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10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
AsylG 1997 §7;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Berger und Dr. Pfiel als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Lier, über die Beschwerde des S (geboren 1972) in W, vertreten durch Dr. Peter Zawodsky, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Gumpendorfer Straße 71/10, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 12. November 2001, Zl. 219.443/0-II/39/01, betreffend §§ 7 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.172,88 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Türkei kurdischer Abstammung, gelangte am 16. August 2000 in das Bundesgebiet und stellte am 17. August 2000 einen Asylantrag. Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 12. September 2000 und am 11. Oktober 2000 führte er im Wesentlichen aus, er hätte nach Ableistung seines Militärdienstes das Amt eines Dorfschützers in seinem Heimatdorf übernehmen sollen. Da er dies abgelehnt habe, sei er für mehrere Tage von der Gendarmerie festgehalten, geschlagen und gefoltert worden, wovon er auch sichtbare Verletzungsspuren davongetragen habe. Nachdem er aufgrund der Folter eine Erklärung unterschrieben habe, wonach er bereit sei, Dorfschützer zu werden, sei er aus der Haft entlassen worden. Er hätte sich am nächsten Tag bei der Gendarmerie melden sollen, um seine Waffe zu erhalten, sei aber geflüchtet. Er befürchte, dass er in der Türkei auch außerhalb seiner Heimatregion gesucht werde.
Das Bundesasylamt wies den Asylantrag mit Bescheid vom 16. Oktober 2000 gemäß § 7 AsylG ab und stellte fest, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei sei zulässig. Das Vorbringen des Beschwerdeführers qualifizierte das Bundesasylamt als unglaubwürdig; die beim Beschwerdeführer vorhandenen Verletzungsspuren auf dem Rücken könnten nicht nur auf Folterungen, sondern auch auf andere Umstände (etwa Selbstverstümmelung) zurückzuführen sein. Selbst wenn die behauptete Inhaftierung stattgefunden hätte, bestehe für den Beschwerdeführer die Möglichkeit, sich "außerhalb des Kerngebietes des Kurdenproblems ... in der Türkei weitgehend friedlich und unbehelligt" niederzulassen.
Der Beschwerdeführer erhob Berufung. Darin wandte er sich gegen die Beweiswürdigung des Bundesasylamtes und trat auch der erstinstanzlichen Eventualbegründung des Bestehens einer innerstaatlichen Fluchtalternative entgegen; aufgrund des Umstandes, dass er den Dienst als Dorfschützer nicht angetreten habe, sondern geflüchtet sei, werde von den türkischen Behörden auch in anderen Landesteilen nach ihm gesucht.
Die belangte Behörde führte am 27. September 2001 eine mündliche Berufungsverhandlung durch. Eingangs des Verhandlungsprotokolls ist festgehalten, dass auf die Verlesung des erstinstanzlichen Aktes sowie des Berufungsaktes verzichtet worden sei. Im Anschluss daran ist die ausführliche Einvernahme des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen protokolliert. Im Rahmen dieser Einvernahme ist im Verhandlungsprotokoll festgehalten, dass die geltende Dorfschützer-Verordnung verlesen worden sei und dass die Verhandlungsleiterin auf Ausführungen des Beschwerdeführers zur Situation der Kurden in der Türkei "erklärt" habe, "dass die Situation und insbesondere ...
Menschenrechtssituation der Kurden in der Türkei durch zahlreiche internationale Stellungnahmen wie insbesondere der AI-Berichte und der Berichte des Auswärtigen Amtes Deutschland bekannt sind". Schließlich wird vermerkt, dass keine weiteren Beweisanträge gestellt worden seien und die Beweisaufnahme beendet sei. Die Entscheidung werde schriftlich ergehen.
