwindigkeitsbeschränkung in Betracht gezogen wird, müssen derart beschaffen sein, daß sie eine Herabsetzung der vom Gesetzgeber selbst allgemein für den Straßenverkehr in §20 Abs2 StVO 1960 festgesetzten Höchstgeschwindigkeiten rechtfertigen.

2.4. Als Entscheidungsgrundlagen für die Erlassung der vorliegenden Verordnung dienten eine Stellungnahme der Bundesstraßenverwaltung (Straßenerhalter) vom 7. April 1998 in Verbindung mit einer ebenfalls von der Bundesstraßenverwaltung stammenden Stellungnahme vom 17. Oktober 1989, ein verkehrstechnisches Gutachten des Amtes der Oberösterreichischen Landesregierung, Abteilung Maschinen- und Elektrotechnik, vom 14. Juli 1998 sowie eine vom Bezirksgendarmeriekommando Urfahr ausgearbeitete, mit 19. Februar 1998 datierte Unfallstatistik für das betreffende Straßenstück über den Zeitraum vom 11. Jänner 1993 bis 14. Dezember 1997.

Die Stellungnahme der Bundesstraßenverwaltung vom 17. Oktober 1989, auf die in jener vom 7. April 1998 verwiesen wird, lautet:

"Zum übermittelten Akt, betreffend den Antrag auf Geschwindigkeitsbeschränkung - verbunden mit einem Überholverbot auf der B 126, Leonfeldener Straße im Bereich des Gasthauses 'Gefrorene Pipe' - wird nachstehende Stellungnahme abgegeben:

Die B 126, Leonfeldener Straße weist im gegenständlichen Bereich eine mittlere Fahrbahnbreite von 6,0 m auf. Rechts im Sinne der Kilometrierung sind an einem Westhang mehrere Wohnhäuser errichtet, von denen 5 Häuser Zufahrten zur Bundesstraße haben. An der linken Straßenseite - Innenkurve - besteht nur ein Haus und zwar das Gasthaus Weigl. Die Ausfahrten bzw. Weganschlüsse zur Bundesstraße sind an der rechten Straßenseite so angelegt, daß die Sichtweiten zwischen 230 m und 350 m betragen. Für das linksseitige Gasthaus sind Sichtweiten um 150 m gegeben. Das Gasthaus Weigl hat für den Platz unmittelbar vor dem Haus eine Zufahrtsbewilligung.

Aus der Sicht des Straßenerhalters besteht für die Erlassung von Verkehrsbeschränkungen keinerlei Anlaß. Falls es in diesem Bereich zu Beschränkungen kommt, muß mit einer Anzahl ähnlicher Anträge gerechnet werden, die dann kaum abgelehnt werden können.

Das Argument der Lärmbelästigung wird ebenfalls zurückgewiesen, da es sich bei den Beschwerdeführern um Neusiedler handelt, denen beim Ankauf des Grundes die Verkehrslage bekannt war.

Das Verkehrsaufkommen hat in diesem Bereich wegen der Grenznähe zur CSSR zugenommen.

Sichtbehinderungen treten im angesprochenen Bereich nur dann auf, wenn auf dem südlich des Gasthauses provisorisch angeschütteten Parkplatz Lastkraftwagen oder LKW-Züge abgestellt werden. Für diesen Platz besteht keine Zufahrtsgenehmigung.

Die Bundesstraßenverwaltung beabsichtigt, so keine Bereitschaft zur Abänderung des Parkplatzes besteht, eine entsprechende Absicherung zur Hintanhaltung der Zufahrtsmöglichkeit einzurichten.

Dem Antrag auf Geschwindigkeitsbeschränkung und Überholverbot sollte nicht stattgegeben werden."

In der Stellungnahme der Bundesstraßenverwaltung vom 7. April 1998 wurde ausgeführt, daß die Stellungnahme vom 17. Oktober 1989 weiterhin gelte, weil sich an den Anlagenverhältnissen seither nichts geändert habe, mit Ausnahme der bereits durchgeführten Sanierung der Zufahrtsverhältnisse zum Gasthausparkplatz.

Darüber hinaus werde besonders darauf hingewiesen, daß die in Frage stehenden 2 km der am besten und am sichersten ausgebaute Straßenabschnitt der B 126 Leonfeldner-Bundesstraße zwischen Glasau und Bad Leonfelden sei. Sollte tatsächlich eine Geschwindigkeitsbeschränkung verordnet werden, sei es kaum mehr denkbar, andere ungerechtfertigte Wünsche abzulehnen. Die Bundesstraßenverwaltung könne daher aus den angeführten Gründen der Verordnung der geforderten Geschwindigkeitsbeschränkung nur negativ gegenüberstehen.

