TE Vfgh Beschluss 2001/3/10 G106/00

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Veröffentlicht am 10.03.2001
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Index

25 Strafprozeß, Strafvollzug
25/02 Strafvollzug

Norm

B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
ABGB §273
StVG §69

Leitsatz

Keine Präjudizialität einer Bestimmung des Strafvollzugsgesetzes über die zwangsweise Behandlung bzw Ernährung eines Strafgefangenen im zivilgerichtlichen Verfahren zur Bestellung eines Sachwalters; lediglich Prüfung und Beantwortung der Frage der Krankheitseinsicht des Betroffenen durch das Gericht

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Begründung

Begründung:

I. 1.1. Das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien beantragt gemäß Art140 Abs1 B-VG aus Anlaß eines bei ihm anhängigen Rekursverfahrens, der Verfassungsgerichtshof möge

"§69 Abs1 und Abs2 2. Satz Strafvollzugsgesetz, BGBl 114/1969, (gemeint: BGBl. Nr. 144/1969) in der Fassung des BGBl 424/1974 als verfassungswidrig (aufheben)".

1.2. §69 StVG hat samt Überschrift folgenden Wortlaut:

"Zwangsuntersuchung, Zwangsbehandlung und Zwangsernährung

§69. (1) Verweigert ein Strafgefangener trotz Belehrung die Mitwirkung an einer nach den Umständen des Falles unbedingt erforderlichen ärztlichen Untersuchung oder Heilbehandlung, so ist er diesen Maßnahmen zwangsweise zu unterwerfen, soweit dies nicht mit Lebensgefahr verbunden und ihm auch sonst zumutbar ist. Einer unzumutbaren Untersuchung oder Heilbehandlung steht jeder Eingriff gleich, der nach seinen äußeren Merkmalen als schwere Körperverletzung (§84 Abs1 des Strafgesetzbuches) zu beurteilen wäre. Sofern nicht Gefahr im Verzug ist, muß vor jeder Anordnung einer zwangsweisen Untersuchung oder Heilbehandlung die Genehmigung des Bundesministeriums für Justiz eingeholt werden.

(2) Verweigert ein Strafgefangener beharrlich die Aufnahme von Nahrung, so ist er ärztlich zu beobachten. Sobald es erforderlich ist, ist er nach Anordnung und unter Aufsicht des Arztes zwangsweise zu ernähren."

1.3. Zum Sachverhalt des beim antragstellenden Gericht anhängigen Verfahrens wird im wesentlichen ausgeführt, der Betroffene sei zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden und befinde sich seit 28. März 1984 in Strafhaft. In der Zeit vom 23. Juni bis zum 4. Oktober 1999 sei er im Psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien wegen einer chronisch paranoiden Schizophrenie, Belastungsreaktion mit Nahrungsverweigerung und Verweigerung der Flüssigkeitszufuhr, fehlender Krankheitseinsicht und Behandlungsunwilligkeit und sich daraus ergebender Selbstgefährdung nach den Bestimmungen des Unterbringungsgesetzes untergebracht gewesen; diese Unterbringung sei am 4. Oktober 1999 durch den Abteilungsleiter der Krankenanstalt aufgehoben und der Betroffene wieder in den Strafvollzug überstellt worden.

Noch während der Unterbringung des Betroffenen im Psychiatrischen Krankenhaus sei auf Anregung dieser Anstalt ein Verfahren zur Bestellung eines Sachwalters für den Betroffenen eingeleitet und mit Beschluß des Erstgerichtes für den Betroffenen eine Rechtsanwältin zum Sachwalter für die folgenden Angelegenheiten bestellt worden: "Zustimmung zur medizinischen Diagnostik und zu medizinischen Heilbehandlungen". Gegen diesen Beschluß richte sich der rechtzeitige Rekurs des Betroffenen mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluß ersatzlos aufzuheben und das Verfahren einzustellen; dies mit der Begründung, der Betroffene habe nicht an der behaupteten Erkrankung gelitten und auch nicht die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme verweigert, sondern bloß kein Hunger- und Durstgefühl gehabt.

Gemäß §273 ABGB sei für eine Person, die an einer psychischen Krankheit leide oder geistig behindert sei und alle oder einzelne ihrer Angelegenheiten nicht ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst zu besorgen vermöge, ein Sachwalter zu bestellen. Die Bestellung eines Sachwalters sei jedoch unzulässig, wenn der Betroffene durch andere Hilfe in die Lage versetzt werden könne, seine Angelegenheiten im erforderlichen Ausmaß zu besorgen. Nach der Intention des Gesetzgebers solle der Eingriff in die Handlungsfähigkeit der Person im geringstmöglichen Umfang erfolgen. Es unterliege daher keinem Zweifel, daß im vorliegenden Fall die Bestellung eines Sachwalters zur Zustimmung zur medizinischen Diagnostik und zu medizinischen Heilbehandlungen dann nicht erfolgen dürfe, wenn diese Maßnahmen (ganz oder zum Teil) auch ohne Sachwalterbestellung am Betroffenen durchgeführt werden dürfen (und müssen).

