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97 VergabewesenNorm
B-VG Art83 Abs2Leitsatz
Quasi-Anlaßfallwirkung der Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Schwellenwertregelung im Bundesvergabegesetz hinsichtlich zweier Beschwerden gegen die Zurückweisung von Anträgen der Beschwerdeführerin auf Feststellung von Rechtswidrigkeiten in einem Vergabeverfahren; keine Zurückweisung wegen res iudicataSpruch
Die beschwerdeführende Gesellschaft ist durch die angefochtenen Bescheide wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.
Die Bescheide werden aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit) ist schuldig, der beschwerdeführenden Gesellschaft zu Handen ihres Rechtsvertreters die mit insgesamt S 36.000,-- bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. a) Die Reinhalteverbände "Safen-Saifental" und "Mittleres Saifental" haben 1996 die Lieferung der maschinellen Ausrüstung für zwei Verbandskläranlagen ausgeschrieben. An diesen Vergabeverfahren hat sich die beschwerdeführende Gesellschaft beteiligt und jeweils ein Angebot gelegt. Im Laufe der Vergabeverfahren beantragte die beschwerdeführende Gesellschaft jeweils die Durchführung eines Schlichtungsverfahrens bei der Bundesvergabekontrollkommission (B-VKK), die aber in beiden Fällen die Durchführung eines solchen mangels Zuständigkeit ablehnte: Der geschätzte Auftragswert beider Gesamtvorhaben würde den maßgeblichen Schwellenwert für Bauaufträge nicht erreichen. Auf die gegenständlichen Vergaben sei das Bundesvergabegesetz (in der Folge: BVergG) deshalb nicht anzuwenden.
Mit Schriftsätzen vom 14. Oktober 1996 beantragte sodann die nunmehr beschwerdeführende Gesellschaft in beiden Fällen die Durchführung eines Nachprüfungsverfahrens und die Erlassung einer einstweiligen Verfügung beim Bundesvergabeamt (in der Folge: BVA). Mit Bescheiden des BVA vom 16. Oktober 1996 wurden die Anträge zurückgewiesen: Es handle sich um einen Teil eines Bauauftrages, dessen Gesamtherstellungskosten den Schwellenwert gemäß §3 BVergG nicht erreichten. (Diese Bescheide wurden beim Verfassungsgerichtshof zu B4773/96 und B4774/96 bekämpft und mit Erkenntnis vom 30. November 2000 aufgehoben.)
Mit Anträgen vom 5. November 1996 und vom 13. Dezember 1996 stellte die beschwerdeführende Gesellschaft nunmehr Anträge auf Feststellung, daß wegen eines Verstoßes gegen das BVergG oder die hiezu ergangenen Verordnungen der Zuschlag nicht dem Bestbieter erteilt worden sei (§91 Abs3 BVergG). Da die beschwerdeführende Gesellschaft in ihren Anträgen "keine neuen Tatsachen" vorgebracht habe - so das BVA -, seien auch diese Anträge zurückzuweisen.
2. a) Gegen diese Bescheide wenden sich die auf Art144 B-VG gestützten Beschwerden an den Verfassungsgerichtshof, in denen die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte und eine Rechtsverletzung durch Anwendung eines für verfassungswidrig erachteten Gesetzes behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der Bescheide begehrt wird. Die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird darin erblickt, daß das BVA nicht in einer den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts entsprechenden Weise zusammengesetzt war; die Verfassungswidrigkeit der angewendeten Gesetzesvorschriften erblicken die Beschwerden insbesondere in der Unsachlichkeit der Schwellenwertregelung.
b) Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung von Gegenschriften aber abgesehen.
II. 1. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis G110,111/99 vom 30. November 2000 ausgesprochen, daß die Wortfolge "dann, wenn der geschätzte Auftragswert ohne Umsatzsteuer mindestens 5 Millionen ECU beträgt" in §3 Abs1 BVergG, BGBl. 462/1993, verfassungswidrig war.
2. Gemäß Art140 Abs7 B-VG ist ein vom Verfassungsgerichtshof aufgehobenes Gesetz im Anlaßfall nicht mehr anzuwenden. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes sind einem Anlaßfall (im engeren Sinne) jene Fälle gleichzuhalten, die im Zeitpunkt des Beginns der mündlichen Verhandlung, bei Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung in jenem des Beginns der nichtöffentlichen Beratung über eine in der Beschwerdesache präjudizielle Gesetzesstelle anhängig sind (vgl. Erk. v. 9.10.1985, B168/85).
3. In den angefochtenen Bescheiden verweist das BVA auf die Zurückweisung der von der beschwerdeführenden Gesellschaft vor Zuschlagserteilung gestellten Anträge und führt an, daß die Antragstellerin "keine neuen Tatsachen" vorgebracht habe. Trotz Fehlens einer ausdrücklichen Bezugnahme auf §68 Abs1 AVG könnte daraus geschlossen werden, daß das BVA die gegenständlichen Anträge aus dem Grunde der res iudicata zurückgewiesen hat. Dieser Annahme kann der Verfassungsgerichtshof aber schon deshalb nicht nähertreten, als eine solche Auslegung dem System des BVergG nicht Rechnung tragen würde. Mit den angefochtenen Bescheiden weist das BVA zwei Anträge der beschwerdeführenden Gesellschaft auf Feststellung gemäß §91 Abs3 BVergG, daß wegen eines Verstoßes gegen das BVergG oder hiezu ergangenene Verordnungen der Zuschlag nicht dem Bestbieter erteilt wurde, zurück. Nach der Systematik des BVergG sind solche Nachprüfungsanträge von jenen nach §91 Abs2 BVergG zu unterscheiden, die (wie jene vom 14. Oktober 1996) auf die Nichtigerklärung vergaberechtlicher Entscheidungen bzw. auf die Erlassung einstweiliger Verfügungen gerichtet sind. Zwar ist beiden Arten von Nachprüfungsverfahren die Voraussetzung des Erreichens des für das jeweilige Vergabeverfahren maßgeblichen Schwellenwertes gemein - weshalb das BVA auch auf seine diesbezüglich negativen Feststellungen aus den die Nachprüfungsanträge vor Zuschlagserteilung erledigenden Bescheide verweist -, inhaltlich zielen sie aber auf unterschiedliche behördliche Maßnahmen bzw. Feststellungen ab. Im Hinblick auf die dargelegte Gesetzessystematik, das im Rahmen des Art83 Abs2 B-VG verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht der beschwerdeführenden Gesellschaft auf Sachentscheidung und das Gebot verfassungskonformer Interpretation geht der Verfassungsgerichtshof deshalb von der Annahme aus, daß die Zurückweisung nicht aus dem Grunde der res iudicata, sondern aus jenem (gleichen) Grund erfolgt ist, der nach Auffassung des BVA auch einer meritorischen Erledigung der Anträge vor Zuschlagserteilung entgegenstand, als es seine Unzuständigkeit wegen Nichterreichens eben jenes in §3 Abs1 BVergG normierten - und vom Verfassungsgerichtshof im genannten Erkenntnis vom 30. November 2000 als verfassungswidrig qualifizierten - Schwellenwertes annahm.
Die Beschwerden wurden am 17. Juni 1997 beim Verfassungsgerichtshof eingebracht. Der Zeitpunkt des Beginns der nichtöffentlichen Beratung im Normenprüfungsverfahren über die zitierte Wortfolge in §3 Abs1 BVergG, BGBl. 462/1993, war der 30. November 2000. Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit (vgl. Pkt. II.1.) wirkt daher auch für sie. Auch die vorliegenden Bescheide verletzen deshalb die beschwerdeführende Gesellschaft wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten. Die Bescheide waren daher aufzuheben.
4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 Z3 VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.
5. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG. Im zugesprochenen Kostenbetrag ist Umsatzsteuer in Höhe von insgesamt
S 6.000,-- enthalten.
Schlagworte
Auslegung eines Bescheides, Bescheid Rechtskraft, Vergabewesen, Abänderung und Behebung von amtswegen, VfGH / AnlaßfallEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2000:B1475.1997Dokumentnummer
JFT_09998787_97B01475_00