TE Vwgh Erkenntnis 2004/6/24 2001/20/0420

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Veröffentlicht am 24.06.2004
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1997 §7;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl und die Hofräte Dr. Nowakowski und Dr. Sulzbacher als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Trefil, über die Beschwerde des M in G, geboren 1969, vertreten durch Dr. Wolfgang Vacarescu, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Jakominiplatz 16/II, gegen den am 23. November 2000 verkündeten und am 16. Mai 2001 ausgefertigten Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates, Zl. 202.501/0-VI/18/98, betreffend § 7 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.171,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein aus Arbil im Nordirak stammender irakischer Staatsbürger, war von 1986 bis zu seiner Desertion im März 1991 Angehöriger der irakischen Armee. Er reiste am 15. Dezember 1991 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 17. Dezember 1991 die Gewährung von Asyl. Mit Bescheid vom 11. Februar 1992 stellte die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich in Anwendung des Asylgesetzes 1968 fest, der Beschwerdeführer sei nicht Flüchtling im Sinne des genannten Gesetzes.

Aufgrund der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung führte der gemäß § 44 Abs. 1 des Asylgesetzes 1997 (AsylG) - letztlich - zuständig gewordene unabhängige Bundesasylsenat (die belangte Behörde) am 12. August 1999 und am 23. November 2000 mündliche Berufungsverhandlungen durch. Das Vorbringen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen im Verwaltungsverfahren lässt sich - soweit es in der Berufungsverhandlung noch aufrecht erhalten wurde - dahin zusammenfassen, dass er einerseits seine Verfolgung und Hinrichtung durch die Behörden des Zentraliraks bzw. durch deren Geheimagenten im Nordirak wegen der (aus Angst, aufgrund seiner Zugehörigkeit zur christlich-chaldäischen Glaubensgemeinschaft an der Front "als Kanonenfutter" verwendet zu werden, vorgenommenen) Desertion vom Militärdienst und wegen der Asylantragstellung in Österreich befürchte und dass ihm andererseits Maßnahmen der kurdischen Autonomiebehörden wegen seines Dienstes als Soldat in der irakischen Armee in Verbindung mit dem (unrichtigen) Vorwurf, gegen die Kurden im Nordirak gekämpft zu haben, drohten.

Mit dem angefochtenen, am 23. November 2000 verkündeten und am 16. Mai 2001 ausgefertigten Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung gemäß § 7 AsylG ab. Die belangte Behörde ging erkennbar von der Glaubwürdigkeit der Angaben des Beschwerdeführers aus und traf seinem Vorbringen weitgehend entsprechende Feststellungen. Gestützt auf eine - über fallbezogene Anfrage der belangten Behörde erstattete - Mitteilung des UNHCR vom 22. November 2000 kam die belangte Behörde zu dem Ergebnis, dem Beschwerdeführer drohe im Nordirak keine Verfolgung durch die kurdischen Autonomiebehörden aus den von ihm angeführten Gründen. Auch die Gefahr einer Verfolgung durch die Behörden des Zentraliraks bzw. durch Geheimagenten im Nordirak wegen seiner Desertion verneinte die belangte Behörde. Es sei "zwar richtig, dass das Vorgehen zentralirakischer Militärbehörden und Sicherheitsbehörden im Fall der Rückkehr von Deserteuren in den Zentralirak ... trotz einer im Jahr 1999 erlassenen Amnestieregelung ... unberechenbar" sei, doch stehe dem Beschwerdeführer die Möglichkeit offen, zu seiner im Nordirak verbliebenen Familie zurückzukehren. In diesem Zusammenhang traf die belangte Behörde nähere Feststellungen "zur Lage im Nordirak". Unter anderem führte sie aus, "derzeit liegen keine Erkenntnisse dafür vor, dass die Bagdader Zentralregierung versucht, ihre Staatsgewalt auf den von Kurden besiedelten Nordirak auszudehnen."

