RS OGH 1996/2/22 Bsw18892/91, Bsw20919/92, Bsw24194/94, Bsw26780/95, Bsw27783/95, Bsw39665/98, Bsw34

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Veröffentlicht am 22.02.1996
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Norm

MRK Art6 Abs1 II1b
MRK Art6 VI2
MRK Art7
7.ZPMRK Art4
ZPO §69
ZPO §220

Rechtssatz

Die Frage der Anwendbarkeit von Art 6 MRK im Bereich „strafrechtliche Anklage" ist anhand von drei Kriterien zu prüfen: Feststellung, ob der Gesetzestext, der die Zuwiderhandlung definiert, nach dem Rechtssystem des belangten Staates dem Strafrecht zugehört; Ermittlung der wahren Natur der fraglichen Zuwiderhandlung; Natur und Schwere der angedrohten Sanktion.

Entscheidungstexte

  • Bsw 18892/91
    Entscheidungstext AUSL EGMR 22.02.1996 Bsw 18892/91
    Bem: Putz gegen Österreich (T1a)
    Veröff: NL 1996,46
  • Bsw 20919/92
    Entscheidungstext AUSL EGMR 29.08.1997 Bsw 20919/92
    nur: Die Frage der Anwendbarkeit von Art 6 MRK im Bereich „strafrechtliche Anklage" ist anhand von drei Kriterien zu prüfen: Feststellung, ob der Gesetzestext, der die Zuwiderhandlung definiert, nach dem Rechtssystem des belangten Staates dem Strafrecht zugehört; Ermittlung der wahren Natur der fraglichen Zuwiderhandlung; Natur und Schwere der angedrohten Sanktion. (T1)
    Beisatz: Der Begriff der strafrechtlichen Anklage iSd Art 6 MRK wird autonom, d. h. unabhängig vom innerstaatlichen Recht, bestimmt. Die Verhängung einer Geldstrafe von über 5.000,- SFr wegen Steuerhinterziehung betrifft eine „strafrechtliche Anklage". (T2)
    Veröff: NL 1997,220
  • Bsw 24194/94
    Entscheidungstext AUSL EGMR 21.10.1997 Bsw 24194/94
    nur T1; Beisatz: Keine „strafrechtliche Anklage" in einem Verfahren zur Überprüfung von Wahlkampfausgaben, wobei das Überschreiten der gesetzlichen Höchstgrenze den Ausschluss von Wahlen für ein Jahr, die Aberkennung des Parlamentssitzes und die Bezahlung des Differenzbetrages nach sich ziehen kann. (Pierre-Bloch gegen Frankreich) (T3)
    Veröff: NL 1997,269
  • Bsw 26780/95
    Entscheidungstext AUSL EGMR 28.10.1999 Bsw 26780/95
    nur T1; Beisatz: Sofortige Beschlagnahme des Führerscheins wegen Alkoholisierung: Nur weil eine Maßnahme in einem Strafgesetz vorgesehen ist, bedeutet dies nicht automatisch, dass sie in den Anwendungsbereich von Art 6 MRK fällt. Wird die strafrechtliche Anklage grundsätzlich als amtliche Mitteilung durch die zuständige Behörde über den Vorwurf, eine Straftat begangen zu haben, definiert, so kann sie auch in gewissen Fällen die Form anderer Maßnahmen annehmen, die einen solchen Vorwurf beinhalten und ebenfalls Auswirkungen auf die Lage des Verdächtigen nach sich ziehen. Grundsätzlich sind die Verfahrensgarantien des Art 6 MRK auf die vorläufigen Maßnahmen im Zuge einer Untersuchung vor Einbringung einer strafrechtlichen Anklage - wie Festnahme oder Vernehmung eines Verdächtigen - nicht anwendbar. Bei Beschlagnahme des Führerscheins als reine Vorsichtsmaßnahme ohne pönalen Charakter, für eine Dauer von maximal 15 Tagen (45 Tagen unter besonderen Umständen), liegt keine „strafrechtliche Anklage" vor. (Escoubet gegen Belgien) (T4)
    Veröff: NL 1999,188
  • Bsw 27783/95
    Entscheidungstext AUSL EGMR 14.11.2000 Bsw 27783/95
