TE Vwgh Erkenntnis 2004/11/26 2002/20/0185

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Veröffentlicht am 26.11.2004
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1997 §23;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
AVG §67d idF 2001/I/137;
EGVG 1991 Anlage Art2 Abs2 Z43a;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Berger und Dr. Pfiel als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Trefil, über die Beschwerde des E in W, geboren 1978, vertreten durch Dr. Lennart Binder, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Landstraßer Hauptstraße 58/14, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 28. Februar 2002, Zl. 220.931/0- II/39/01 betreffend §§ 7 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.171,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der 1978 im Bezirk Halfeti geborene Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Abstammung, reiste am 24. September 2000 in das Bundesgebiet ein und stellte am nächsten Tag einen Asylantrag. Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 20. November 2000 führte er zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen aus, die Polizei habe bereits während seiner Schulzeit (1994) die gemeinsam mit Freunden benützte Wohnung mehrmals durchsucht. Da sie alle aus Halfeti, dem Heimatbezirk von "Apo" (offenbar gemeint: Abdullah Öcalan), stammten, seien sie nämlich verdächtigt worden, diesen zu unterstützen. 1995 habe er die Schule gewechselt und sei zu Verwandten nach Birecik gezogen. Als ein Literaturlehrer einen kurdischen Schüler beschimpft habe, hätten der Beschwerdeführer und zwei andere Schüler dagegen protestiert, weshalb sie im Keller der Schule eingesperrt worden seien. Kurze Zeit später seien sie auf die Polizeistation in Birecik gebracht und dort gefoltert worden. Der Beschwerdeführer sei von einem der Polizisten verprügelt und mit einem Gummiknüppel geschlagen worden. In der Folge sei dieser Polizist auch mit seinem Fuß auf die linke Hand des am Boden liegenden Beschwerdeführers gestiegen, wodurch der Zeigefinger gebrochen worden sei. Der Beschwerdeführer sei "fast bewusstlos" gewesen. Diese Anhaltung habe drei bis vier Stunden gedauert. "Weil wir Kurden sind, behandeln sie uns" - so der Beschwerdeführer wörtlich - "wie Freiwild."

Im Jahr darauf (1996) sei der Beschwerdeführer wieder nach Halfeti gezogen und habe dort die Schule abgeschlossen. Obwohl seine Prüfungsergebnisse bei der Aufnahmeprüfung für die Universität positiv gewesen seien, sei er nur wegen seiner kurdischen Abstammung nicht aufgenommen worden, sodass er nicht studieren habe können. In den darauffolgenden Jahren (1997 bis 2000) habe der Beschwerdeführer mehrmals das "Hadep-Lokal" in Yukari Göklü aufgesucht. Aktiv habe er sich aber nie für die HADEP eingesetzt, er habe nur mit anderen HADEP-Mitgliedern "über die Angelegenheiten des Kurdistans" gesprochen. Im August 2000 sei der Beschwerdeführer in dem genannten Lokal von der Polizei festgenommen, auf die Polizeistation in Halfeti gebracht und unter dem Vorwurf, Anhänger der PKK zu sein und diese zu unterstützen, gefoltert worden. Er sei mit ausgestreckten Armen an ein "Holzgestell", das sich in einem Zimmer der Polizeistation befunden habe, festgebunden und mit einem Gummiknüppel geschlagen worden. Der Beschwerdeführer habe mehrere Schläge gegen die Brust bekommen, wobei man ihm "beinahe" einige Rippen gebrochen hätte. Beim Liegen verspüre er nach wie vor Schmerzen. Nach ungefähr drei Stunden sei er wieder freigelassen worden. Außerdem sei sein Heimatdorf im Durchschnitt zweimal im Monat von Soldaten und Polizisten kontrolliert worden. Aus Angst vor einer neuerlichen Festnahme habe sich der Beschwerdeführer im August 2000 zur Flucht entschlossen. Für den Fall der Rückkehr in die Türkei befürchte der Beschwerdeführer, wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit festgenommen, getötet oder lebenslang ins Gefängnis gesteckt zu werden.

