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10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
AVG §37;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zeizinger und die Hofräte Dr. Rigler, Dr. Handstanger, Dr. Enzenhofer und Dr. Strohmayer als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Stummer, über die Beschwerde der A, geboren am 1972, vertreten durch Dr. Michael Kreuz, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Herrengasse 8/3/1, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 15. November 2000, Zl. SD 120/00, betreffend Feststellung gemäß § 75 Abs. 1 des Fremdengesetzes 1997, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
I.
1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien (der belangten Behörde) vom 15. November 2000 wurde auf Grund des Antrages der Beschwerdeführerin, einer armenischen Staatsangehörigen, vom 22. Juli 1998 gemäß § 75 Abs. 1 des Fremdengesetzes 1997 - FrG, BGBl. I Nr. 75, festgestellt, dass keine stichhaltigen Gründe für die Annahme bestünden, dass die Beschwerdeführerin in Armenien gemäß § 57 Abs. 1 oder Abs. 1 leg. cit. bedroht sei.
Die Beschwerdeführerin sei am 12. August 1996 gemeinsam mit ihrem Ehegatten und dem ehelichen Sohn in das Bundesgebiet gelangt. Am 13. August 1996 habe ihr Ehegatte einen Asylantrag und für seine Angehörigen einen Erstreckungsantrag gemäß § 4 des Asylgesetzes 1991 gestellt. Anlässlich der niederschriftlichen Vernehmung vor dem Bundesasylamt habe die Beschwerdeführerin am 30. August 1996 den Erstreckungsantrag zur Kenntnis genommen und hinsichtlich ihrer Fluchtgründe Folgendes ausgeführt:
"Ich bin meinem Mann ins Ausland mitgefolgt, irgendwelche konkreten Fluchtgründe habe ich nicht. Was hätte ich allein mit meinem Kind zu Hause tun sollen?
Über Befragen gebe ich an, dass ich keine Unterlagen habe, die meine aufrechte Verehelichung mit meinem Mann beweisen könnten. Ich habe auch keine Geburtsurkunde für mein Kind.
Ich habe den Inhalt der Niederschrift verstanden und wurde mir dieser ausdrücklich rückübersetzt. Eine Ablichtung der Niederschrift wird mir mitgegeben."
Nachdem der Asylantrag ihres Ehegatten rechtskräftig abgewiesen worden sei, sei auch der Erstreckungsantrag der Beschwerdeführerin mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 2. Dezember 1996 abgelehnt worden.
Den verfahrensgegenständlichen Antrag begründe die Beschwerdeführerin im Wesentlichen damit, dass ihr Ehegatte als Sohn einer Azerbeidschanerin und eines Armeniers ein so genannter "Udin" wäre und daher die gesamte Familie einer Bedrohung bzw. Verfolgung im Sinn des § 57 Abs. 1 und Abs. 2 FrG ausgesetzt wäre. Die Verfolgung der Beschwerdeführerin beruhte ausschließlich auf Gründen der Abstammung und der Nationalität, sohin wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit. Ihre politische Verfolgung hätte 1985 begonnen. Das Haus ihrer Familie wäre 1988 niedergebrannt worden, wodurch die Familie alle Papiere verloren hätte.
Am 30. September 1999 habe die Beschwerdeführerin vor der Erstbehörde (der Bundespolizeidirektion Wien) erstmals geltend gemacht, dass sie in Anbetracht ihrer nunmehrigen Zugehörigkeit zur "Baha'i-Religion" ebenfalls mit Verfolgung rechnen müsste. In einer weiteren Stellungnahme vom 28. Dezember 1999 habe sie im Wesentlichen ihr bisheriges Vorbringen wiederholt und darüber hinaus auf Berichte internationaler Organisationen über die allgemeine politische Lage in Armenien verwiesen. Letzteres gelte auch für den Inhalt ihres Berufungsschreibens vom 24. Februar 2000.