    nur T1; Beisatz: Hier. Österreichisches Zivilverfahren - Mutwillensstrafe in Höhe von ATS 30.000,- wegen Erschleichung der Verfahrenshilfe mit anschließender Umwandlung in eine Ersatzfreiheitsstrafe. Aufgrund der Art und Schwere der möglichen Strafe ist von einer „strafrechtlichen Anklage" auszugehen, Art 6 MRK ist daher anwendbar. (T5)
    Veröff: NL 2000,226
  • Bsw 39665/98
    Entscheidungstext AUSL EGMR 15.07.2002 Bsw 39665/98
    nur T1; Beisatz: Hier: Unterscheidung zwischen disziplinar- und strafrechtlicher Bestrafung wegen Delikten, die während einer Strafhaft begangen wurden. Die Kriterien der Art des Vergehens und der Art und Schwere der angedrohten Sanktion müssen nicht kumulativ vorliegen. Bei der Bestimmung der Natur des Vergehens kommt es darauf an, wie schwerwiegend es ist und ob seine Strafbarkeit davon abhängt, dass es in einem Gefängnis begangen wurde. Bei der Beurteilung der Art und Schwere der Strafe ist die höchstmögliche Strafe, die für das dem Bsf vorgeworfene Delikt verhängt werden kann, zu beachten. Freiheitsentziehungen, die als Strafe oder zur Abschreckung verhängt werden, fallen grundsätzlich in den Bereich des Strafrechts, außer sie können nach ihrer Art oder Dauer oder der Art und Weise ihrer Vollstreckung keinen wesentlichen Nachteil verursachen. Eine zusätzliche Freiheitsstrafe für ein während der Strafhaft verübtes Delikt kann nur in Ausnahmefällen als rein disziplinarrechtlich beurteilt werden. (Ezeh ua gegen das Vereinigte Königreich) (T6)
    Veröff: NL 2002,150
  • Bsw 34619/97
    Entscheidungstext AUSL EGMR 23.07.2002 Bsw 34619/97
    nur T1; Beis wie T6 nur: Die Kriterien der Art des Vergehens und der Art und Schwere der angedrohten Sanktion müssen nicht kumulativ vorliegen. (T7)
    Beisatz: Zahlung von Steuerzuschlägen wegen unrichtiger Steuererklärungen. Das entscheidende Merkmal strafrechtlicher Sanktionen ist, dass sie ahnden sollen. Steuerzuschläge, die sowohl abschrecken als auch ahnden sollen, fallen unter den Begriff der „strafrechtlichen Anklage". (Janosevic gegen Schweden) (T8)
    Veröff: NL 2002,156
  • Bsw 39665/98
    Entscheidungstext AUSL EGMR 09.10.2003 Bsw 39665/98
    nur T1; Beis wie T6; Veröff: NL 2003,260
  • 16 Ok 4/07
    Entscheidungstext OGH 12.09.2007 16 Ok 4/07
    Beisatz: Hier für Geldbuße nach § 29 KartG 2005 offengelassen. (T9)
    Bem: Mit ausführlicher Begründung. (T10)
  • Bsw 73053/01
    Entscheidungstext AUSL EGMR 23.11.2006 Bsw 73053/01
    nur T1; Beis wie T7; Beisatz: Im Fall Bendenoun/F, in dem es um die Vorschreibung einer Steuernachzahlung ging, bezog sich der GH nicht ausdrücklich auf die drei Engel-Kriterien, sondern führte vier Elemente an, die im gegenständlichen Fall für eine Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK sprachen, nämlich dass die gesetzlich vorgesehene Strafsanktion alle Bürger in ihrer Eigenschaft als Steuerzahler beträfe, der Steuerzuschlag nicht die Leistung von Schadenersatz bezwecke, sondern als Strafe mit dem Ziel der Abschreckung zu verstehen sei, die betreffende Strafe nach einer allgemeinen Rechtsvorschrift verhängt werde, die sowohl der Abschreckung als auch der Bestrafung diene, und das Ausmaß des Steuerzuschlages beträchtlich sei. Diese Faktoren können für eine Beurteilung der Anwendung des zweiten und dritten Engel-Kriteriums relevant sein (siehe T1). (T11)
    Veröff: NL 2006,303
  • Bsw 69917/01
    Entscheidungstext AUSL EGMR 05.07.2007 Bsw 69917/01