Die Entscheidung des Erstgerichtes sei vom antragstellenden Gericht nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung zu überprüfen. In diesem Zeitpunkt sei der Betroffene (ua.) dem Regime des StVG, somit auch dessen §69 (idF BGBl. Nr. 424/1974), unterlegen.

Da sich der Rekurs gegen die Bestellung eines Sachwalters für den Betroffenen richte, habe das antragstellende Gericht bei allseitiger rechtlicher Prüfung darauf Bedacht zu nehmen, ob nicht durch die genannte Bestimmung des §69 StVG die Bestellung eines Sachwalters ganz oder zum Teil deshalb unzulässig sei, weil es gar nicht der Substituierung des fehlenden Willens des Betroffenen bedürfe, um ihn medizinisch zu behandeln und zu untersuchen (jedenfalls soweit nicht die Grenzen des §69 StVG überschritten seien). Da unter den Begriff der medizinischen Heilbehandlung zweifellos auch eine unter ärztlicher Aufsicht vorgenommene zwangsweise Ernährung falle, sei auch diese (§69 Abs2 StVG) vom Kreis der vom Sachwalter zu erledigenden Angelegenheiten mitumfaßt. Daraus ergebe sich, daß das antragstellende Gericht die Bestimmungen des §69 Abs1 erster und zweiter Satz sowie Abs2 zweiter Satz StVG anzuwenden hätte. Vom vorliegenden Antrag sei §69 Abs1 dritter Satz StVG nur deshalb umfaßt, weil er bei isoliertem Weiterbestehen sinnlos wäre.

2. Die Bundesregierung erstattete eine Äußerung, in der sie zur Präjudizialität der angefochtenen Bestimmungen für das gerichtliche Anlaßverfahren folgendes bemerkt:

"Wohl wird das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien den §69 StVG in der von ihm im Antrag aufgezeigten Form mitbedenken können; eine Anwendung dieses Gesetzes im eigentlichen Sinn kann darin jedoch nicht erblickt werden. Insbesondere hat das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien zwar über die Bestellung oder Nichtbestellung eines Sachwalters zu entscheiden, also §273 ABGB anzuwenden, nicht jedoch über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer Zwangsbehandlung oder Zwangsernährung zu befinden. Der Umstand, dass der Wirkungskreis des Sachwalters laut dem erstinstanzlichen Beschluss insoweit ins Leere gehen kann, als das Regime des Strafvollzugsgesetzes keinen Rückgriff auf den Sachwalter erfordert, kann dahingestellt bleiben. Wie ja gerade der Anlassfall zeigt, kann sich im vorliegenden Zusammenhang zumindest immer dann ein möglicher Anwendungsbereich für eine Sachwalterbestellung bzw. das Tätigwerden eines einmal bestellten Sachwalters eröffnen, wenn der Betroffene aus der Justizanstalt in eine öffentliche Krankenanstalt überstellt wird."

3. Der Antrag ist unzulässig:

3.1. Der Verfassungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, daß er sich nicht für berechtigt hält, bei der Prüfung der Frage, ob die Vorschrift, deren Verfassungs- oder Gesetzwidrigkeit behauptet wird, für die Entscheidung des Gerichtes präjudiziell ist, das Gericht an eine bestimmte Auslegung zu binden und damit auf diese Art der gerichtlichen Entscheidung indirekt vorzugreifen. Ein Mangel der Präjudizialität liegt daher nur dann vor, wenn die zur Prüfung beantragte Bestimmung ganz offenbar und schon begrifflich überhaupt nicht - dh. denkunmöglich - als eine Voraussetzung des gerichtlichen Erkenntnisses in Betracht kommen kann (vgl. VfSlg. 6278/1970 und die dort zitierte Vorjudikatur, ferner VfSlg. 7999/1977, 8136/1977, 8318/1978, 8871/1980, 9284/1981, 9811/1983, 9911/1983, 10.296/1984, 10.357/1985, 10.640/1985, 11.565/1987, 12.189/1989).

3.2. Letzteres trifft hier zu:

Das antragstellende Gericht begründet die Präjudizialität der angefochtenen Bestimmungen für die von ihm zu treffende Entscheidung im wesentlichen damit, daß - nach dem Verständnis des Gerichtes - gemäß §273 Abs2 erster Satz ABGB ein Sachwalter nicht bestellt werden dürfe, wenn die Wahrnehmung von Angelegenheiten des Betroffenen auch gegen dessen Willen zulässig (wie nach §69 StVG) und eine Substituierung des Willens des Betroffenen somit nicht geboten sei.