Das (deutsche) Auswärtige Amt gehe nach wie vor davon aus, dass im Nordirak "Flüchtlinge und Einheimische weitgehend Schutz vor dem Zugriff der Bagdader Sicherheitsdienste genießen. Die in Berichten, etwa des Sonderberichterstatters zur Menschenrechtslage im Irak, angeführten Beispiele für Übergriffe irakischer Sicherheitsdienste auf Kurden im Nordirak scheinen eher Einzelfälle zu sein, wenngleich davon auszugehen ist, dass der irakische Geheimdienst auch im Nordirak präsent ist." Aus der Sicht des UNHCR sei - so begründete die belangte Behörde weiter - "eine Rückführung von aus Nordirak stammenden Flüchtlingen aus Drittstaaten zurück nach Nordirak unbedenklich bzw. möglich, soweit es sich nicht tatsächlich um exponierte politische Oppositionelle handelt." Das (deutsche) Auswärtige Amt gehe davon aus, "dass bei einer Rückkehr in die von der KDP und der PUK beherrschten Gebiete im Nordirak Personen allein wegen eines längeren Auslandsaufenthaltes oder Asylantragstellung in europäischen Staaten nicht mit Verfolgung seitens der irakischen Zentralregierung (mangelnde Gebietsgewalt) zu rechnen haben."

Fallbezogen folgerte die belangte Behörde, "vor dem Hintergrund, dass die zentralirakischen Militärbehörden überhaupt keinen direkten Zugriff auf die Bürger des Nordiraks besitzen, kann schlichtweg nicht erkannt werden, dass dem Antragsteller tatsächlich mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr droht, dass gerade er von zentralirakischen Agenten wegen Desertion im Jahre 1991 verfolgt werden könnte." Es könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass den zentralirakischen Behörden überhaupt bekannt werde, dass der Beschwerdeführer "in Europa einen Asylantrag gestellt hat und nunmehr in den Irak zurückgekehrt ist" und es sei auch nicht anzunehmen, dass "dieses (theoretische) Wissen trotz der geltenden Amnestieregelung gerade bei dem im Nordirak lebenden Berufungswerber zu irgendeiner Konsequenz führen würde."

Rechtlich folgerte die belangte Behörde, dem Beschwerdeführer drohe "zum heutigen Zeitpunkt keinerlei Gefahr", dass ihm "seitens der kurdischen Autonomiebehörden die seinerzeitige Militärdienstleistung in der irakischen Armee zum Vorwurf gemacht würde", und es sei "angesichts der internationalen Berichterstattung" davon auszugehen, dass für Personen mit familiären Wurzeln im Nordirak eine Existenz durchaus möglich ist."

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Die Beschwerde lässt die Ansicht der belangten Behörde, der Beschwerdeführer habe asylrelevante Maßnahmen der kurdischen Autonomiebehörden wegen seiner früheren Zugehörigkeit zur irakischen Armee (jedenfalls) nun nicht mehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, unbekämpft. Sie wendet sich mit näherer Begründung - unter Bezugnahme auf schon in der Berufungsverhandlung bezeichnete deutsche Gerichtsentscheidungen und einen Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 31. Jänner 2000 - aber vor allem gegen die Annahme der belangten Behörde, der Beschwerdeführer wäre vor Verfolgungshandlungen der zentralirakischen Behörden und deren Agenten im Nordirak sicher.

Damit ist der Beschwerdeführer im Ergebnis im Recht:

Vorweg ist festzuhalten, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid anhand der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen hat (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 19. Februar 2004, Zl. 2002/20/0458). Voranzustellen ist weiters, dass die belangte Behörde ihre Entscheidung - zu Recht - nicht damit zu begründen versucht hat, der Asylantrag des Beschwerdeführers wäre ausgehend von seinem Vorbringen ohne Weiteres mangels Asylrelevanz der befürchteten Maßnahmen abzuweisen gewesen (vgl. - jeweils zum Irak unter dem Regime des Saddam Hussein - betreffend die Sanktionen für Desertion das hg. Erkenntnis vom 21. März 2002, Zl. 99/20/0401, und hinsichtlich der Folgen u.a. einer Asylantragstellung im Ausland das hg. Erkenntnis vom 21. November 2002, Zl. 99/20/0160, und zahlreiche daran anschließende Erkenntnisse).