Mit dem nunmehr angefochtenen Berufungsbescheid wurde die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG abgewiesen und seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Türkei gemäß § 8 AsylG für zulässig erklärt. Die belangte Behörde stellte fest, der Beschwerdeführer sei "weder Mitglied einer Partei oder parteiähnlichen Organisation", noch sei er "polizeilich gesucht oder behördlich verfolgt" worden. Weiters stellte die belangte Behörde - im Gegensatz zum Bundesasylamt - fest, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner Weigerung, als Dorfschützer tätig zu werden, fünf Tage auf einem Gendarmerieposten festgehalten und gefoltert worden sei. Am 9. August 2000 habe er eine Zustimmungserklärung unterschrieben; noch am selben Tag habe er nach seiner Entlassung sein Heimatdorf und in der Folge am 12. August 2000 die Türkei verlassen. Der Beschwerdeführer habe die Türkei verlassen, weil er zur Übernahme des Dorfschützeramtes genötigt werden sollte. Aufgrund der der Entscheidung zugrunde gelegten "länderspezifischen Dokumente" (genannt werden die Dorfschützer-Verordnung vom 1. Juli 2000 sowie ein Artikel aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 8. August 2000) stehe fest, dass eine "Zwangsrekrutierung" zum Dorfschützer grundsätzlich nicht vorgesehen sei, es aber dennoch zu solchen Vorgängen gekommen sei und eine Weigerung für den Betroffenen mit Repressionen verbunden sein konnte.
Weiters traf die belangte Behörde aufgrund eines Berichtes des deutschen Auswärtigen Amtes vom 22. Juni 2000 Feststellungen über die Behandlung abgeschobener Personen bei ihrer Wiedereinreise in die Türkei. Solche Personen würden eine Routinekontrolle unterzogen, die eine Abgleichung des Fahndungsregisters und eine eingehende Befragung beinhalte. Schwierigkeiten für Abgeschobene könnten eintreten, "wenn Befragung oder Durchsuchung des Gepäcks ... oder Recherchen bei den Heimatbehörden den Verdacht der Mitgliedschaft oder der Unterstützung der PKK oder anderer illegaler Organisationen begründen". Eine in die Türkei zurückkehrende Person würde aber "nicht etwa nur wegen ihrer Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe misshandelt und gefoltert". Eine Aufenthaltsermittlung im Rahmen polizeilicher Tätigkeit in einer fremden Stadt oder in einem fremden Gebiet sei "nur durch Zufall, durch eine Kontrolle oder bei auffälligem Verhalten möglich". Eine zentrale Erfassung gesuchter Personen finde "nur bei ganz wichtigen Fällen" statt. Trotz Weigerung, das Dorfschützeramt anzunehmen, bestehe "selbst wenn der Asylwerber zum Verlassen seines Heimatdorfes (im Fall seiner Weigerung) gezwungen wird, eine inländische Fluchtalternative (Gutachten Mehmet Öztürk, 9.5.2000)". Da der Beschwerdeführer niemals politisch tätig gewesen sei, "somit ein Naheverhältnis zur PKK weder bestanden hat noch ihm vorgeworfen wurde", sei nicht feststellbar, dass der Beschwerdeführer lediglich aufgrund seiner Weigerung, das Dorfschützeramt in seiner Heimatregion zu übernehmen, landesweit gesucht werde; "dies auch
unter Berücksichtigung dessen, dass ... eine 'Zwangsrekrutierung'
zum Dorfschützer gemäß der ... Dorfschützer-Verordnung nicht
vorgesehen ist". Im Hinblick auf das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative sei der Berufung des Beschwerdeführers daher der Erfolg zu versagen gewesen.
Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:
Der angefochtene Bescheid leidet insoweit an einem Verfahrensmangel, als weder dem Bescheid noch dem Protokoll über die Berufungsverhandlung vom 27. September 2001 entnommen werden kann, dass sämtliche den Feststellungen über das Fehlen einer landesweiten Verfolgungsgefahr zugrunde liegenden Länderberichte im Zuge der Berufungsverhandlung erörtert worden wären und der Beschwerdeführer Gelegenheit gehabt hätte, dazu Stellung zu nehmen. Der Beschwerdeführer hat das Bestehen einer internen Schutzalternative, das schon vom Bundesasylamt im Rahmen einer Eventualbegründung angenommen worden war, in seiner Berufung ausdrücklich bestritten. Dass von der belangten Behörde in der Berufungsverhandlung Beweise zu dieser Frage aufgenommen wurden, kann dem Protokoll über diese Verhandlung nicht entnommen werden. Darin ist zwar die Verlesung der Dorfschützer-Verordnung protokolliert, im Übrigen wird aber nur festgehalten, die Verhandlungsleiterin habe "erklärt, dass die Situation und insbesondere ... Menschenrechtssituation der Kurden in der Türkei durch zahlreiche internationale Stellungnahmen wie insbesondere der AI-Berichte und der Berichte des Auswärtigen Amtes Deutschland bekannt" sei. Dass diese Berichte und insbesondere das in den Feststellungen als Beleg für das Bestehen einer internen Fluchtalternative zitierte "Gutachten Mehmet Öztürk, 9.5.2000" dem Beschwerdeführer zur Kenntnis gebracht worden wären, kann dem Verhandlungsprotokoll dagegen nicht entnommen werden. Dass in der Verhandlungsschrift auch protokolliert wurde, dass auf die Verlesung des erstinstanzlichen Aktes sowie des Berufungsaktes verzichtet worden sei, lässt jedenfalls nicht erkennen, dass die im angefochtenen Bescheid erwähnten Unterlagen damit als verlesen anzusehen wären.
Indem die belangte Behörde dem Beschwerdeführer die erwähnten
Unterlagen nicht zur Kenntnis brachte und ihm in Verletzung des § 45 Abs. 3 AVG keine Gelegenheit geboten hat, hiezu in der mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen, hat sie Verfahrensvorschriften verletzt.
Dazu kommt, dass den von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen auch nicht entnommen werden kann, dass in dem als Beleg für die Behandlung von abgeschobenen Kurden zitierten Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes auf die Situation von Personen eingegangen worden wäre, die sich geweigert hatten, das Dorfschützeramt anzunehmen bzw. nach ihrer "Zwangsrekrutierung" als Dorfschützer geflüchtet sind. In dem im Akt erliegenden - dem Beschwerdeführer nach dem Gesagten aber nicht zur Kenntnis gebrachten - Gutachten des Mehmet Öztürk wird zwar ausgeführt, dass im Falle der Weigerung, das Dorfschützeramt anzunehmen, eine "inländische Fluchtalternative" bestehe, dem Gutachten kann u.a. aber auch entnommen werden, dass die türkischen Sicherheitsbehörden "immer davon aus(gingen), dass ... Dorfschützer, die nicht freiwillig das Amt übernommen haben oder angetreten sind, die PKK-Angehörigen mit Lebensmittel, Kleidung, Unterschlupf etc. unterstützen", und es wird das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative insofern eingeschränkt, als diese nur dann gegeben sei, "wenn der Asylwerber durch sein(en) Akzent und durch Verlautbarung seines Geburtsortes nicht auffällt und daher mit den Staatsorganen nicht konfrontiert wird". Der angefochtene Bescheid lässt nicht erkennen, dass sich die belangte Behörde damit auseinander gesetzt hätte, ob vor dem Hintergrund dieser Ausführungen die Situation des Beschwerdeführers im Falle seiner Abschiebung in die Türkei anders zu beurteilen sein könnte als bei abgeschobenen Kurden im allgemeinen. Der angefochtene Bescheid leidet daher insoweit auch an einem Begründungsmangel.
Da nicht auszuschließen ist, dass die belangte Behörde bei Einhaltung der verletzten Verfahrensvorschriften zu einem anderen Bescheid gelangt wäre, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003. Die im Betrag von S 2.500,-- entrichtete Gebühr nach § 24 Abs. 3 VwGG war gemäß § 3 Abs. 2 Eurogesetz, BGBl. I Nr. 72/2000, im Betrag von EUR 181,68 zuzusprechen.
Das Mehrbegehren findet in der genannten Verordnung keine Deckung, weil die Umsatzsteuer im pauschalierten Aufwandersatz bereits enthalten ist.
Wien, am 22. Juli 2004
Schlagworte
Begründung Begründungsmangel Begründungspflicht und Verfahren vor dem VwGH Begründungsmangel als wesentlicher Verfahrensmangel Parteiengehör Verletzung des Parteiengehörs VerfahrensmangelEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2004:2001200711.X00Im RIS seit
25.08.2004