Begründend führte die belangte Behörde weiter aus, dass der Asylantrag des Ehegatten der Beschwerdeführerin rechtskräftig abgewiesen worden sei und sich die Beschwerdeführerin demnach nicht mit Erfolg auf eine allfällige Verfolgung im Sinn des § 57 Abs. 2 FrG berufen könne, zumal sie vor der Asylbehörde keine "konkreten Fluchtgründe" habe vorbringen können. Ihr Vorwurf in der Niederschrift vom 30. September 1999, dass sie sich von den vor dem Bundesasylamt gemachten Angaben distanzierte, weil der Dolmetscher nicht alles richtig übersetzt hätte, sei daher nicht nachvollziehbar; dies umso weniger, als sie in diesem Zusammenhang nicht dargelegt habe, was vom Dolmetscher falsch übersetzt worden wäre.
Hinsichtlich einer allfälligen Verfolgung der Beschwerdeführerin auf Grund der Abstammung ihres Ehegatten sei im Feststellungsverfahren eine Äußerung des Bundesasylamtes eingeholt worden. Diese Behörde habe zunächst festgestellt, dass eine "udinische" Volksgruppe bei den Recherchen nicht habe gefunden werden können. Die zahlreichen in Armenien lebenden Volksgruppen, wie Armenier, Assyrer, Griechen, Kurden, Georgier, Russen, Juden, usw., würden jedoch nicht in Bezug auf Arbeit, Wohnungsbeschaffung oder Gesundheitspflege diskriminiert. Lediglich die Azeri müssten seit dem Karabach-Konflikt damit rechnen, in vielerlei Hinsicht mit Diskriminierungen konfrontiert zu werden. Dass die Beschwerdeführerin dieser Volksgruppe angehöre, habe sie nicht behauptet.
Es sei daher zu prüfen gewesen, ob eine Bedrohung wegen der aktuellen Situation in Armenien vorläge. Die Beschwerdeführerin moniere in diesem Zusammenhang, dass stichhaltige Gründe für eine Bedrohung im Sinn des § 57 Abs. 1 FrG vorlägen, die sie mit der derzeitigen Lage in Armenien begründe. Konkret wären im Jahr 1999 verschiedene Fälle von Folter und Misshandlungen bekannt geworden. Nach wie vor würden mehrere Personen bei kriegerischen Übergriffen im Konflikt zwischen Armenien und Azerbeidschan sterben. Zu ihrem Berufungsvorbringen habe sie auch ein umfangreiches Konvolut an allgemeinem Beweismaterial vorgelegt.
Eine aktuelle Bedrohungssituation sei mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun. Das vorgelegte Beweismaterial sei zwar geeignet, allgemeine Aufschlüsse über verfolgungsrelevante Ereignisse zu geben, jedoch fehle diesem Beweismaterial die Individualität. Es habe daher nicht die Qualität, die Verfolgungsgefahr der Beschwerdeführerin zu bescheinigen. Die Frage, ob stichhaltige Gründe für die in § 57 Abs. 1 FrG umschriebene Annahme vorlägen, habe das Bundesasylamt aus folgenden Gründen verneint: Zwar wäre die Anwendbarkeit des Art. 3 EMRK nicht auf Fälle staatlicher oder quasistaatlicher Verfolgung beschränkt, doch lägen im Berufungsfall auch keine anderen stichhaltigen Gründe für die Annahme vor, dass die Abschiebung für die Beschwerdeführerin ein tatsächliches Risiko unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe wäre oder gar das Risiko der Todesstrafe in sich bergen würde. Die belangte Behörde schließe sich der Auffassung des Bundesasylamtes, dass in Armenien für die Beschwerdeführerin keine einzelfallbezogene Bedrohung vorläge, an. Die von der Beschwerdeführerin erwähnten und von ihrem Ehegatten im Asylverfahren konkret geschilderten Ereignisse lägen etwa zwölf Jahre zurück, wobei sie nicht stichhaltig darlege, was sie zur Annahme kommen lasse, dass sie auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt einer Bedrohung im Sinn des § 57 Abs. 1 FrG ausgesetzt wäre. Der Hinweis auf die allgemeine politische Situation in Armenien genüge nicht.
