TE Vwgh Erkenntnis 2004/11/4 2003/20/0486

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Veröffentlicht am 04.11.2004
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
AVG §37;
AVG §45 Abs2;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
FrG 1997 §57;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Berger und Mag. Nedwed als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Trefil, über die Beschwerde des B in W, geboren 1976, vertreten durch Dr. Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Schottenfeldgasse 2-4/II/23, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 8. April 2003, Zl. 221.998/0- II/39/01, betreffend §§ 7 und 8 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Türkei kurdischer Abstammung, reiste am 14. Dezember 2000 in das Bundesgebiet ein und stellte am darauf folgenden Tag einen Asylantrag. Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 2. März 2001 führte er zu seinen Fluchtgründen unter anderem aus, er sei von Soldaten in seinem Heimatdorf Dösengi (Kreis Yedisu, Provinz Bingöl) Ende Juli/Anfang August 2000 aufgefordert worden, das Dorfschützeramt zu übernehmen. Als er dies abgelehnt habe, sei er für zwei Tage festgehalten und misshandelt worden; auch sei ihm unterstellt worden, er müsse ein PKK-Anhänger sein (tatsächlich habe er "PKK-Leute", aber auch Soldaten nur mit Essen versorgt, wenn sie zu ihm gekommen seien). Nach seiner Freilassung sei der Beschwerdeführer zunächst in ein Nachbardorf gezogen, wo ihn seine Mutter einige Tage später telefonisch darüber informiert habe, dass die Soldaten nach ihm gesucht hätten. Er solle nicht zurück kommen, sondern die Flucht ergreifen. Der Beschwerdeführer habe sich daraufhin nach Istanbul begeben und dort "ein bißchen gearbeitet", habe jedoch weiterhin befürchtet, gefunden zu werden, und deshalb die Türkei verlassen.

Das Bundesasylamt wies den Asylantrag mit Bescheid vom 4. April 2001 gemäß § 7 AsylG ab und stellte fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 8 AsylG zulässig sei. Zwar erachte die Behörde es für glaubwürdig, dass der Beschwerdeführer das Dorfschützeramt in seinem Heimatdorf übernehmen hätte sollen und auf Grund seiner diesbezüglichen Weigerung von Soldaten zwei Tage lang angehalten und geschlagen worden sei, weshalb er sich - nach seiner Freilassung - nach Istanbul begeben habe, wo er bis Dezember 2000 geblieben sei. Es möge - so die Behörde weiter - auch zutreffen, dass sich Soldaten bei seiner im Heimatdorf zurückgebliebenen Mutter nach dem Aufenthaltsort des Beschwerdeführers erkundigt hätten. Seine Weigerung, das Dorfschützeramt anzunehmen, habe jedoch zu keinem Gerichtsverfahren gegen ihn geführt. Daher könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer in der Türkei landesweit gesucht werde. Vielmehr habe für den Beschwerdeführer eine inländische Fluchtalternative "in den großen Städten" bestanden.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Berufung des Beschwerdeführers führte die belangte Behörde am 13. Juni 2002 eine mündliche Berufungsverhandlung durch, im Rahmen derer der Beschwerdeführer eine (undatierte) "Vorstandsbescheinigung" des Vorsteher seines Heimatortes vorlegte, wonach er von der Gendarmerie von Yedisu "wegen ungesetzlicher Aktivitäten" gesucht werde. Damit sei - führte der Beschwerdeführer erläuternd aus - seine angebliche Unterstützung der Guerillas gemeint. Zur Frage der inländischen Fluchtalternative brachte die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers in der Verhandlung vor, dieser laufe auch in anderen Teilen der Türkei Gefahr, in Konflikt mit den Sicherheitskräften zu kommen, was auf Grund seiner Weigerung als Dorfschützer tätig sein zu wollen bzw. der sonstigen vorgeworfenen Aktivitäten eine Gefahr für Leib und Leben darstelle, und berief sich zum Beweis dafür, dass für den Beschwerdeführer eine "interne Fluchtmöglichkeit" nicht bestehe, auf ein einzuholendes Sachverständigengutachten. Der Beschwerdeführer führte dazu sinngemäß aus, überall in der Türkei würde die Polizei im Falle einer Kontrolle in seiner Heimatregion nachfragen und dabei erfahren, dass er gesucht werde. Er sei ohnehin unter Verdacht gestanden, die PKK zu unterstützen. Im Übrigen habe er zwar (vor seiner Ausreise) vier Monate in Istanbul gelebt und gearbeitet, sich in dieser Zeit aber nicht "viel draußen aufgehalten" und sei "unversichert beschäftigt" gewesen, weshalb man ihn nicht gefunden habe. So habe er aber nicht ewig leben können.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers gemäß §§ 7 und 8 AsylG ab. Hinsichtlich des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes verwies sie auf den erstinstanzlichen Bescheid und erhob dessen Feststellungen auch zum Inhalt ihrer Entscheidung. Nach (ergänzenden) Ausführungen zur Situation der Kurden in der Türkei stellte die belangte Behörde zur Gefährdung von in die Türkei zurückkehrenden Asylwerbern (unter Berufung auf einen Bericht des deutschen auswärtigen Amtes vom 20. März 2002) insbesondere fest, für abgeschobene Personen könnten Schwierigkeiten dann eintreten, wenn die Befragung oder Durchsuchung des Gepäcks bei den Grenzbehörden oder Recherchen bei den Heimatbehörden den Verdacht der Mitgliedschaft in oder der Unterstützung der PKK oder anderer illegaler Organisationen begründen. Die Betreffenden würden dann den zuständigen Sicherheitsbehörden übergeben. Rechtlich folgerte die belangte Behörde, es sei anhand der Ermittlungsergebnisse im gesamten Verfahren nicht feststellbar, dass der Beschwerdeführer lediglich auf Grund seiner Weigerung, das Dorfschützeramt in seiner Heimatregion zu übernehmen, landesweit in der gesamten Türkei gesucht werde; dies auch unter Berücksichtigung dessen, dass eine "Zwangsrekrutierung" zum Dorfschützer gemäß der zu Grunde liegenden Dorfschützer-Verordnung nicht vorgesehen sei. Es sei dem Beschwerdeführer durchaus zuzumuten, sich in einem anderen Landesteil seines Heimatstaates niederzulassen und eine Existenz aufzubauen, zumal er ohne Probleme mit den Behörden bereits vier Monate in Istanbul gelebt und gearbeitet habe. Daher könne nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im gesamten Gebiet der Türkei Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention drohe. Vielmehr sei davon auszugehen, dass sich der Beschwerdeführer der Gefahr einer potentiellen Verfolgung durch Verlegung seines Wohnsitzes entziehen habe können. Im gesamten Vorbringen des Beschwerdeführers fänden sich auch keine Anhaltspunkte für das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 57 FrG.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:

