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10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
AsylG 1997 §23;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Berger und Mag. Samm als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Trefil, über die Beschwerde des S in W, geboren 1976, vertreten durch Dr. Josef Deimböck, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Wiesingerstraße 3, gegen den am 9. September 2002 verkündeten und am 17. März 2003 schriftlich ausgefertigten Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates, Zl. 226.353/4- II/04/02, betreffend §§ 7 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein Sikh indischer Staatsangehörigkeit, reiste am 10. Juni 2001 in das Bundesgebiet ein und beantragte mit Schriftsatz vom 12. Juni 2001 Asyl. Bei seiner Einvernahme durch das Bundesasylamt am 3. Jänner 2002 gab er im Wesentlichen an, "seit 1992/1993" hätten ihn Mitglieder der Sikh Student Federation (SSF) immer wieder zu Hause aufgesucht und ihn aufgefordert, mitzugehen bzw. mitzuarbeiten. Auch die Mitglieder der Kongresspartei hätten immer wieder auf ihn eingeredet, er möge bei ihnen mitarbeiten. Deshalb habe er vor beiden Gruppierungen Angst gehabt und Indien verlassen. Er sei keinen Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen, sondern nur verbal zum Beitritt aufgefordert worden. Nach dem Vorhalt, aus diesem Vorbringen könne "keine asylrelevante Verfolgung abgeleitet" werden, ergänzte der Beschwerdeführer, er sei wegen des Verdachts, Mitglied der SSF zu sein, auch von der Polizei verfolgt und dabei im Jahr 1995 geschlagen worden. Auch sei er "im Jahre 1998 von der Polizei für 10 Tage inhaftiert" worden, wegen des Vorwurfs, "Verbindungen zur SSF" zu haben. Nach seiner Freilassung über Intervention des Bürgermeisters habe die Polizei ihn wieder gesucht, aber nicht gefunden, weil er sich versteckt gehalten habe. Während eines Aufenthalts in "New Delhi bzw. Bombay" sei der Beschwerdeführer nur zweimal einer Verkehrskontrolle unterzogen worden, habe dabei aber "keine Probleme gehabt".
Das Bundesasylamt wies den Antrag des Beschwerdeführers mit Bescheid vom 28. Jänner 2002 gemäß § 7 AsylG ab und stellte gemäß § 8 AsylG die Zulässigkeit seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Indien fest. Es schenkte seinen Angaben keinen Glauben.
Über die Berufung des Beschwerdeführers gegen diesen Bescheid und über fünf weitere Berufungen anderer indischer Asylwerber führte die belangte Behörde am 9. September 2002 eine gemeinsame mündliche Berufungsverhandlung durch. Der Beschwerdeführer ("BW I") brachte dabei vor, er fürchte sich vor der staatlichen Polizei, weil sie ihn für einen Terroristen, nämlich Angehörigen der SSF halte. Er sei zwar kein Mitglied dieser Gruppe, aber Familienangehörige hätten zu ihr Verbindung, weshalb er sich im Bundesstaat Punjab ("auf Nachfrage korrigiert": in ganz Indien) gefährdet fühle. Nach Vorhalt, zunächst ausdrücklich eine Gefährdung nur durch "die Polizei im Punjab" angegeben zu haben, während bei Aufenthalten in Neu Delhi bzw. Bombay keine Probleme mit den Sicherheitsbehörden bestanden hätten, gab der Beschwerdeführer zu Protokoll, er "fühle sich vor allem im Punjab gefährdet", aber überall, wo er hinziehe, "wird die dortige Polizei von mir erfahren, weshalb ich mich dann auch dort gefährdet fühle".
Nach Vorhalt von Ausführungen des zur Berufungsverhandlung beigezogenen Sachverständigen Mag. Brüser über die Lage in Indien (im Wesentlichen: Es seien nur "high-profile"-Verdächtige der Verfolgung durch staatliche Behörden ausgesetzt, nämlich in der Organisationshierarchie hoch stehende oder durch besondere Aktivitäten herausragende Führungspersonen bzw. Funktionäre militanter Organisationen) gab der Beschwerdeführer zu Protokoll, er fühle sich nach wie vor gefährdet, "und zwar auf Grund der Verbindung meiner Familie zur SSF".
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers gemäß §§ 7 und 8 AsylG ab.
Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten erwogen hat:
Die belangte Behörde hat keinerlei Sachverhaltsfeststellungen getroffen und sich in Bezug auf die drohende Verfolgung des Beschwerdeführers durch die Polizei mit dem Hinweis begnügt, es sei "die (vom Beschwerdeführer) in der Verhandlung einzig geltend gemachte staatliche Verfolgung wegen (unterstellter) Zugehörigkeit zur SSF jedenfalls gegenwärtig 'äußerst unwahrscheinlich', und zwar schon im Heimatbundesstaat des Berufungswerbers, weshalb es in seinem Fall gar nicht mehr erforderlich war, ihn auf die - nach den Darlegungen des Sachverständigen zumutbare - Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu verweisen". Dabei hat sie sich auf die "Darlegungen des Sachverständigen", denen der Beschwerdeführer "nicht fundiert entgegengetreten" sei, gestützt, ohne aber zum Ausdruck zu bringen, dass sie dem Vorbringen des Beschwerdeführers über dessen behauptete Erlebnisse - insbesondere in den Jahren 1995 und 1998 - auf Grund der Darlegungen des Sachverständigen keinen Glauben schenke.