Auch hinsichtlich des von ihr geltend gemachten Umstandes, sie wäre nunmehr der "Baha'i-Religion" beigetreten, habe das Bundesasylamt eine Äußerung abgegeben und Folgendes festgestellt:
Nach dem Religionsgesetz der Republik Armenien von 1991 sei die Freiheit der Religionsausübung im Prinzip gewährleistet. Es bestünden jedoch Einschränkungen hinsichtlich "missionarischer Tätigkeiten" und Gemeinschaften, deren Glaube nicht auf "geschichtlich anerkannte Schriften" zurückgehe (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 10. Dezember 1998).
Der UNHCR habe die Beschränkung der Religionsfreiheit einzelner Religionsgemeinschaften - wie z.B. der Zeugen Jehovas und ihre diskriminierende Behandlung bei Wehrdienstleistungen oder Wehrdienstentziehung - kritisiert.
Der Menschenrechtsbericht des US-Department of State vom 30. Jänner 1998 verweise in diesem Zusammenhang darauf, dass die Zeugen Jehovas nicht als Religionsgemeinschaft registriert seien, da sie keine Wehrpflicht für die eigenen Mitglieder akzeptierten.
Es gebe in Armenien eine doch erstaunliche Anzahl eingetragener und anerkannter Religionsgemeinschaften, unter denen sich auch die Glaubensrichtung der Beschwerdeführerin als Angehörige der "Baha'i-Religion" befinde. Die Behauptung, dass sie ihre Religionsfreiheit nicht ausüben könnte, könne daher mit hinreichender Sicherheit nicht bestätigt werden.
Selbst wenn man ihrer Behauptung unter der hypothetischen Annahme folgen würde, dass sie ihre Religion in ihrem Heimatstaat nicht ausüben könnte, würde diese bloße Behauptung nicht unter das Regime des Refoulements fallen.
Eine Verfolgungssituation im Sinn des § 57 Abs. 1 und Abs. 2 FrG würde ein aktives Tun des Staates oder eines Dritten, gegen den der jeweilige Staat die ihm an sich verfügbaren Mitteln nicht einsetze oder auf deren Einsatz er in zurechenbarer Weise verzichte, voraussetzen. Die von der Beschwerdeführerin vorgetragene, bloß abstrakte Gefahr, ihre Religion nicht ausüben zu können, erreiche die Schwelle dieser Tatbestandselemente bei weitem nicht, sodass eine weitere rechtliche Auseinandersetzung damit unterbleiben könnte.
Angesichts des gegebenen Sachverhalts und unter Bedachtnahme auf die zitierten Äußerungen des Bundesasylamtes vertrete die belangte Behörde die Auffassung, dass keine stichhaltigen Gründe für die Annahme bestünden, dass die Beschwerdeführerin in Armenien gemäß § 57 Abs. 1 und/oder Abs. 2 FrG bedroht sei.
2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auszuheben.
3. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift mit dem Antrag, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1. Nach ständiger hg. Rechtsprechung hat der Fremde im Rahmen eines Feststellungsverfahrens nach § 75 FrG das Bestehen einer aktuellen, also im Fall seiner Abschiebung in den von seinem Antrag erfassten Staat dort gegebenen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten Bedrohung im Sinn des § 57 Abs. 1 oder Abs. 2 FrG glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist. Ebenso wie im Asylverfahren ist auch im Verfahren nach § 75 FrG die konkrete Einzelsituation in ihrer Gesamtheit, gegebenenfalls vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse, in Form einer Prognose für den gedachten Fall der Abschiebung des Fremden in diesen Staat, zu beurteilen. Für diese Beurteilung ist nicht unmaßgeblich, ob etwa allenfalls gehäufte Verstöße der in § 57 Abs. 1 FrG umschriebenen Art durch den genannten Staat bekannt geworden sind. (Vgl. zum Ganzen etwa das Erkenntnis vom 25. September 2003, Zl. 98/18/0263, mwN.)