Die belangte Behörde verneint unter Hinweis auf eine inländische Schutzalternative die Gefahr für den Beschwerdeführer, auf Grund seiner Weigerung, das Dorfschützeramt in seiner Heimatregion zu übernehmen, verfolgt zu werden. Diese Einschätzung wurde von ihr jedoch nicht nachvollziehbar begründet und nimmt insbesonders auf das Vorbringen des Beschwerdeführers sowohl vor dem Bundesasylamt als auch vor der belangten Behörde nicht ausreichend Bedacht.

Zur Untermauerung ihrer Erwägungen führt die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid aus, der Annahme einer landesweiten Suche des Beschwerdeführers stünde "auch" entgegen, dass eine "Zwangsrekrutierung" zum Dorfschützer gemäß der zu Grunde liegenden Dorfschützerverordnung nicht vorgesehen sei. Dieses Argument greift schon deshalb zu kurz, weil die belangte Behörde - wie auch das Bundesasylamt - gleichzeitig davon ausging, dass der Beschwerdeführer in seinem Heimatdorf vom Militär gegen seinen Willen und unter Anwendung von Gewalt zur Übernahme des Dorfschützeramtes gezwungen werden sollte. Der bloße Hinweis darauf, dass nach den türkischen Rechtsvorschriften (der Dorfschützerverordnung) eine "Zwangsrekrutierung" nicht vorgesehen sei, ist daher ohne Berücksichtigung der tatsächlichen Praxis türkischer Behörden bei der Rekrutierung von Dorfschützern ungeeignet, Rückschlüsse auf die tatsächliche Gefährdung des Beschwerdeführers wegen seiner Weigerung, dieses Amt zu übernehmen, zu ziehen.