    Vgl nur T1; Vgl Beis wie T4; Beisatz: Angelegenheiten der Vollstreckung einer Strafe fallen nicht in den strafrechtlichen Anwendungsbereich von Art. 6 MRK. (Stephen Anthony Saccoccia gegen Österreich) (T12)
    Beisatz: Art 6 MRK ist nicht auf Verfahren über Beschlagnahmungen anwendbar, die in keinem Zusammenhang zu einem Strafverfahren gegen den Bf. stehen. Hingegen ist Art. 6 MRK anwendbar, wenn das Verfallsverfahren auf die Verurteilung des Bf folgt, da Art. 6 MRK sich auf das gesamte Verfahren über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage bezieht. (Stephen Anthony Saccoccia gegen Österreich) (T13)
    Veröff: NL 2007,178
  • Bsw 69917/01
    Entscheidungstext AUSL EGMR 18.12.2008 Bsw 69917/01
    Vgl aber; Beis wie T12; Beisatz: Die Vollstreckung der Verfallsanordnung fällt zwar nicht in den strafrechtlichen, sehr wohl aber in den zivilrechtlichen Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK. (Saccoccia gegen Österreich) (T14)
    Veröff: NL 2008,362
  • Bsw 14939/03
    Entscheidungstext AUSL EGMR 10.02.2009 Bsw 14939/03
    Beis wie T6 nur: Bei der Beurteilung der Art und Schwere der Strafe ist die höchstmögliche Strafe, die für das dem Bsf vorgeworfene Delikt verhängt werden kann, zu beachten. Freiheitsentziehungen, die als Strafe oder zur Abschreckung verhängt werden, fallen grundsätzlich in den Bereich des Strafrechts, außer sie können nach ihrer Art oder Dauer oder der Art und Weise ihrer Vollstreckung keinen wesentlichen Nachteil verursachen. (T15)
    Veröff: NL 2009,37
  • Bsw 16012/06
    Entscheidungstext AUSL EGMR 15.12.2009 Bsw 16012/06
    Vgl auch; Beis wie T12; Beisatz: Die Entscheidung über den Ersatz einer verhängten Freiheitsstrafe durch eine Ausweisung und ein Aufenthaltsverbot fällt in den Anwendungsbereich des Art 6 Abs 1 MRK. (Gurguchiani gegen Spanien) (T16)
    Veröff: NL 2009,362
  • Bsw 13079/03
    Entscheidungstext AUSL EGMR 16.06.2009 Bsw 13079/03
    Beis wie T6 nur: Die Kriterien der Art des Vergehens und der Art und Schwere der angedrohten Sanktion müssen nicht kumulativ vorliegen. (T17)
    Beisatz: Es reicht aus, wenn die Straftat ihrer Art nach als strafrechtlich anzusehen ist oder wenn sie mit einer Sanktion bedroht ist, die ihrer Art oder Schwere nach in den allgemeinen strafrechtlichen Bereich fällt. Ein kumulativer Ansatz ist jedoch nicht ausgeschlossen, wenn die gesonderte Analyse jedes dieser Kriterien für sich keine eindeutige Schlussfolgerung erlaubt. (Ruotsalainen gegen Finnland) (T18)
    Veröff: NL 2009,165
  • Bsw 27804/05
    Entscheidungstext AUSL EGMR 01.04.2010 Bsw 27804/05
    Auch; nur T12; Veröff: NL 2010,115
  • Bsw 21539/07
    Entscheidungstext AUSL EGMR 17.04.2012 Bsw 21539/07
    Veröff: NL 2012,126
  • Bsw 47195/06
    Entscheidungstext AUSL EGMR 19.02.2013 Bsw 47195/06
    Vgl auch; Beisatz: Hier: Ein Delikt nach § 1 Abs 1 Disziplinarstatut der Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter ist nicht strafrechtlicher, sondern disziplinarrechtlicher Natur. (Müller-Hartburg gg. Österreich) (T19)
    Veröff: NL 2013,43
  • Bsw 20688/04
    Entscheidungstext AUSL EGMR 17.12.2013 Bsw 20688/04
    Vgl auch; Beisatz: Verfahren über die Entlassung von Beamten wegen der Begehung von Disziplinarvergehen beziehen sich nicht auf eine strafrechtliche Anklage iSv Art 6 MRK. (Nikolova und Vandova gg. Bulgarien) (T20)