3.2.1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (vgl. OGH 18. April 1985, Zl. 8 Ob 543/85 = SZ 58/61 uva.) ist der Begriff "Angelegenheiten", zu deren Besorgung iS des §273 Abs1 ABGB ein Sachwalter bestellt werden kann, in einem sehr umfassenden Sinn zu verstehen; er umfaßt nicht bloß Rechtsgeschäfte und Rechtshandlungen, sondern auch die Fürsorge für die eigene Person (vgl. §282 zweiter Satz ABGB).

3.2.2. Gemäß §273 Abs2 erster Satz ABGB ist die Bestellung eines Sachwalters indes unzulässig,

"wenn der Betreffende durch andere Hilfe, besonders im Rahmen seiner Familie oder von Einrichtungen der öffentlichen oder privaten Behindertenhilfe, in die Lage versetzt werden kann, seine Angelegenheiten im erforderlichen Ausmaß zu besorgen".

Die zivilgerichtliche Rechtsprechung leitet daraus ab, daß die Bestellung eines Sachwalters lediglich als subsidiäre Maßnahme in Betracht komme, was aber nicht zur völligen Verdrängung des dem Sachwalterrecht innewohnenden Schutzgedankens führen dürfe. Hilfe im Sinne dieser Gesetzesstelle könne nur ein Tätigwerden bedeuten, das dazu beitrage, eine bestimmte Willensbildung des Behinderten zu verwirklichen. Es könne sich dabei im Verhältnis zur behinderten Person nur um eine unterstützende Funktion handeln. Hilfe sei nur dann möglich, wenn der Behinderte noch zu eigenem Handeln fähig sei, dh. ein bestimmtes Maß an Einsichts- und Urteilsfähigkeit aufweise (idS das bereits zitierte Urteil des OGH vom 18. April 1985, Zl. 8 Ob 543/85 = SZ 58/61; vgl. ferner OGH 15. Oktober 1996, Zl. 4 Ob 2299/96h).

3.2.3. Nach dieser Rechtsprechung des OGH ist es offensichtlich ausgeschlossen, Maßnahmen, die gerade nicht eine bestimmte Willensbildung des Betroffenen zu verwirklichen suchen bzw. denen keine diese Willensbildung unterstützende Funktion zukommt, sondern die per definitionem gegen den Willen des Betroffenen ergriffen werden - wie eine zwangsweise ärztliche Untersuchung oder Heilbehandlung oder eine ärztlich angeordnete und beaufsichtigte zwangsweise Ernährung -, als "andere Hilfe" iS des §273 Abs2 erster Satz ABGB zu qualifizieren.

3.2.4. Dem ist zuzustimmen: Es kann nämlich insbesondere keine Rede davon sein, daß eine mangels Einsicht des Strafgefangenen getroffene Zwangsmaßnahme iS des §69 StVG den Betroffenen in die Lage versetzte, "seine Angelegenheiten im erforderlichen Ausmaß zu besorgen", wie es §273 Abs2 erster Satz ABGB verlangt. Die Annahme des antragstellenden Gerichtes, die rechtliche Möglichkeit der Verfügung von Zwangsmaßnahmen iS des §69 StVG könne die Bestellung eines Sachwalters iS des §273 Abs2 erster Satz ABGB unzulässig machen, erweist sich somit schon aus dieser Sicht als offenkundig unrichtig. Im Rahmen eines Verfahrens zur Bestellung eines Sachwalters haben sich die Gerichte vielmehr auf die Prüfung der Frage zu beschränken, ob die betreffende Person unter Berücksichtigung ihrer konkreten Lebensumstände alle oder einzelne "ihrer Angelegenheiten" ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst zu besorgen vermag oder nicht; bezogen auf das vom antragstellenden Gericht dargelegte Problem bedeutet dies lediglich die Prüfung und Beantwortung der Frage, ob der Betroffene aus gutachtlicher Sicht jenes Maß an Krankheitseinsicht aufweist, das zur allfälligen Willensbildung im Zusammenhang mit einer medizinischen Behandlung gemäß §69 Abs1 erster Satz StVG erforderlich ist. Für die Prüfung dieser Frage ist die Bestimmung des §69 StVG, insbesondere hinsichtlich der darin (nach Auffassung des antragstellenden Gerichts unzureichend) geregelten Voraussetzungen für die Durchführung einer zwangsweisen Behandlung bzw. Ernährung, aber nicht relevant.

3.3. Da die Bestimmung des §69 StVG somit offenkundig nicht Voraussetzung für die vom antragstellenden Gericht zu treffende Entscheidung ist, ist sie nicht präjudiziell iS der zitierten Vorjudikatur.

Der Gesetzesprüfungsantrag war daher zurückzuweisen.

4. Dieser Beschluß konnte ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung gefaßt werden (§19 Abs3 Z2 lite VerfGG 1953).

Schlagworte

Sachwalterbestellung, Strafvollzug, ärztliche Betreuung, VfGH / Präjudizialität, Zivilrecht, Handlungsfähigkeit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2001:G106.2000

Dokumentnummer

JFT_09989690_00G00106_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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