Die belangte Behörde hat die Abweisung des Asylantrages auf die Annahme gestützt, der Beschwerdeführer wäre bei einer Rückkehr in den Nordirak vor Verfolgungshandlungen durch die zentralirakischen Behörden sicher gewesen. Nach den einen ähnlich gelagerten Fall betreffenden Erwägungen in dem - allerdings erst nach Erlassung des angefochtenen Bescheides ergangenen, bereits erwähnten - Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 21. März 2002, Zl. 99/20/0401, auf dessen Entscheidungsgründe insoweit gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, hätte eine derartige Annahme aber die Auseinandersetzung mit der Frage erfordert, durch welche Umstände der irakische Staat daran gehindert war, sich über die betroffenen Gebiete jederzeit und ohne Vorankündigung wieder die volle Gebietsgewalt zu verschaffen, oder ob Informationen darüber vorlagen, dass die irakische Führung dies nicht beabsichtigte (vgl. auch das daran anschließende Erkenntnis vom 22. Mai 2003, Zl. 2001/20/0268, mit dem Hinweis auf mehrere in diesem Sinn ergangene Erkenntnisse; zuletzt die hg. Erkenntnisse vom 19. Februar 2004, Zl. 2001/20/0309, und Zl. 2002/20/0075). Das - von der belangten Behörde erwähnte - Fehlen von "Erkenntnissen" darüber, dass die Bagdader Zentralregierung "versucht", ihre Staatsgewalt wieder auf den Nordirak auszudehnen, ist kein Ersatz für Feststellungen darüber, wodurch sie faktisch oder rechtlich daran gehindert gewesen sei, dies jederzeit ohne Vorankündigung zu tun, oder darüber, dass umgekehrt "Erkenntnisse" vorlägen, wonach die Regierung diese Gebiete - damals - zumindest für die nähere Zukunft aufgegeben gehabt habe (vgl. zu einer wortgleichen Formulierung in einem Bescheid der belangten Behörde bereits das hg. Erkenntnis vom 21. November 2002, Zl. 2000/20/0185). Derartige Feststellungen wären im vorliegenden Fall vor allem aber auch deshalb geboten gewesen, weil die belangte Behörde (an anderer Stelle der Bescheidbegründung) selbst davon ausgeht, es sei "allgemein bekannt, dass der Zentralirak die nordirakischen Kurdengebiete nach wie vor als Bestandteil des Gesamtirak ansieht."

Dass der Beschwerdeführer auch im Fall der - aus damaliger Sicht mangels festgestellter gegenteiliger Anhaltspunkte jederzeit möglichen - Wiederherstellung der Gebietsgewalt der irakischen Staatsmacht unter Saddam Hussein im Nordirak keinen behördlichen Verfolgungsmaßnahmen (insbesondere) wegen seiner Desertion ausgesetzt gewesen wäre, hat die belangte Behörde nicht dargetan. Indem sie sich auf eine - bezogen auf den Entscheidungszeitpunkt - punktuelle Beurteilung der damaligen Verhältnisse im Nordirak beschränkte und die Möglichkeit einer neuerlichen Machtübernahme durch das Regime des Saddam Hussein im Nordirak ausblendete, hat sie den angefochtenen Bescheid daher mit einem relevanten Feststellungsmangel belastet.

Der angefochtene Bescheid war somit schon auf Grund der im erwähnten Vorerkenntnis Zl. 99/20/0401 zu den Voraussetzungen einer so genannten "Schutzzone" im Nordirak dargelegten Erwägungen gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

Von der beantragten Durchführungen einer Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 24. Juni 2004

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2004:2001200420.X00

Im RIS seit

26.07.2004
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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