Mit Bescheid vom 11. Jänner 2001 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG ab und stellte gemäß § 8 AsylG fest, seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Türkei sei zulässig. Das Bundesasylamt erachtete das Vorbringen des Beschwerdeführers für glaubwürdig, allerdings stünden die vom Beschwerdeführer dargelegten Vorfälle bis zum Jahre 1996 in keinem zeitlichen Bezug zu seiner Ausreise, weshalb insoweit von einer wohlbegründeten Furcht im Sinne der Flüchtlingskonvention nicht gesprochen werden könne. Die Anhaltung auf der Polizeistation im August 2000 stelle zwar einen Eingriff in seine körperliche Integrität dar, allerdings fehle es diesem Eingriff für eine Asylrelevanz an der erforderlichen Intensität. Da die Anhaltung auch "ohne weitere Konsequenzen beendet" worden sei, lasse dies den Schluss zu, die staatlichen Stellen hätten den Beschwerdeführer nicht als politisch gefährlich eingestuft. Die "Festnahme ohne weitere konkrete Anschuldigung" könne daher nicht zur Asylgewährung führen. Auch die Verweigerung des Hochschulstudiums erreiche jedenfalls nicht eine solche Intensität, dass ein weiterer Verbleib in seinem Heimatland aus objektiver Sicht unerträglich geworden wäre. Zur Nichtgewährung von Abschiebungsschutz führte das Bundesasylamt aus, nach den Aussagen von Vertretern in der Türkei tätiger Flüchtlingsbetreuungsorganisationen seien für aus dem Ausland in die Türkei zurückgeschobene Personen keine systematischen Repressionen der türkischen Behörden nachweisbar, wie auch ein (u.a. von Repräsentanten von UNHCR durchgeführtes) "Monitoring" mit zurückgekehrten Asylwerbern ergeben habe. Demnach sei es nicht ausreichend wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Türkei mit Repressionen zu rechnen habe, zumal er mit einem türkischen Schülerausweis und einem Auszug aus dem Einwohnerregisteramt seines Heimatdorfes seine türkische Staatsangehörigkeit nachweisen könne. Die behördlichen Maßnahmen würden auf die bei Grenzübertritten regelmäßig und üblicher Weise vorgenommenen Routinekontrollen beschränkt bleiben.

Mit dem vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen - entgegen dem ausdrücklichen Antrag "im Hinblick auf Artikel II Z 43 a EGVG" ohne mündliche Verhandlung erlassenen - Bescheid vom 28. Februar 2002 wies die belangte Behörde die gegen den erstinstanzlichen Bescheid erhobene Berufung gemäß §§ 7, 8 AsylG ab.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, die im Wesentlichen die Verletzung der Verhandlungspflicht durch die belangte Behörde rügt.

Über die Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten erwogen:

Die belangte Behörde hat im bekämpften Berufungsbescheid lediglich auf die Begründung des erstinstanzlichen Bescheides verwiesen und ergänzend nur ausgeführt, der Beschwerdeführer sei "in seinen Berufungsausführungen weder konkret der erstinstanzlichen Entscheidung entgegengetreten noch hat er ein asylrelevantes Vorbringen, auch hinsichtlich der Non-refoulement-Prüfung, erstattet". Aus den Feststellungen der Erstbehörde zur Situation der Kurden in der Türkei ergebe sich nicht, "dass die Verhältnisse in der Türkei für kurdische Volkszugehörige dergestalt wären, dass davon gesprochen werden müsste, dass systematisch eine Verfolgung der Angehörigen dieser Volksgruppe nur aus Gründen ihrer Nationalität erfolgt". Aus dem gesamten Vorbringen des Beschwerdeführers hätten sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass er im Falle einer Rückkehr in die Türkei erheblichen Beeinträchtigungen seiner körperlichen und seelischen Unversehrtheit, seiner Freiheit und seines Lebens ausgesetzt wäre und er sei den "detaillierten Ausführungen der Erstbehörde zu den Rückkehrbedingungen" nicht konkret entgegengetreten.