Sollte die belangte Behörde mit diesem Argument - im Sinne etwa auch der Ausführungen des Bundesasylamtes - gemeint haben, der Beschwerdeführer laufe nicht Gefahr, außerhalb der Heimatregion wegen seiner ablehnenden Haltung zur Übernahme des Dorfschützeramtes einem Strafverfahren unterzogen zu werden, hätte es weiter gehender Überlegungen dahin bedurft, ob türkische Behörden in der (allenfalls auch straflosen) Weigerung zur Übernahme dieser Funktion eine politische Gesinnung zu erkennen vermeinen, die zu asylrelevanter Verfolgung des Beschwerdeführers Anlass geben kann. Eine derartige Überprüfung des Sachverhaltes war schon deshalb indiziert, weil der Beschwerdeführer angegeben hatte, ihm sei nach Ablehnung des Dorfschützeramtes vorgeworfen worden, ein PKK-Anhänger zu sein. Zwar nimmt die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid auf diesen Umstand insofern Bezug, als sie anführt, der Beschwerdeführer habe nicht alle Zweifel an der Glaubwürdigkeit seines Vorbringens ausräumen können, insbesondere "hinsichtlich der erstmals in der Berufungsverhandlung vorgebrachten angeblichen Unterstützung der PKK, zumal eine derartige Unterstützung gegen das Anwerben als Dorfschützer" spreche. Dem ist jedoch zu erwidern, dass der Beschwerdeführer nicht erst in der Berufungsverhandlung, sondern bereits anlässlich seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt angegeben hatte, die Militärs seines Heimatortes hätten ihm - und zwar dieser ersten Aussage zufolge erst in Reaktion auf seine Weigerung, das Dorfschützeramt zu übernehmen - (zu Unrecht) vorgeworfen, er müsse ein PKK-Anhänger sein. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die vom Beschwerdeführer im Rahmen des Berufungsverfahrens vorgelegte "Vorstandsbescheinigung" des Vorstehers seines Heimatortes zu sehen, wonach er von der Gendarmerie "wegen ungesetzlicher Aktivitäten" gesucht werde, worunter - so die Erläuterungen des Beschwerdeführers - seine angebliche Unterstützung der Guerillas gemeint sei. Die belangte Behörde hat es unterlassen, diese Urkunde und - mit Ausnahme der zuvor wiedergebenen, nicht tragfähigen Erwägungen - das gesamte Vorbringen des Beschwerdeführers, ihm werde wegen seiner Weigerung zur Übernahme des Dorfschützeramtes seitens der türkischen Behörden eine PKK-Anhängerschaft unterstellt, einer (schlüssigen) Beweiswürdigung zu unterziehen und dazu die erforderlichen Feststellungen zu treffen. Um die Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers in diesem Zusammenhang einschätzen zu können, bedarf es im Übrigen auch der Berücksichtigung amtsbekannter Länderberichte sowie allenfalls der Einholung des vom Beschwerdeführer beantragten Sachverständigengutachtens. So hat der Verwaltungsgerichtshof etwa in seinem Erkenntnis vom 22. Juli 2004, Zl. 2001/20/0711, unter Bezugnahme auf ein im dortigen Verfahren eingeholtes Sachverständigengutachten festgehalten, dem Gutachten könne entnommen werden, dass die türkischen Sicherheitsbehörden "immer davon aus(gingen), dass ... Dorfschützer, die nicht freiwillig das Amt übernommen haben oder angetreten sind, die PKK-Angehörigen mit Lebensmittel, Kleidung, Unterschlupf etc. unterstützen."

Wäre davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer - infolge Ablehnung des Dorfschützeramtes - von den türkischen Behörden als "PKK-Anhänger" verfolgt wird, bedürfte auch die Annahme der belangten Behörde, er könne sich durch Übersiedlung in eine der Großstädte dieser Verfolgung entziehen, einer darauf Bedacht nehmenden Überprüfung, die sich im angefochtenen Bescheid nicht findet. Allein aus dem Umstand, dass sich der Beschwerdeführer etwa vier Monate (unbehelligt) in Istanbul aufgehalten hat, lässt sich auf eine fehlende Verfolgungsgefahr schon deshalb nicht ohne weiteres schließen, weil der Beschwerdeführer gleichzeitig vorgebracht hatte, er habe sich in dieser Zeit nicht "viel draußen aufgehalten" und sei "unversichert beschäftigt" gewesen, weshalb er nicht gefunden worden sei. So habe er aber nicht ewig weiterleben können. Auf dieses Vorbringen ist die belangte Behörde in der Begründung des angefochtenen Bescheides zu Unrecht nicht näher eingegangen.

Die unterbliebene Auseinandersetzung mit der dem Beschwerdeführer seitens der türkischen Behörden unterstellten PKK-Anhängerschaft hat auch Auswirkungen auf die behördliche Einschätzung seiner Gefährdung bei Rückkehr in die Türkei. So hat die belangte Behörde bezugnehmend auf einen Bericht des deutschen auswärtigen Amtes vom 20. März 2002 unter anderem festgestellt, dass für abgeschobene Personen bei der Wiedereinreise Schwierigkeiten dann eintreten können, wenn Recherchen bei den Heimatbehörden den Verdacht der Mitgliedschaft in oder der Unterstützung der PKK begründen. Diese Feststellung steht auch im Widerspruch zu der abschließenden Bemerkung der belangten Behörde im Zusammenhang mit ihrem Ausspruch nach § 8 AsylG, im gesamten Vorbringen des Beschwerdeführers habe sich kein Anhaltspunkt für das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 57 FrG ergeben.

Zusammenfassend hat die belangte Behörde daher den Bescheid mit den aufgezeigten Begründungsmängeln belastet und dem Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage des Bestehens einer internen Schutzalternative zu Unrecht keine Bedeutung beigemessen.

Da nicht auszuschließen ist, dass die belangte Behörde bei Einhaltung der verletzten Verfahrensvorschriften zu einem anderen Bescheid gelangt wäre, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 4. November 2004

Schlagworte

Begründung Begründungsmangel Begründungspflicht und Verfahren vor dem VwGH Begründungsmangel als wesentlicher Verfahrensmangel Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Freie Beweiswürdigung freie Beweiswürdigung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2004:2003200486.X00

Im RIS seit

03.12.2004
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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