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10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
ABGB §1332;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Berger und Mag. Nedwed als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Lier, über die Beschwerde des T (auch S, M) S (auch A, S) in A, geboren 1961, vertreten durch Dr. Friedrich Lorenz, Rechtsanwalt in 2486 Pottendorf, Hauptstraße 4, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 16. Jänner 2004, Zl. 239.173/5-XI/38/03, betreffend Abweisung eines Wiedereinsetzungsantrages in einer Asylangelegenheit (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, beantragte am 17. März 2001 Asyl in Österreich. Mit Bescheid vom 16. Juni 2003 wies das Bundesasylamt diesen Antrag gemäß § 7 AsylG ab (Spruchpunkt I). Zugleich erklärte es die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 8 AsylG für nicht zulässig (Spruchpunkt II) und erteilte ihm (nur "für den Fall des Eintritts der Rechtskraft der Spruchpunkte I und II") eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III). Diesen Bescheid übernahm der Beschwerdeführer persönlich am 18. Juni 2003.
Mit einem undatierten, vom Beschwerdeführer unterfertigten und am 3. Juli 2003 (einen Tag nach Ablauf der Berufungsfrist) in einem Kuvert des Evangelischen Flüchtlingsdienstes zur Post gegebenen Schriftsatz erhob der Beschwerdeführer "binnen offener Frist" Berufung gegen die Spruchpunkte I und III des Bescheides vom 16. Juni 2003.
Mit Schreiben vom 27. Oktober 2003 hielt die belangte Behörde dem Beschwerdeführer vor, die Berufung sei verspätet. Der Beschwerdeführer trat dem nicht entgegen und beantragte mit Schriftsatz vom 14. November 2003 - nunmehr vertreten durch einen Mitarbeiter des Evangelischen Flüchtlingsdienstes - die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist. Zur Begründung brachte er - zusammengefasst - vor, er habe am 2. Juli 2003 den im Bundesasylamt Traiskirchen anwesenden Flüchtlingsberater (seinen nunmehrigen Vertreter) aufgesucht, um sich den Bescheid vom 16. Juni 2003 erklären und gegebenenfalls bei der Verfassung einer Berufung helfen zu lassen. Zur Frage des Flüchtlingsberaters nach dem Zustellzeitpunkt habe er nur vage Angaben machen können und sich auf seinen schlechten psychischen und physischen Zustand berufen. Auf mehrmaliges Nachfragen habe er zunächst beteuert, nicht genau zu wissen, wann er den Bescheid entgegen genommen habe. Er habe seit Monaten nicht mehr richtig geschlafen, sei schwer krank und habe deshalb auch schon mehrere Krankenhausaufenthalte hinter sich. Letztlich habe der Beschwerdeführer dem Flüchtlingsberater erklärt, den Bescheid vor etwa zehn Tagen entgegengenommen und sich deshalb nicht schon früher um rechtliche Hilfe bemüht zu haben, weil er kaum in der Lage sei, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Er habe sich erst auf Zureden einiger Mitbewohner zu diesem Schritt aufraffen können. Auf Grund der vorgerückten Stunde sei mit dem Beschwerdeführer nur ein kurze, den Formerfordernissen entsprechende Berufung verfasst und dem Beschwerdeführer, da auch eine Akteneinsicht zur Klärung des tatsächlichen Zustelldatums nicht mehr möglich gewesen sei, zunächst aufgetragen worden, die Berufung sofort zur Post zu geben. Der Beschwerdeführer habe sich aber außerstande erklärt, selbst einen solchen Brief abzuschicken. Daraufhin habe dies der Flüchtlingsberater für ihn getan, allerdings erst am Folgetag. Im Beratungszimmer sei nicht einmal ein Kuvert zum Versenden des Briefes vorhanden gewesen. Dass die Postaufgabe am 3. Juli 2003 verspätet sein "könnte", sei weder dem Beschwerdeführer noch dem Flüchtlingsberater "klar" gewesen. Der Beschwerdeführer sei in einem psychisch sehr schlechten Zustand. Durch die starken Depressionen gepaart mit der Einnahme von Medikamenten falle es ihm schwer, sich zeitlich zu orientieren. Dies sei auch der Grund, weshalb er Ereignisse kaum zeitlich einordnen könne. Es sei ihm somit nicht vorzuwerfen, wenn er keine genaue zeitliche Erinnerung über den Erhalt des erstinstanzlichen Bescheides habe.