Diese Beurteilung wird dem Vorbringen des Beschwerdeführers nicht gerecht. In der Berufung wiederholte der Beschwerdeführer zunächst die vor der Erstbehörde vorgetragenen Fluchtgründe, er betonte nochmals, die ihm drohende Verfolgungsgefahr beruhe vor allem darauf, dass er Kurde sei und wie Abdullah Öcalan aus Halfeti stamme, und kritisierte in diesem Zusammenhang auch, die Erstbehörde habe keine Gesamtbetrachtung der ihm widerfahrenen jahrelangen, ständigen Diskriminierungen und Benachteiligungen vorgenommen. Darauf ist die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid allerdings nicht eingegangen, sondern sie hat sich lediglich "zustimmend" auf die Ausführungen des Bundesasylamtes bezogen, das im Wesentlichen nur eine die Erlebnisse in der Vergangenheit isoliert betrachtende Beurteilung vorgenommen hat. Der vom Bundesasylamt ins Treffen geführte Umstand, die Festnahme sei "ohne weitere konkrete Anschuldigung" erfolgt, widerspricht nämlich dem Vorbringen des Beschwerdeführers und der bloße Hinweis, die (letzte) Anhaltung sei "ohne weitere Konsequenzen" beendet worden, lässt nicht erkennen, es seien auch mögliche zukünftige Entwicklungen einbezogen worden, zumal sich im Erstbescheid auch die Feststellung findet, "Verletzungen der Menschenrechte (...) seitens der Sicherheitskräfte gegen Kurden (...) nehmen zu".

Vielmehr lässt sich dem (von den Asylbehörden zugrundegelegten) Vorbringen entnehmen, dass der bereits seit 1994 wiederholt ins Blickfeld der Behörden geratene, 1995 auch verhaftete und misshandelte Beschwerdeführer kurz vor seiner Ausreise (im August 2000) wegen des Verdachtes der PKK-Anhängerschaft und PKK-Unterstützung für mehrere Stunden festgenommen und gefoltert wurde und dass er wegen seiner kurdischen Abstammung (in Verbindung mit seiner Herkunft aus Halfeti) angesichts der regelmäßigen Kontrollen seines Heimatdorfes durch Sicherheitskräfte die Wiederholung derartiger Übergriffe befürchtet. Vor diesem Hintergrund greift die nur vergangenheitsbezogene Beurteilung durch die Asylbehörden zu kurz. Vielmehr wäre unter Bedachtnahme auf die individuelle Situation des Beschwerdeführers eine prognostische Einschätzung in Bezug auf eine allfällige asylrelevante Gefährdung im Fall seiner Rückkehr in die Türkei vorzunehmen gewesen.

Dazu hätte es aber auch einer Auseinandersetzung mit dem Berufungsvorbringen zur Rückkehrgefährdung von Kurden bedurft. In diesem Zusammenhang bezog sich der Beschwerdeführer auch auf die (von seinem Vertreter der Erstbehörde in mehreren Verfahren vorgelegte) Dokumentation des "Fördervereins Niedersächsischer Flüchtlingsrat" mit dem Titel "Von Deutschland in den türkischen Folterkeller". Aus dieser Dokumentation ergebe sich nach Ansicht des Beschwerdeführers die "zwingende" Schlussfolgerung, dass (auch nicht politisch aktive) Kurden bei ihrer Rückkehr in die Türkei massivsten Menschenrechtsverletzungen (wie etwa Folterungen, Beschimpfungen, aber auch dem sogenannten "Verschwindenlassen") ausgesetzt seien. Im Gegensatz zu der "offensichtlichen Verharmlosung" durch die Erstbehörde, die diesbezüglich den Eindruck eines geregelten und rechtsstaatlichen Verfahrens vermitteln wolle, sei bei den Überprüfungsverfahren der türkischen Behörden ein "hohes Maß an Willkürlichkeit" festzustellen, das dazu führe, dass "die genannte Personengruppe" jederzeit mit schwersten Misshandlungen zu rechnen habe.