Das verkehrstechnische Gutachten des Amtes der Oberösterreichischen Landesregierung, Abteilung Maschinen- und Elektrotechnik, vom 14. Juli 1998 lautet:

"Aus fachtechnischer Sicht kann die geforderte Geschwindigkeitsbeschränkung auf 70 km/h im Straßenbereich km 20 - 22 auf der B 126 weder befürwortet, noch mit Argumenten gestützt werden.

Auch aus der Sicht des Straßenerhalters bestand nie ein Anlaß eine derartige Verkehrsbeschränkung zu fordern, da dieses Straßenstück auch hinsichtlich der Sichtverhältnisse den bestehenden Standards entspricht. In diesem Zusammenhang wird auch zu bedenken gegeben, daß bei Erlassung einer Verordnung für den in Rede stehenden Bereich beim Gasthaus 'Zur Gefrorenen Pipe' Folgewirkungen für nahezu den gesamten Bereich der B 126 zwischen Linz und Leonfelden entstehen.

Am 3.3.1998 wurden von uns Geschwindigkeitsmessungen beim km 21,75 für beide Richtungen vorgenommen. Wie dem beiliegenden Meßprotokoll zu entnehmen ist, liegen die Durchschnittsgeschwindigkeiten bei 68 bzw. 71 km/h, die V 85 Werte wurden mit 78 bzw. 80 km/h ermittelt.

Auch unter Bedachtnahme dieser Meßergebnisse ist zu erwarten, daß durch eine Geschwindigkeitsverordnung, die nur über Verkehrszeichen ohne begleitende Baumaßnahmen fixiert wird, wenig erreicht wird.

Als weiteres Gegenargument ist anzuführen, daß bereits jetzt auf der B 126 zwischen Linz und Leonfelden eine starke Dichte von Verkehrszeichen zu registrieren ist (siehe Beilage).

Berücksichtigt man die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema 'Informationsaufnahme im Straßenverkehr' so ist festzuhalten, daß ein Fahrzeuglenker max. etwa 3 Objekte/sec mit ihrem Informationsinhalt aufnehmen kann. Als Objekte sind dabei Verkehrszeichen, andere Fahrzeuge, Fußgänger oder Gegenstände am Straßenrand etc. zu bezeichnen.

Fährt dieser Lenker an mehr als 3 relevanten Objekten vorbei, verfügt er über eine unvollständige subjektive Information der Verkehrsumwelt.

Dieser empirische Wert von 3 Fixationen/sec legt die Leistungsfähigkeit des Menschen zur Exploration seiner Umwelt dar. Bei einer größeren Dichte, insbesondere von Verkehrszeichen ist der Verkehrsteilnehmer, konkret der Kraftfahrzeuglenker nicht mehr in der Lage den Forderungen des Gesetzgebers zu entsprechen.

Zusammenfassend wird daher die Meinung vertreten, daß hier eine Geschwindigkeitsbeschränkung wenig zielführend ist und eher die Verantwortung des Kraftfahrzeuglenkers Richtung Behörde verschiebt.

Die Vorbeifahrt mit 70 km/h an einem Kind, das die Straße queren will, bleibt nach wie vor unverantwortlich!"

Im Rahmen der vom Bezirksgendarmeriekommando Urfahr ausgearbeiteten Unfallstatistik wurde schließlich zusammenfassend festgestellt, daß bei keinem der in der Unfallstatistik angeführten Verkehrsunfälle die Fahrgeschwindigkeit die Ursache für die eingetretenen Unfälle gewesen sein dürfte.