2. Die Beschwerde bringt vor, dass die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid offensichtlich davon ausgehe, dass die Volksgruppe der Azeri im Sinn des § 57 FrG bedroht werde. Die Beschwerdeführerin habe eindeutig dargelegt, dass sie in Armenien als Azeri angesehen werde. Es mache für die Bedrohungssituation keinen Unterschied, ob eine bestimmte Person einer Volksgruppe tatsächlich angehöre oder bloß als dieser zugehörig gelte. Die Beschwerdeführerin habe in ihrer Berufung vorgebracht, dass sie auf Grund der mütterlichen azerbeidschanischen Abstammung ihres Ehegatten in Armenien bedroht sei und als Azeri gelte. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, dass sie durch das vorgelegte Beweismaterial untermauert habe, sei von der belangten Behörde jedoch überhaupt nicht gewürdigt worden.
3. Dieses Vorbringen führt die Beschwerde zum Erfolg.
Die Beschwerdeführerin hat in ihrer Berufung gegen den erstinstanzlichen Bescheid u.a. vorgebracht, dass im Jahr 1999 verschiedene Fälle von Folter und Misshandlungen bekannt geworden seien, nach wie vor Personen bei kriegerischen Übergriffen im Konflikt zwischen Armenien und dem Azerbeidschan stürben, vor allem, wie der UNHCR im "Human Rights Report" bekannt gegeben habe, Fälle von massiver Brutalität der armenischen Polizei gegen Angehörige ethnischer Minderheiten an der Tagesordnung seien, von offiziellen Stellen keinerlei Hilfe zu erwarten sei und sie auf Grund der azerbeidschanischen Abstammung ihres Ehegatten in Armenien als Azeri und somit als Angehörige einer ethnischen Minderheit gelte. Sie wären direkt von der Diskriminierung betroffen und müssten Angriffe auf ihr Leben in Armenien erwarten. Da ihr Ehemann von einer Azerbeidschanerin und einem Armenier abstamme, träfen sie dieselben Diskriminierungen und Gewaltdrohungen aller Beteiligten des Nagorno-Karabach-Konfliktes, der über 400.000 Menschen zur Flucht gezwungen habe.
Die belangte Behörde hat in der Begründung des angefochtenen Bescheides (u.a.) ausgeführt, dass zahlreiche in Armenien lebende Volksgruppen nicht in Bezug auf Arbeit, Wohnungsbeschaffung oder Gesundheitshilfe diskriminiert würden und lediglich die Azeri seit dem Karabach-Konflikt damit rechnen müssten, "in vielerlei Hinsicht" mit Diskriminierungen konfrontiert zu werden. Dass die Beschwerdeführerin dieser Volksgruppe angehöre, habe sie nicht behauptet.
Mit dem Berufungsvorbringen, dass die Beschwerdeführerin zwar nicht selbst von einer Azerbeidschanerin abstamme und Azeri sei, jedoch auf Grund der Abstammung ihres Ehegatten als Azeri gelte, hat sich die belangte Behörde nicht auseinandergesetzt und darüber keine Feststellungen getroffen. Diesem Feststellungsmangel kommt jedoch entscheidungserhebliche Bedeutung zu, kann doch auf dem Boden der Ausführungen im angefochtenen Bescheid, dass die Azeri seit dem Karabach-Konflikt damit rechnen müssten, "in vielerlei Hinsicht" mit Diskriminierungen konfrontiert zu werden, nicht ausgeschlossen werden, dass die Beschwerdeführerin, sollte sie tatsächlich in Armenien als Azeri angesehen werden, dort einer unmenschlichen Behandlung im Sinn des § 57 Abs. 1 FrG ausgesetzt wäre.
Im Hinblick darauf erweist sich der im angefochtenen Bescheid festgestellte Sachverhalt in einem wesentlichen Punkt als ergänzungsbedürftig. Sollte sich herausstellen, dass die Beschwerdeführerin tatsächlich in Armenien als Azeri gelte, so wäre auch noch zu präzisieren, in welcher Hinsicht Azeri "mit Diskriminierungen konfrontiert" würden und ob es sich bei solchen Diskriminierungen um gehäufte Verstöße der in § 57 Abs. 1 FrG umschriebenen Art handle.
4. Demzufolge war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
5. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003.
Wien, am 28. September 2004
Schlagworte
Besondere Rechtsgebiete Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung VerfahrensmangelEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2004:2001180043.X00Im RIS seit
22.10.2004