    Veröff: NL 2013,448
  • Bsw 18640/10
    Entscheidungstext AUSL EGMR 04.03.2014 Bsw 18640/10
    Beis wie T6 nur: Bei der Beurteilung der Art und Schwere der Strafe ist die höchstmögliche Strafe, die für das dem Bf vorgeworfene Delikt verhängt werden kann, zu beachten. (T21)
    Beisatz: Die Bedeutung der nationalen Einstufung ist relativ und daher nicht entscheidend für die Anwendung von Art 6 MRK. (Grande Stevens u.a. gg. Italien) (T22)
    Veröff: NL 2014,117
  • 24 Os 6/16m
    Entscheidungstext OGH 22.03.2017 24 Os 6/16m
    Vgl auch; Beisatz: Disziplinarverfahren der österreichischen Rechtsanwälte sind keine Strafverfahren im Sinn des Art 4 7.ZPMRK. (T23)
  • 6 Ob 213/17t
    Entscheidungstext OGH 17.01.2018 6 Ob 213/17t
    Vgl; Beis wie T7; Beis wie T18; Beis ähnlich wie T23; Beisatz: Was die Natur des Vergehens betrifft, so ist insbesondere der sachliche und persönliche Anwendungsbereich der Vorschrift bedeutsam; vor allem der Adressatenkreis einer Regelung ist entscheidend: Richtet sich eine Regelung (wenigstens potenziell) an die Allgemeinheit, spricht das für den strafrechtlichen Charakter des Vergehens (Hier: Ausschluss aus einem Verein ist keine strafrechtliche Entscheidung). (T24)
    Beisatz: Art 6 und 7 EMRK sowie Art 4 7. ZPEMRK verwenden den selben Begriff des „straf­rechtlichen Verfahrens“. (T25)
  • Bsw 19844/08
    Entscheidungstext AUSL EGMR 11.06.2018 Bsw 19844/08
    Auch; Beisatz: Keine Anwendbarkeit von Art 6 Abs 1 MRK in seinem strafrechtlichen Aspekt auf ein Verfahren über den Entzug der Lenkberechtigung. (Becker gg. Österreich) (T26)
    Veröff: NL 2015,213
  • Bsw 47152/06
    Entscheidungstext AUSL EGMR 23.03.2016 Bsw 47152/06
    Auch; Beisatz: Die in einem Verfahren drohende Unterbringung in einem geschlossenen Zentrum für jugendliche Straftäter weist klare Elemente der Abschreckung und der Bestrafung auf, weshalb auf ein solches Verfahren Art 6 MRK anwendbar ist. (Blokhin gg. Russland [Große Kammer]) (T27)
    Veröff: NL 2016,118
  • Bsw 33060/10
    Entscheidungstext AUSL EGMR 05.04.2019 Bsw 33060/10
    Vgl auch; Beis wie T19; Veröff: NL 2016,129
  • Bsw 24130/11
    Entscheidungstext AUSL EGMR 15.11.2016 Bsw 24130/11
    Ähnlich; Beisatz: Dieselben Kriterien gelten auch für die Beurteilung, ob das Verfahren im Hinblick auf Art 4 7.ZPMRK strafrechtlich war. (A. und B. gg. Norwegen [GK]) (T28)
    Beisatz: Dabei sind das zweite (Natur der Straftat) und das dritte Kriterium (Schweregrad der Strafe) alternativ und nicht unbedingt kumulativ anzuwenden. (A. und B. gg. Norwegen [GK]) (T29); Veröff: NL 2016,556
  • Bsw 19600/15
    Entscheidungstext AUSL EGMR 28.03.2017 Bsw 19600/15
    Vgl auch; Beisatz: Disziplinarverfahren gegen Soldaten wegen Dienstpflichtverletzungen, die mit einer Gehaltskürzung oder einer Beförderungssperre geahndet werden können, fallen nicht in den strafrechtlichen Anwendungsbereich von Art 6 Abs 1 MRK. (R:S. gg. Deutschland) (T30); Veröff: NL 2017,222
  • 15 Os 106/21h
    Entscheidungstext OGH 20.10.2021 15 Os 106/21h
    Vgl

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:AUSL000:1996:RS0120945

Im RIS seit

15.06.1997

Zuletzt aktualisiert am

01.03.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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