TE Vfgh Erkenntnis 2000/12/13 B490/00

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Veröffentlicht am 13.12.2000
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Index

L7 Wirtschaftsrecht
L7200 Beschaffung, Vergabe

Norm

B-VG Art83 Abs2
EMRK Art6 Abs1 / Tribunal
Richtlinie des Rates vom 21.12.89. 89/665 / EWG, zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentl Liefer- u Bauaufträge
Wr LandesvergabeG §99 Abs1
Wr LandesvergabeG §101
EG-Vertrag Art234 (früher Art177)

Leitsatz

Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Tribunal durch Entscheidungen des Vergabekontrollsenates (VKS) angesichts der Verquickung der Agenden des VKS mit Agenden der Vergabe von Aufträgen durch die Stadt Wien; Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch Zurückweisung von Anträgen auf Widerruf einer Ausschreibung wegen Unzuständigkeit des VKS mangels Vorlage der Frage der Interpretation einer Bestimmung der allgemeinen Rechtsmittelrichtlinie zur Vorabentscheidung an den EuGH

Spruch

Die beschwerdeführende Gesellschaft ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Das Land Wien ist verpflichtet, der beschwerdeführenden Gesellschaft zu Handen ihres Rechtsvertreters die mit S 32.200,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die beschwerdeführende Gesellschaft hat sich an der Ausschreibung für die Fensterlieferung und Montagearbeiten bei der Sockelsanierung einer städtischen Wohnanlage durch Legung eines Angebotes beteiligt. Am 16. November 1998 wurde die Ausschreibung widerrufen; die Bieter wurden hievon verständigt. Nach Durchführung eines Vorverfahrens gemäß §96 Wiener Landesvergabegesetz (in der Folge: Wr.LVergG) beantragte die beschwerdeführende Gesellschaft beim Wiener Vergabekontrollsenat (in der Folge: VKS) die Durchführung eines Nachprüfungsverfahrens zur Nichtigerklärung der Entscheidung der Auftraggeberin, die Ausschreibung zu widerrufen, in eventu festzustellen, daß die Auftraggeberin durch den Widerruf der Ausschreibung den Zuschlag nicht dem Bestbieter erteilt habe. Zudem wurde beantragt, eine einstweilige Verfügung gegen die Auftraggeberin zu erlassen.

2. Mit einer als Bescheid bezeichneten Erledigung vom 22. Jänner 1999 wies der VKS den Antrag der beschwerdeführenden Gesellschaft auf Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens und auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung gemäß §97 Abs2 Z1 iVm §101 des Wr.LVergG zurück. Diese Erledigung war jedoch weder mit der Unterschrift dessen versehen, der sie genehmigt hatte, noch enthielt sie die Beglaubigung der Kanzlei (Geschäftsstelle). Die gegen diese Erledigung erhobene, auf Art144 B-VG gestützte und zu B490/99 protokollierte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, in der die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Erledigung begehrt wurde, wurde deshalb mit Beschluß vom 29. November 1999, B490/99-9, mangels Bescheidqualität des bekämpften Aktes wegen offenbarer Unzuständigkeit gemäß §19 Abs3 Z2 lita VerfGG zurückgewiesen.

3. Am 14. März 2000 wurde der beschwerdeführenden Gesellschaft eine inhaltsgleiche - nunmehr aber alle Bescheidmerkmale aufweisende - Erledigung ihres Antrags zu Handen ihres Rechtsvertreters zugestellt, mit der die Anträge der beschwerdeführenden Gesellschaft vom 7. Jänner 1999 gemäß §97 Abs2 Z1 iVm §101 Wr.LVergG zurückgewiesen wurden.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, in der die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird.

Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie den Beschwerdebehauptungen entgegentrat und die Abweisung der Beschwerde begehrte.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die zulässige Beschwerde erwogen:

1. a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (vgl. zB VfSlg. 14.390/1995, 14.889/1997, 15.507/1999) verletzt der Bescheid einer Verwaltungsbehörde unter anderem dann das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter, wenn die bescheiderlassende Behörde als Gericht im Sinne des Art234 Abs3 (früher: Art177 Abs3) EGV eingerichtet ist und es verabsäumt, eine entscheidungsrelevante Frage der Auslegung einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen. Ein solcher Fehler ist dem VKS bei Erlassung des geschilderten Bescheides unterlaufen.