Entgegen der Meinung der belangten Behörde ist der Beschwerdeführer mit diesen Ausführungen auch in ausreichend konkreter Weise den diesbezüglichen Feststellungen im Erstbescheid entgegen getreten, was nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung erfordert hätte (vgl. zu der hier maßgeblichen Rechtslage nach der Verwaltungsverfahrens-Novelle 2001 und vor der Asylgesetz-Novelle 2003 das Erkenntnis vom 23. Jänner 2003, Zl. 2002/20/0533, mwN, und zahlreiche daran anschließende Entscheidungen; siehe auch ein ähnliches Berufungsvorbringen betreffend das Erkenntnis vom 26. Mai 2004, Zl. 2001/20/0176, und zu der erwähnten Dokumentation das Erkenntnis vom 22. Oktober 2003, Zl. 2002/20/0084).

Die (von der belangten Behörde übernommenen) Feststellungen im Bescheid des Bundesasylamtes zur Rückkehrgefährdung wurden auf - dem Beschwerdeführer bei seiner Vernehmung vor dem Bundesasylamt nicht vorgehaltene und in den dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegten Akten auch nicht enthaltene - Unterlagen gestützt. Dabei handelt es sich unter anderem um ein "Gutachten über die politische und gesellschaftliche Situation der Kurden in der Türkei", mit dessen Inhalt in Verbindung mit (vor allem) darauf gegründeten, im Wesentlichen wortgleichen Feststellungen des Bundesasylamtes sich der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26. November 2003, Zl. 2001/20/0111, befasst hat. In den Entscheidungsgründen, auf die gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, wurden einzelne Stellen aus diesem Gutachten betreffend "PKK-Mitglieder bzw. PKK-Sympathisanten" und betreffend "Rückkehrfragen" (hinsichtlich "Einreisekontrollen" und "Behandlung Abgeschobener nach ihrer Rückkehr in die Türkei") wörtlich wiedergegeben und daraus fallbezogen gefolgert, die belangte Behörde hätte im Hinblick auf ihre Annahme, dem Beschwerdeführer sei eine Mitgliedschaft bei der PKK unterstellt worden, darzulegen gehabt, weshalb sie trotz der zitierten Passagen des Gutachtens zu dem Schluss gelangt sei, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in die Türkei dort von staatlichen Organen nicht in asylrelevanter Intensität verfolgt würde. Diese Überlegungen gelten insoweit auch für den vorliegenden Fall, als nach den erwähnten Teilen dieses Gutachtens auch eine maßgebliche Gefährdung des Beschwerdeführers, dem - nach seinem von den Asylbehörden zugrundegelegten Vorbringen - unterstellt wird, er sei PKK-Anhänger und habe die PKK unterstützt, nicht ohne Weiteres auszuschließen ist. Auch dabei könnte der vom Beschwerdeführer ins Treffen geführte Umstand, er sei wegen seiner Herkunft aus Halfeti besonders gefährdet, eine Rolle spielen (vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch das hg. Erkenntnis vom 1. April 2004, 2002/20/0440). Die belangte Behörde hat aber die insoweit gebotene - nach mündlicher Verhandlung vorzunehmende - Auseinandersetzung mit den von der Erstbehörde herangezogenen Quellen sowie eine Prüfung der darauf gestützten Feststellungen und der fallbezogen getroffenen Schlussfolgerungen unterlassen.

Der angefochtene Bescheid war daher angesichts der aufgezeigten Begründungsmängel und der Nichtbeachtung der Verhandlungspflicht wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 26. November 2004

Schlagworte

Begründungspflicht und Verfahren vor dem VwGH Begründungsmangel als wesentlicher Verfahrensmangel

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2004:2002200185.X00

Im RIS seit

30.12.2004
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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