Auch hinsichtlich der vom Beschwerdeführer relevierten "schweren Menschenrechtsverletzungen seitens der Sicherheitskräfte in Indien" verwies die belangte Behörde auf die Ausführungen des Sachverständigen, wonach "daraus .... nicht auf eine unmittelbare Gefährdung von jedermann geschlossen werden" könne, und das "individuelle Risiko, selbst Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu werden", "unter normalen Bedingungen" sehr gering sei.
Diese Begründung vermag den angefochtenen Bescheid nicht zu tragen, wenn man - wozu es angesichts des völligen Fehlens einer auf die Glaubwürdigkeit des Vorbringens bezogenen Beweiswürdigung der belangten Behörde keine Alternative gibt - vom Vorbringen des Beschwerdeführers ausgeht (vgl. in diesem Zusammenhang etwa das hg. Erkenntnis vom 22. Juli 2004, Zl. 2001/20/0558). Den Behauptungen des Beschwerdeführers zufolge sei er wegen des Verdachts, Mitglied der SSF zu sein, nicht nur 1995 von der Polizei geschlagen worden, sondern auch 1998 für 10 Tage inhaftiert worden; die Polizei habe auch nach seiner "durch Intervention des Bürgermeisters" erwirkten Haftentlassung wiederholt nach ihm gesucht. Die belangte Behörde hat sich dem gegenüber bei ihrer Beurteilung auf die Ausführungen des Sachverständigen gestützt, der - bezogen auf den Beschwerdeführer -
im Wesentlichen Folgendes dargelegt hat:
" Für den Themenkreis des Sikh-Extremismus gilt weiterhin, dass nach den mir vorliegenden Informationen, die mir gleichfalls während meiner jüngsten Indienreise vom 24.2. bis 29.3.2002 bestätigt wurden, nur 'high-profile'-Verdächtige der Verfolgung durch staatliche Behörden ausgesetzt sind. Unter 'high-profile-Verdächtigen' verstehe ich weiterhin, wie bereits in meinem Gutachten von Jänner 2002, Pkt.3 (und dort insbesondere Fußnote 2 Z 2) ausgeführt, 'entweder in der Organisationshierarchie hochstehende oder durch besondere Aktivitäten herausragende Führungspersonen bzw. Funktionäre militanter Organisationen, im Unterschied zu 'Sympathisanten, Angehörigen, Freunden und einfachen Mitgliedern von Gruppen, die für ein unabhängiges Khalistan eintreten.
Doch selbst 'high profile-Verdächtigen' kann es gelingen, unerkannt aus dem Ausland einzureisen und im Punjab zu leben. Die TIMES of INDIA vom 6. April 2002 berichtet von einem seit 15 Jahren gesuchten Mitglied der Khalistan National Army, das sich nach seiner Rückkehr nach Indien 4 Monaten in Amritsar aufhielt, bevor es sich selbst den Behörden stellte. Überdies werden solche 'high profile-Verdächtigen', wie ich bereits in meinem erwähnten Gutachten festgehalten habe, meistens nicht allein ihrer Zugehörigkeit zu einer terroristischen Gruppierung wegen, sondern nur dann gesucht, wenn sie überdies im Verdacht einer konkreten Straftat stehen. ... Die vom BW I erwähnte SSF hat sich 1989 von der 'All India Sikh-Student-Federation' (AISSF) abgespalten. Lediglich die AISSF war kurzzeitig, d.h. 1984/1985 einmal verboten, und zwar deshalb, da aus dieser Organisation zur damaligen Zeit eine erhebliche Anzahl (wenngleich immer noch die Minderheit) sich terroristisch betätigt hat.
Beide Organisationen - AISSF und SSF - bestehen auch noch gegenwärtig; beide Organisationen sind legal und es sind mir hinsichtlich keiner der beiden Organisationen in den letzten Jahren terroristische Aktivitäten oder auch sonstige Gewaltakte bekannt geworden.
Eine Verfolgung nur auf Grund einer unterstellten Mitgliedschaft zur SSF halte ich daher für äußerst unwahrscheinlich (und zwar auch schon im Bundesstaat Punjab)."
Dieser Beurteilung steht das konkrete, von der belangten Behörde nicht als unglaubwürdig erachtete Vorbringen des Beschwerdeführers entgegen, der - obwohl kein "high profile" aufweisend - wegen des Verdachts, Mitglied der SSF zu sein, auch noch nach seiner Inhaftierung 1998 von der Polizei verfolgt worden sei. Die belangte Behörde hat somit die Ausführungen des Sachverständigen mit einer seinen Einschätzungen in wesentlichen Punkten nicht erkennbar zugrunde liegenden Wahrunterstellung des gesamten Vorbringens kombiniert, sodass die Begründung der Entscheidung in sich nicht schlüssig ist (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 26. November 2003, Zl. 2001/20/0663).
Die belangte Behörde ist aber auch nicht auf das weitere Vorbringen des Beschwerdeführers eingegangen, der sich zur Begründung der ihm drohenden Verfolgung in der Berufung auch darauf gestützt hat, von Anhängern der Sikh Student Federation mit dem Tod bedroht worden zu sein, weil er dieser Organisation nicht beitreten habe wollen.
Der angefochtene Bescheid war schon aus diesen Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 4. November 2004
Schlagworte
Begründung Begründungsmangel Gutachten Beweiswürdigung der Behörde Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt freie BeweiswürdigungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2004:2003200276.X00Im RIS seit
30.11.2004