Dem Wiedereinsetzungsantrag waren ärztliche Bestätigungen angeschlossen. Danach war der Beschwerdeführer vom 2. bis zum 4. November 2002 und vom 25. bis zum 30. Mai 2003 jeweils nach Epilepsie-Anfällen in stationärer Krankenhausbehandlung gewesen. Einem fachärztlichen Befundbericht vom 13. August 2003 zufolge handelt es sich bei ihm um ein "offenbar fokal getriggertes Anfallsgeschehen mit sekundärer Generalisierung bei Status post Schädel-Hirn-Trauma". Der Auslöser des Anfalls vom 25. Mai 2003 habe sich nicht sicher erheben lassen. Es liege auch eine medikamentös behandlungsbedürftige "reaktive Depressio bei länger dauernder psych. Belastung" vor.
Mit Bescheid vom 28. November 2003 wies das Bundesasylamt den Wiedereinsetzungsantrag gemäß § 71 Abs. 1 Z 1 AVG ab, wogegen der Beschwerdeführer Berufung erhob. Er machte geltend, auf die im Wiedereinsetzungsantrag dargelegten Gründe für die behauptete zeitliche Desorientiertheit und Antriebslosigkeit sei nicht in der erforderlichen Weise eingegangen worden, und beantragte seine Einvernahme und die des ehrenamtlichen Dolmetschers, der mit seinem Fall u.a. bei der Vorsprache am 2. Juli 2003 befasst gewesen sei.
Mit dem angefochtenen, ohne weiteres Ermittlungsverfahren erlassenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung gemäß § 71 Abs. 1 Z 1 AVG ab.
Sie ging - im Anschluss an eine Darstellung des Verfahrensganges und eine Wiedergabe des § 71 Abs. 1 AVG - davon aus, mit dem Vorbringen im Wiedereinsetzungsantrag mache der Beschwerdeführer "offensichtlich seine mangelnde Dispositionsfähigkeit während der zweiwöchigen Berufungsfrist geltend". Nach - nicht näher bezeichneter - "ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes" bilde eine "die Dispositionsfähigkeit völlig ausschließende Krankheit einen tauglichen Wiedereinsetzungsgrund". "Dispositionsunfähigkeit" liege "dann vor, wenn jemand außer Stande ist, als notwendig erkannte Handlungen fristgerecht zu setzen. Es stellt sich daher die Frage, ob der Berufungswerber auf Grund seines gesundheitlichen Zustandes im fraglichen Zeitraum ab Zustellung des erstinstanzlichen Bescheides am 18.06.2003 bis Ablauf der Berufungsfrist am 02.07.2003 die Einsicht gewinnen konnte, eine Berufung erhoben (gemeint: erheben) zu wollen und ob er dies auch in die Tat umsetzen konnte".
Den mit dem Wiedereinsetzungsantrag vorgelegten Bestätigungen sei "keineswegs zu entnehmen", dass sich der Beschwerdeführer während des genannten Zeitraumes "durchgehend und permanent in einem Zustand völliger zeitlicher und sachlicher Orientierungslosigkeit befunden hätte und daher überhaupt nicht in der Lage gewesen wäre", innerhalb der Berufungsfrist den Spruch und die Rechtsmittelbelehrung des Bescheides vom 16. Juni 2003 "begreifen und binnen dieser zwei Wochen dementsprechende Schritte setzen zu können".
"Insbesondere" sei aber auf die - beispielsweise durch die hg. Erkenntnisse vom 16. Februar 1994, Zl. 90/13/0004, und vom 30. Juli 2002, Zl. 2002/05/0594, belegte - "Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach tatsächliches Handeln die Annahme der Dispositionsfähigkeit selbst dann ausschließt, wenn eine entsprechende ärztliche Bestätigung vorliegt". Da der Beschwerdeführer "einerseits in der Lage" gewesen sei, am 18. Juni 2003 den erstinstanzlichen Bescheid zu übernehmen und den Rückschein zu unterfertigen, und er "in der Folge noch vor Ablauf der Berufungsfrist zu einem zielgerichteten Handeln, nämlich dem Aufsuchen des Flüchtlingsberaters" mit der Bitte um allfällige Hilfestellung bei der Verfassung einer Berufung, im Stande gewesen sei, könne "im Lichte der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht davon ausgegangen werden", dass er "auf Grund seiner von ihm vorgebrachten Erkrankung" an der fristgerechten Einbringung der Berufung gehindert gewesen sei.
Darüber hinaus verwies die belangte Behörde darauf, dass der Beschwerdeführer den Wiedereinsetzungsantrag in Reaktion auf den Verspätungsvorhalt fristgerecht eingebracht habe, sodass "ein andauernder Zustand völliger Orientierungslosigkeit" nicht erkannt werden könne. Der Beschwerdeführer habe auch schon seit längerer Zeit von seiner Erkrankung gewusst, sodass diese "bzw. die von ihm vorgebrachte zeitliche Desorientierung" kein "unvorhergesehenes Ereignis" sei. Vielmehr sei es als ein "einen minderen Grad des Versehens übersteigendes Verschulden des Berufungswerbers anzusehen, dass er - in Kenntnis einer Erkrankung, welche seinen Angaben zu Folge zu einer Desorientierung führt - keine Vorsorge getroffen hat, wie mit allfälligen, etwa behördlichen, ihm zugestellten Poststücken zu verfahren ist (etwa durch Hilfestellung durch Mitbewohner etc.), und würde es doch gerade in einem solchen Fall die Sorgfalt erfordern, für solche - etwa in Ansehung eines anhängigen Asylverfahrens - zu erwartende Schriftstücke Vorsorge zu treffen." Die behauptete Desorientierung
könne "in diesem Zusammenhang ... auch nicht als unabwendbares
Ereignis" angesehen werden.
Schließlich verwies die belangte Behörde "lediglich der Vollständigkeit halber" auch noch darauf, dass "nicht ersichtlich" sei, weshalb es dem Beschwerdeführer "bzw. seinem Flüchtlingsberater" am 2. Juli 2003 nicht möglich gewesen sei, die Berufung, wie dies in der Folge mit dem Wiedereinsetzungsantrag und der Berufung gegen dessen Abweisung geschehen sei, "im Telefaxweg - etwa von einem Callcenter - einzubringen, zumal die Versäumung der Berufungsfrist mangels Erinnerung an das genaue
Zustelldatum ... zu befürchten" gewesen sei. Auch unter diesem
Gesichtspunkt könne "nicht von einem über einen minderen Grad des Versehens nicht hinausgehenden Verschulden ausgegangen werden".
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
§ 71 Abs. 1 Z 1 AVG lautet:
"§ 71. (1) Gegen die Versäumung einer Frist oder einer mündlichen Verhandlung ist auf Antrag der Partei, die durch die Versäumung einen Rechtsnachteil erleidet, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn:
1. die Partei glaubhaft macht, dass sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis verhindert war, die Frist einzuhalten oder zur Verhandlung zu erscheinen und sie kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens trifft, ..."
Die Bedachtnahme auf einen "minderen Grad des Versehens" in § 71 Abs. 1 Z 1 (ursprünglich: lit a) AVG geht auf die Novelle BGBl. Nr. 357/1990 zurück. Die Bewilligung der Wiedereinsetzung hatte in der bis dahin geltenden Fassung der Bestimmung vorausgesetzt, dass die Partei "ohne ihr Verschulden" verhindert war, die Frist einzuhalten oder zur Verhandlung zu erscheinen.
Vergleichbare Gesetzesänderungen, nach denen nicht mehr jedes Verschulden einer Bewilligung der Wiedereinsetzung entgegen stand, waren bereits mit den Novellen BGBl. Nr. 135/1983 (für § 146 ZPO), BGBl. Nr. 564/1985 (für § 46 VwGG) und BGBl. Nr. 312/1987 (für § 308 BAO und § 167 FinStrG) vorgenommen worden. Für § 364 StPO erfolgte eine Anpassung mit der Novelle BGBl. Nr. 526/1993.
In der Kommentarliteratur hat die Veränderung des Verschuldensmaßstabes nicht überall Berücksichtigung gefunden. So sind etwa bei Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I2 (1998) nach wie vor Rechtssätze aus älteren Entscheidungen wiedergegeben, nach denen die Wiedereinsetzung nicht zu bewilligen sei, wenn der Partei "ein" Verschulden zur Last liege (vgl. etwa a. a.O., E 153 zu § 71 AVG). Auch in der Darstellung der Judikatur zu Erkrankungen als Wiedereinsetzungsgrund wird nicht zwischen Entscheidungen zur alten und solchen zur geänderten Rechtslage unterschieden (a.a.O., E 138 ff zu § 71 AVG). Anmerkung 9 zu § 71 AVG in der Vorauflage von Ringhofer (1987) bezog sich darauf, dass die Wiedereinsetzung nur zu bewilligen sei, wenn der Antragsteller "das ihm zumutbare Maß an Aufmerksamkeit und Mühe aufgewendet hat". Im (damaligen) "Gesetzeswortlaut" komme "das zum Ausdruck durch die Anordnung, dass die Partei ohne ihr Verschulden - dh ohne jedes Verschulden, also nicht einmal leicht fahrlässig - verhindert gewesen sein muss ...". Dem stellte Ringhofer die bereits damals gegenteiligen, weil schon novellierten, Anordnungen in § 146 ZPO und § 46 VwGG gegenüber ("Siehe dagegen ..."). Nach Walter/Thienel (a.a.O., Anmerkung 9 zu § 71 AVG) kommt stattdessen in dem inzwischen an § 146 ZPO und § 46 VwGG angepassten Wortlaut des § 71 AVG genau das "zum Ausdruck", was sich nach Ringhofer - im Gegensatz dazu - aus dem alten Wortlaut des § 71 AVG ergab, dass nämlich die Wiedereinsetzung nur zu bewilligen sei, wenn der Antragsteller "das ihm zumutbare Maß an Aufmerksamkeit und Mühe aufgewendet hat".
Aus der Zeit vor der Änderung des Gesetzes stammt auch die von der belangten Behörde im vorliegenden Fall ins Treffen geführte hg. Judikatur, der zufolge eine Erkrankung nur dann als Wiedereinsetzungsgrund in Betracht komme, wenn sie die "Dispositionsunfähigkeit des Erkrankten" zur Folge habe (vgl. zur alten Rechtslage zuletzt vor allem das zu § 71 AVG ergangene Erkenntnis vom 6. Februar 1989, Zl. 88/10/0132: keine Wiedereinsetzung, wenn die "Dispositionsfähigkeit" des Erkrankten "nicht zur Gänze ausgeschlossen" war). Dass dies ein Maßstab für das völlige Fehlen eines Verschuldens in den Krankheitsfällen war, wurde etwa im Erkenntnis vom 12. April 1973, Zl. 1902/72, hervorgehoben ("ohne jedes auch leichte Verschulden").
Es scheint sich von selbst zu verstehen, dass die völlige Unfähigkeit zu "Dispositionen" (oder, wie es auch formuliert wurde, zu "einem zielgerichteten Handeln") nicht einerseits die Voraussetzung für das gänzliche Fehlen eines Verschuldens am Unterbleiben der gebotenen Handlung und andererseits zugleich auch die Voraussetzung dafür sein kann, dass nur ein minderer Grad des Versehens vorliegt. Letzteres anzunehmen, würde unterstellen, dass auch ein minderer Grad des Versehens kein Verschulden bedeuten dürfe, was mit dem Gesetzeswortlaut offenkundig unvereinbar wäre und in der ständigen hg. Judikatur auch nicht angenommen wird (vgl. die Nachweise bei Walter/Thienel, a.a.O., E 96 ff zu § 71 AVG).
Wenn in Entscheidungen zum geltenden Recht zum Teil noch auf den Gesichtspunkt einer fehlenden "Dispositionsunfähigkeit" abgestellt wird, so muss daher - ungeachtet der damit in der Regel einher gehenden direkten oder indirekten Verweisungen auf Entscheidungen zum alten Recht, oft unter Einbeziehung der bereits erwähnten Kommentarliteratur - angenommen werden, dass die konkreten Umstände des Falles jeweils auch dahin gehend beurteilt wurden, dass die Dispositionsfähigkeit (nicht nur nicht völlig ausgeschlossen, sondern auch) nicht so stark beeinträchtigt war, dass das Unterbleiben der fristwahrenden Handlung in einem milderen Licht - nämlich als bloß minderer Grad des Versehens - zu beurteilen gewesen wäre. Dies gilt auch für die von der belangten Behörde ins Treffen geführten Schlüsse von anderen "zielgerichteten" Handlungen, die von der Partei tatsächlich gesetzt wurden, auf den Verschuldensgrad bezüglich des Unterbleibens der Handlung, die zur Fristwahrung nötig gewesen wäre.
Der Verwaltungsgerichtshof hat auf diese beim Rückgriff auf Judikatur zur "Dispositionsunfähigkeit" zu beachtenden Gesichtspunkte in zwei jeweils Asylwerber und Bescheide der belangten Behörde betreffenden Erkenntnissen vom 22. Februar 2001, Zl. 2000/20/0495, und vom 26. April 2001, Zl. 2000/20/0336, ausdrücklich hingewiesen und dabei in dem zuletzt genannten Erkenntnis auch zwischen dem Gesichtspunkt der "Disposition" (im Sinne der Abwendung einer Fristversäumung durch andere geeignete Veranlassungen bei Verhinderung an der persönlichen Vornahme einer Prozesshandlung) und dem von der Rechtsänderung berührten Grad der Beeinträchtigung der Fähigkeit dazu unterschieden. Die belangte Behörde hat darauf im vorliegenden Fall nicht Bedacht genommen und verkannt, dass der von ihr herangezogene Maßstab für die Verneinung eines einen minderen Grad des Versehens übersteigenden Verschuldens sich von demjenigen für die Verneinung jedweden Verschuldens nicht unterscheidet und daher nicht dem Gesetz entsprechen kann.
Die belangte Behörde ist in Wahrheit aber auch nicht auf den geltend gemachten Wiedereinsetzungsgrund eingegangen, wenn sie darauf abgestellt hat, ob sich der Beschwerdeführer während der gesamten Dauer der Berufungsfrist "durchgehend und permanent in einem Zustand völliger zeitlicher und sachlicher Orientierungslosigkeit" befunden habe. Der Beschwerdeführer hat die Berufungsfrist nach dem Vorbringen im Wiedereinsetzungsantrag nur deshalb versäumt, weil er bei seiner - an sich noch rechtzeitigen - Vorsprache beim Flüchtlingsberater am 2. Juli 2003 nicht in der Lage war, das Datum der Bescheidübernahme richtig anzugeben. Der Standpunkt, dass auch im gegenteiligen Fall keine Postaufgabe am 2. Juli 2003 mehr zustande gekommen wäre, liegt dem Wiedereinsetzungsantrag erkennbar nicht zugrunde, wiewohl auch behauptet wird, der Beschwerdeführer selbst habe sich grundsätzlich außerstande erklärt, für die Postaufgabe einer Berufung zu sorgen. Dass der Flüchtlingsberater im Wissen um den tatsächlichen Zustellungszeitpunkt nicht noch eine Möglichkeit gesucht und gefunden hätte, die Frist durch entsprechende zusätzliche Bemühungen zu wahren, wird aber nicht vorgebracht und auch von der belangten Behörde nicht dargetan, sodass es rechtlich schlüssig ist, dass das zur Fristversäumung führende Hindernis im Wiedereinsetzungsantrag in der ungenauen Erinnerung des Beschwerdeführers an den Tag der Entgegennahme des erstinstanzlichen Bescheides gesehen wird.
Dass ein Irrtum über das Zustelldatum zur Wiedereinsetzung führen kann, hat der Verwaltungsgerichtshof etwa in dem einen Bescheid der belangten Behörde (die damals "der älteren Judikatur" den Vorzug geben wollte) betreffenden Erkenntnis vom 20. März 2003, Zl. 2002/20/0171, unter ausführlicher Bezugnahme auf Vorjudikatur dargelegt, sodass gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf dieses Erkenntnis verwiesen werden kann. Hätte sich ein beruflicher rechtskundiger Vertreter mit einer Auskunft über den Zustellzeitpunkt, wie sie im vorliegenden Fall vom Beschwerdeführer erteilt wurde, begnügt und nicht jede zumutbare Anstrengung unternommen, noch am selben Tag eine fristwahrende Handlung zu setzen, so hätte dies ein dem Beschwerdeführer zurechenbares Verschulden bedeutet (vgl. - allerdings mit Betonung auf einer zu oberflächlichen Befragung der Partei - das hg. Erkenntnis vom 22. Februar 2001, Zl. 2000/20/0346). Im vorliegenden Fall kommt die Zurechnung eines Verschuldens des Flüchtlingsberaters - anders, als dies in den Ausführungen der belangten Behörde zum Teil anklingt - aber schon deshalb nicht in Frage, weil der Beschwerdeführer von diesem Berater damals noch nicht vertreten wurde (vgl. ausführlich das hg. Erkenntnis vom 7. Mai 1998, Zl. 97/20/0693, betreffend die verspätete Postaufgabe einer Berufung durch einen Flüchtlingsberater, und daran anschließend etwa die Erkenntnisse vom 7. Juni 2000, Zl. 99/01/0337, vom 31. Mai 2001, Zl. 2001/20/0266, vom 24. Juli 2001, Zl. 99/21/0019, und vom 26. Juli 2001, Zl. 99/20/0075). Insoweit die belangte Behörde - wohl mit Rücksicht darauf, dass sich der Beschwerdeführer laut Vorbringen im Wiedereinsetzungsantrag schon zur Postaufgabe eines Briefes nicht in der Lage gesehen habe - damit argumentiert, der Flüchtlingsberater hätte sich von einem "Callcenter" aus eines Telefaxanschlusses bedienen sollen, um die Berufung - vorsichtshalber - noch am Abend des 2. Juli 2003 einzubringen, kann ihren Ausführungen daher nicht gefolgt werden.
Entscheidend kann nur sein, ob dem Beschwerdeführer selbst - bei Bedachtnahme auf seine Gesamtsituation, nämlich auf die notorische Ausgangslage eines Asylwerbers, hier aus Afghanistan, in Verbindung mit den geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen - der Vorwurf zu machen ist, mit der falschen bzw. zu ungenauen Angabe über die seit der Übernahme des Bescheides vom 16. Juni 2003 verstrichene Zeit das ihm unter den konkreten Umständen zumutbare Maß an Aufmerksamkeit und Mühe nicht nur verfehlt, sondern so krass unterschritten zu haben, dass sich darauf das Urteil auffallender Sorglosigkeit gründen lässt (vgl. zu diesem Maßstab und seiner Anwendung auf - gesunde - Asylwerber etwa das hg. Erkenntnis vom 18. April 2002, Zl. 2001/01/0559). Dass sich ein solches Urteil - wie die belangte Behörde offenbar u.a. meint - allein schon darauf gründen lasse, dass der Beschwerdeführer nicht "in Kenntnis einer Erkrankung, welche seinen Angaben zu Folge zu einer Desorientierung führt", im Voraus geeignete Vorsorge für den richtigen Umgang "mit allfälligen, etwa behördlichen, ihm zugestellten Poststücken ... (etwa durch Hilfestellung durch Mitbewohner etc.)" getroffen habe, ist angesichts der Art der behaupteten Beeinträchtigungen - wie die Beschwerde richtig aufzeigt - nicht schlüssig.
Der angefochtene Bescheid war aus den dargestellten Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 22. Juli 2004
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2004:2004200122.X00Im RIS seit
26.08.2004Zuletzt aktualisiert am
20.07.2011