Der VKS ist als vorlagepflichtiges Gericht im Sinne des Art234 Abs3 EGV zu qualifizieren (VfSlg. 15.507/1999). Im vorliegenden Verfahren hatte der VKS die Frage zu prüfen, ob die Entscheidung des Auftraggebers, eine Ausschreibung zu widerrufen, eine bei ihm bekämpfbare Entscheidung ist oder ob er zur Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Widerrufsentscheidung unzuständig ist. Er entschied sich für die zweite Alternative und begründete dies zusammengefasst wie folgt: Die Zuständigkeit des VKS sei in §99 Wr.LVergG taxativ festgelegt. Gemäß dessen Abs1 sei der VKS auf Antrag in einem Nachprüfungsverfahren bis zum Zeitpunkt des erfolgten Zuschlags zur Beseitigung von Rechtsverstößen im Sinne des §101 Wr.LVergG zur Erlassung von einstweiligen Verfügungen sowie zur Nichtigerklärung rechtswidriger Entscheidungen der vergebenden Stelle des Auftraggebers bzw. nach erfolgtem Zuschlag zur Feststellung, ob wegen eines Verstoßes gegen das Wr.LVergG der Zuschlag nicht dem Antragsteller als Bestbieter erteilt worden sei, zuständig. Ein Nachprüfungsverfahren könne nur hinsichtlich eines Nichtigkeitsgrundes nach §101 Wr.LVergG beantragt werden, weshalb sich nur in dessen Rahmen die Zuständigkeit des Vergabekontrollsenates im Nachprüfungsverfahren bewegen könne. Eine Prüfung des Widerrufs einer Ausschreibung sei in §101 Wr.LVergG nicht vorgesehen, weshalb der Antrag auf Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens und in weiterer Folge auf Aussetzung der Aufhebung der Ausschreibung zurückzuweisen gewesen sei.

Der Verfassungsgerichtshof hat schon in der zitierten Entscheidung VfSlg. 15.507/1999 dargelegt, daß Grund zur Annahme bestehe, daß die Begrenzung der der Überprüfung durch den VKS zugänglichen Entscheidungen durch §101 Wr.LVergG in der hier maßgeblichen Fassung im Widerspruch zur gemeinschaftsrechtlichen Vorgabe der allgemeinen Rechtsmittelrichtlinie (RL 89/665/EWG idF 92/50/EWG) stehe. Die Frage, ob die Entscheidung über die Aufhebung einer Ausschreibung, also der Widerruf der Ausschreibung, eine Entscheidung sei, von der Art2 Abs1 litb der Rechtsmittelrichtlinie verlange, daß sie im Falle ihrer Rechtswidrigkeit aufgehoben werden könne, sei für die Anwendung der Vorschriften über die Zuständigkeit des VKS von zentraler Bedeutung. Dies trifft auch auf das diesem Beschwerdeverfahren zugrundeliegende Nachprüfungsverfahren zu: Denn wäre die gestellte Frage zu bejahen, könnte eine den Anwendungsvorrang der maßgeblichen gemeinschaftsrechtlichen Regelung wahrende oder eine gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation (vgl. dazu VfSlg. 14.391/1995) der Zuständigkeitsregelungen des Wr.LVergG, insbesondere der Z1 des §99 Abs1 dieses Gesetzes, die Annahme der Zuständigkeit des VKS auch zur Überprüfung der Entscheidung über den Widerruf der Ausschreibung tragen. Dies auch im Lichte der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Dorsch-Consult (Slg. 1997, I-4961), in der der Gerichtshof zum Ausdruck brachte, daß die Erfordernisse einer der Richtlinie entsprechenden Auslegung des nationalen Rechts und eines effektiven Schutzes der Rechte des einzelnen, dem nationalen Gericht gebieten, zu prüfen, ob ihm aufgrund der einschlägigen Vorschriften des nationalen Rechts eine entsprechende Rechtsschutzmöglichkeit gewährt werden kann.

Die Frage, ob der Widerruf einer Ausschreibung einer Entscheidung im Sinne des Art2 Abs1 litb der allgemeinen Rechtsmittelrichtlinie ist, wäre daher für den VKS bei Erlassung des hier bekämpften Bescheides entscheidungsrelevant gewesen. Sie zu klären, ist im Rahmen des dualen Rechtsschutzsystems des Gemeinschaftsrechts Sache des EuGH. Da die Frage bisher vom EuGH noch nicht entschieden ist, wäre der VKS verpflichtet gewesen, sie dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen bzw. das Verfahren bis zur Entscheidung des EuGH über ein bereits erfolgtes Vorabentscheidungsersuchen abzuwarten.

Da der VKS somit entgegen der Anordnung des Art234 Abs3 EGV eine vorlagepflichtige Frage der Interpretation des Gemeinschaftsrechts dem EuGH nicht zur Vorabentscheidung vorgelegt hat, hat er die beschwerdeführende Gesellschaft in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt.

2. Der Bescheid war daher aufzuheben.

3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist ein Streitgenossenzuschlag in Höhe von

S 2.250,--, Umsatzsteuer in Höhe von S 4.950,-- und eine Eingabegebühr gemäß §17a VerfGG in Höhe von S 2.500.-- enthalten.

4. Die Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne vorangegangene mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Schlagworte

Vergabewesen, Behördenzuständigkeit, EU-Recht, EU-Recht Richtlinie

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2000:B490.2000

Dokumentnummer

JFT_09998873_00B00490_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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