2.5. Der Inhalt der angeführten Stellungnahmen bringt in eindeutiger Weise zum Ausdruck, daß weder aus der Sicht der Bundesstraßenverwaltung, noch aus jener des Amtes der Oberösterreichischen Landesregierung, Abteilung Maschinen- und Elektrotechnik, noch aus jener des Bezirksgendarmeriekommandos Urfahr eine entsprechende fachliche Grundlage für die Erlassung der vorliegenden Verordnung gegeben ist. Die diesbezüglichen Feststellungen bestätigen vielmehr, daß die vom Gesetz für die Erlassung einer Verordnung gemäß §43 Abs1 litb Z1 StVO 1960 normierte Erforderlichkeit der entsprechenden Beschränkung hier nicht vorliegt ("Aus der Sicht des Straßenerhalters besteht für die Erlassung von Verkehrsbeschränkungen keinerlei Anlaß." ... "Darüber hinaus wird besonders darauf hingewiesen, daß die in Frage stehenden 2 km der am besten und am sichersten ausgebaute Straßenabschnitt der B 126 Leonfeldner-Bundesstraße zwischen Glasau und Bad Leonfelden sei." ... "Aus fachtechnischer Sicht kann die geforderte Geschwindigkeitsbeschränkung auf 70 km/h im Straßenbereich km 20 - 22 auf der B 126 weder befürwortet, noch mit Argumenten gestützt werden." ... "Bei keinem der oben angeführten Verkehrsunfälle dürfte nach ho. Ansicht die Fahrgeschwindigkeit die Ursache für die eingetretenen Unfälle gewesen sein.").

Die in Prüfung gezogene Verordnung erweist sich daher im Hinblick auf die zitierte Judikatur des Verfassungsgerichtshofes (VfSlg. 8984/1980, 9721/1983, 13371/1993 und 14051/1995) als nicht erforderlich im Sinn des §43 Abs1 litb Z1 StVO 1960.

2.6. Das Ergebnis der Verordnungsprüfung wird auch durch die Stellungnahme der Bezirkshauptmannschaft Urfahr-Umgebung vom 23. August 2000 untermauert. Nach der bereits dargestellten ständigen Judikatur geht der Verfassungsgerichtshof davon aus, daß bei Anwendung der vom Gesetzgeber mit unbestimmten Begriffen umschriebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erlassung von Geschwindigkeitsbeschränkungen durch Verordnung die zuständige Behörde einen Vergleich der Verkehrs- und Umweltverhältnisse anzustellen hat. Die Bezirkshauptmannschaft Urfahr-Umgebung als im vorliegenden Fall zuständige Behörde bringt aber in eindeutiger Weise zum Ausdruck, daß sie aufgrund der von ihr erhobenen Entscheidungsgrundlagen keinesfalls eine Geschwindigkeitsbeschränkung ins Auge gefaßt hätte.

2.7. Wie sich aus dem vorgelegten Verordnungsakt ergibt, war für die Erlassung der in Prüfung gezogenen Verordnung eine vom zuständigen Verkehrslandesrat am 27. Februar 1998 erteilte und am 15. September 1998 wiederholte Weisung an die verordnungserlassende Behörde ausschlaggebend, der ein allerdings nicht durch überhöhte Geschwindigkeit verursachter Unfall zugrunde lag.

Diese Weisung vermag jedoch das Vorliegen der Erforderlichkeit der in Prüfung gezogenen Verordnung schon deshalb nicht zu stützen, weil sie bereits vor Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen erteilt wurde und auch nach Vorliegen sämtlicher - negativer - Stellungnahmen bzw. Gutachten an ihr festgehalten wurde, sodaß für den Verfassungsgerichtshof feststeht, daß dem die Frage der Erforderlichkeit klärenden Verfahren nicht die ihm zukommende Bedeutung beigemessen wurde.

2.8. Es kann dahingestellt bleiben, ob die von der Oberösterreichischen Landesregierung in ihrer Äußerung vom 14. September 2000 vorgebrachten Argumente die nunmehrige Erforderlichkeit der vorliegenden Verordnung dartun können, denn selbst wenn dies der Fall sein sollte, müßte jedenfalls ein neues Verfahren durchgeführt werden.

3. Sohin war die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Urfahr-Umgebung vom 21. September 1998, ZVerkR 11/300/18-1998 O/Rb, betreffend die Anordnung von Verkehrsbeschränkungen im Gemeindegebiet Reichenau, kundgemacht am 8. Oktober 1998 durch die entsprechenden Straßenverkehrszeichen, wegen mangelnder Erforderlichkeit im Sinn des §43 Abs1 litb Z1 StVO 1960 als gesetzwidrig aufzuheben.

4. Die Verpflichtung zur Kundmachung des Ausspruches des Verfassungsgerichtshofes gründet sich auf Art139 Abs5 B-VG.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung gefällt werden.

Schlagworte

Straßenpolizei, Geschwindigkeitsbeschränkung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2000:V59.2000

Dokumentnummer

JFT_09998872_00V00059_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten