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66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz;Norm
ASVG §500 Abs1;Beachte
Serie (erledigt im gleichen Sinn): 2002/08/0230 E 26. Jänner 2005Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bernard und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Köller, Dr. Moritz und Dr. Lehofer als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Müller, über die Beschwerde des C in N, vertreten durch Dr. Andreas A. Lintl, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Lugeck 7/14, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 25. Juli 2002, Zl. MA 15-II-M 62/2001, betreffend Begünstigung gemäß §§ 500 ff ASVG (mitbeteiligte Partei:
Pensionsversicherungsanstalt, vertreten durch Dr. Anton Paul Schaffer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Wollzeile 17/16), zu Recht erkannt:
Spruch
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
Der Beschwerdeführer hat dem Bund (Bundesminister für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz) Aufwendungen in der Höhe von EUR 381,90 und der mitbeteiligten Pensionsversicherungsanstalt Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die Vorgeschichte dieses Beschwerdefalls ist dem Erkenntnis vom 21. November 2001, Zl. 98/08/0228, 0229, zu entnehmen; daraus ist für den vorliegenden Beschwerdefall Folgendes noch von Bedeutung:
Der nach der Aktenlage zumindest seit 1914 in Österreich lebende britische Staatsbürger Ernest Albert M. führte schon 1922 in K eine Teppicherzeugung und ab 1937 in W einen Betrieb der Erzeugung von Garnen, Watte und Reißwolle. Im April 1938 kehrte Ernest Albert M. mit seiner Familie nach England zurück. Der Beschwerdeführer ist sein Sohn. Er wurde im Jahre 1924 geboren.
Unbestritten ist, dass die Eltern des Beschwerdeführers nicht jüdischer Abstammung waren.
Mit Bescheid vom 26. Februar 1998 wies die Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten (die Rechtsvorgängerin der mitbeteiligten Partei) den Antrag des Beschwerdeführers auf Begünstigung gemäß §§ 500 ff ASVG für die Zeit vom 4. März 1933 bis 31. März 1959 ab. In der Begründung wurde hiezu ausgeführt, das Ermittlungsverfahren habe ergeben, dass der Beschwerdeführer nicht dem gemäß § 500 ASVG zu begünstigenden Personenkreis angehört, weil er keinen Nachteil in seinen sozialversicherungsrechtlichen Verhältnissen aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen erlitten hätte.
Der Beschwerdeführer erhob Einspruch.
Mit Bescheid vom 23. Juni 1998 wies die belangte Behörde den
Einspruch des Beschwerdeführers als unbegründet ab.
Mit dem eingangs erwähnten Erkenntnis vom 21. November 2001
hat der Verwaltungsgerichtshof diesen Bescheid (und einen weiteren, die Schwester des Beschwerdeführers betreffenden Bescheid) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben. Er hat das Unterbleiben der Einvernahme des Beschwerdeführers und die in der Begründung des Einspruchsbescheides erfolgte Verweisung auf den Inhalt von anderen Bescheiden, die Geschwister des Beschwerdeführers betrafen und dem Beschwerdeführer nicht zugestellt worden waren, als wesentliche Verfahrensmängel beurteilt und sich dann in der Rechtsfrage wie folgt geäußert:
"Sowohl unter dem Gesichtspunkt einer Rechtswidrigkeit des Inhaltes als auch einer Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften wenden sich die Beschwerdeführer gegen die Auffassung der belangten Behörde, konkrete Verfolgungshandlungen gegen ihren Vater seien nicht nachgewiesen worden. Es sei ihnen wohl nicht zuzumuten gewesen, dass ihre Familie so lange zugewartet hätte, bis Repräsentanten des NS-Regimes an die Tür geklopft hätten und eine Flucht dann wohl nicht mehr möglich gewesen wäre. Auf Grund der historischen Tatsachen könne davon ausgegangen werden, dass im Falle der unterbliebenen Flucht die Familie der Beschwerdeführer als englische Staatsbürger bei Kriegsausbruch interniert worden wären. Die behauptete aktuelle und unmittelbar drohende Verfolgung ihrer Familie sei durch den Zeitungsartikel aus dem Jahr 1938 belegt. Darüber hinaus werde gerügt, dass die belangte Behörde mangels eigener Spezialkenntnisse einen Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Zeitgeschichte beizuziehen gehabt hätte.
...
Soweit ... die Frage, ob ein Begünstigungstatbestand vorliegt, auch in den vorliegenden Beschwerdefällen von der in der bisherigen Rechtsprechung noch nicht beantworteten Frage abhängt, ob einer Person englischer Staatsangehörigkeit nach dem 12. März 1938 und im weiteren Verlauf des Frühjahrs 1938 ganz allgemein wegen dieser Staatsangehörigkeit Verfolgungsmaßnahmen drohten, sei es, dass sie Gefahr lief, gezielt boykottiert und damit ihrer wirtschaftlichen Grundlage beraubt zu werden, sei es auf andere Weise, gleichen diese den mit Erkenntnis vom 30. Mai 2001, Zl. 98/08/0197, 0198 behandelten Beschwerdefällen der Geschwister der Beschwerdeführer. Die belangte Behörde wird daher auch in den vorliegenden Fällen die zur Klärung dieser Frage notwendigerweise zu berücksichtigenden historischen Gegebenheiten zu recherchieren und die Ergebnisse ihrer Ermittlungen in ihre Erledigung im zweiten Rechtsgang einzubeziehen haben."
In seinem - Geschwister des Beschwerdeführers betreffenden - Erkenntnis vom 30. Mai 2001, Zlen. 98/08/0197, 0198, auf welches er im Vorerkenntnis vom 21. November 2001 im soeben wiedergegebenen Zusammenhang verwiesen hat, hat der Verwaltungsgerichtshof dazu Folgendes ausgeführt:
"(Es) ...wird behauptet, dem Vater der Beschwerdeführer sei wegen seiner Weigerung, sich naturalisieren zu lassen, d.h. die hiesige Staatsbürgerschaft anzunehmen, gedroht worden und es sei wegen seiner ausländischen Staatsangehörigkeit sein Betrieb boykottiert worden. Diese Repressalien wären aber nur unter der Voraussetzung begünstigungsrechtlich relevant, wenn in der Zeit vom 13. März 1938 bis zur Auswanderung eine allgemeine Verfolgungsgefahr für Ausländer, insbesondere Engländer bestand. Ob deshalb eine solche allgemeine Verfolgungsgefahr angenommen werden kann, ist klärungsbedürftig. Es hängt somit das Problem, ob ein Begünstigungstatbestand vorliegt, von der in der bisherigen Rechtsprechung - soweit ersichtlich - noch nicht beantworteten Frage ab, ob einer Person englischer Staatsangehörigkeit nach dem 12. März 1938 und im weiteren Verlauf des Frühjahrs 1938 ganz allgemein wegen dieser Staatsangehörigkeit Verfolgungsmaßnahmen drohten, sei es, dass sie Gefahr lief gezielt boykottiert und damit ihrer wirtschaftlichen Grundlage beraubt zu werden, sei es auf andere Weise. In dieser Hinsicht erweist sich die Rüge als berechtigt: die belangte Behörde hat aus ihren Tatsachenfeststellungen über die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Vaters der Beschwerdeführer die Schlussfolgerung gezogen, dass eine ‚konkrete, objektiv begründete Verfolgungsgefahr des Vaters ... aus politischen Gründen nicht bestanden hat'. Sie hat aber in diesem Zusammenhang die Frage der allgemeinen Verfolgungsgefahr außer Acht gelassen und auch keine geeigneten Ermittlungen (z.B. durch Nachfrage bei einer mit der Geschichte dieser Zeit befassten Institution, wie z.B. dem 'Dokumentationsarchiv des österr. Widerstandes' oder bei einem Universitätsinstitut für Zeitgeschichte) angestellt. Selbst wenn nämlich die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Vaters der Beschwerdeführer für dessen Entschluss zur Ausreise maßgeblich gewesen sein sollte, würde dies (nicht anders als im Falle der Ausreise von Personen jüdischer Abstammung, die sich infolge der Ereignisse des 12. März 1938 in bereits längere Zeit bestandenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten befunden haben) dann nicht schaden, wenn auch eine allgemeine Verfolgungsgefahr für Personen mit englischer Staatsangehörigkeit zu diesem Zeitpunkt bereits bestanden hätte. Ob dies der Fall war, ist dem Verwaltungsgerichtshof aus eigenem nicht bekannt. Da die Forschungen auf diesem Gebiet gerade in den letzten Jahren besonders intensiviert worden sind, kann diese Frage ohne Befassung zuständiger Fachleute jedenfalls nicht von vornherein verneint werden. Die belangte Behörde hätte daher die Aufgabe gehabt, die zur Klärung dieser Frage notwendigerweise zu berücksichtigenden historischen Gegebenheiten zu recherchieren."
Die belangte Behörde hat im fortgesetzten Verfahren zunächst eine Stellungnahme der Stiftung Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes eingeholt, die sich mit Schreiben vom 5. September 2001, unterzeichnet von ihrem wissenschaftlichen Leiter, wie folgt äußerte:
"Wie allgemein bekannt ist, herrschten im März und April 1938 - in den Wochen nach dem gewaltsamen Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich - in der nunmehrigen 'Ostmark' pogromartige Zustände. Mehr als 70.000 ÖsterreicherInnen wurden - zumindest vorübergehend - inhaftiert; gegen mehr als 20.000 wurde von der Gestapo Schutzhaft verhängt, und schon am 1. April 1938 ging der erste Transport von österreichischen politischen Häftlingen in das KZ Dachau. Diese Verfolgungsmaßnahmen, organisiert sowohl von einheimischen Nationalsozialisten als auch von Organen des Deutschen Reiches, insbesondere der Gestapo, richteten sich vornehmlich gegen Juden und politische Gegner des Nationalsozialismus (Angehörige der Vaterländischen Front, Sozialisten, Kommunisten etc.), in weiterer Folge auch gegen andere politische, weltanschauliche oder 'rassische' Gegner wie Roma und Sinti, sogenannte 'Asoziale' und religiöse Minderheiten wie Zeugen Jehovas. Allgemeine Verfolgungsmaßnahmen gegen Ausländer, soweit sie nicht Juden waren, sind meines Wissens nicht bekannt; insbesondere hat es keine von oben angeordnete Maßnahmen gegen britische Staatsbürger gegeben. Dagegen spricht auch die Tatsache, dass das NS-Regime außenpolitisch die durch die Besetzung Österreich angespannte Situation gegenüber den Westmächten nicht noch mehr verschärfen wollte. Aus den Quellen ist mir bekannt, dass das deutsche Außenministerium die Reaktionen besonders in Großbritannien aufmerksam verfolgte und diesen großes Gewicht beimaß. So berichtete die Deutsche Botschaft in London am 28. Juni 1938 an das auswärtige Amt über eine Vorsprache von Lord Halifax, der sich nach dem Schicksal mehrerer inhaftierter politischer Persönlichkeiten aus Österreich erkundigte und gleichzeitig darauf hinwies, dass diese Frage 'für die Gestaltung der deutsch-englischen Verbindungen von erheblicher Wichtigkeit sei'. Dieser diplomatische Druck führte dazu, dass am 5. Juli 1938 in einem diesbezüglichen Gespräch von Staatssekretär von Weizsäcker mit dem Chef der Sicherheitspolizei Heydrich die Freilassung von einzelnen österreichischen Häftlingen erörtert wurde (siehe dazu: Wolfgang Neugebauer, 'Der erste Österreichertransport in das KZ Dachau 1938, in: Dachauer-Hefte, Nr. 14, S. 29 f). Diese Interventionen bezogen sich aber ausschließlich auf Österreicher. Es kann mit Sicherheit angenommen werden, dass Verfolgungsmaßnahmen gegen britische Staatsbürger Gegenstand solcher diplomatischen Vorsprachen gewesen wären. Jedenfalls ergibt sich daraus mit ziemlicher Sicherheit, dass im März und April 1938 keine allgemeine Verfolgungssituation für Briten in Österreich bestanden hat.
Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass auf lokaler Ebene, durch Aktivitäten örtlicher NS-Funktionäre, Maßnahmen gegen einzelne Ausländer gesetzt worden sind. Ob es solche Maßnahmen in W gegen Herrn Ernest Albert M gegeben hat, die in Richtung Boykott oder Druck zur Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft gegangen sind, entzieht sich meiner Kenntnis. Diese Frage könnte nur durch Recherchen an Ort und Stelle geklärt werden."
Das Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien gab folgende Stellungnahme vom 4. Oktober 2001 durch einen wissenschaftlichen Beamten ab:
"Betr.: Gutachtliche Stellungnahme zur Frage einer allgemeinen Verfolgungsgefahr für Ausländer, insbesondere Engländer in der Zeit von März/April 1938 in Österreich
Recherchen ergaben, dass in dem genannten Zeitraum im dem von den Nationalsozialisten okkupierten Österreich kein Nachweis für eine allgemeine Verfolgungsgefahr für Ausländer insbesondere Engländer gefunden werden konnte.
Siehe dazu: Egbert Mannlicher, Wegweiser durch die Verwaltung, Berlin, Leipzig, Wien 1942 S. 49 - 51, 457, 458
Gesetzblatt für das Land Österreich Jg. 1938, 108 Stück, 2. September 1938, S. 1727ff
§ 379. Kundmachung des Reichsstatthalters in Österreich, wodurch die Ausländerpolizeiverordnung vom 22. August 1938 bekanntgemacht wird
Demnach wäre auch für die in Österreich mit britischer Staatsbürgerschaft lebende Familie M keine allgemeine Gefährdung gegeben gewesen.
Recherchen ergaben jedoch, dass die Mutter von Ernest Albert M, Sarah M hieß, was auf eine mögliche jüdische Herkunft schließen lassen könnte. In diesem Falle hätte sehr wohl eine allgemeine Verfolgungsgefahr für die Familie bestanden."
Der Beschwerdevertreter legte mit Schreiben vom 29. Jänner 2002 eine Erklärung des Beschwerdeführers und seiner Schwester in englischer Sprache vor, worin der Beschwerdeführer im Wesentlichen über (fremdenfeindliche und) brutale körperliche Belästigungen durch Mitschüler auf dem Schulweg berichtet. Die Schwester des Beschwerdeführers berichtet von einem Lehrer, der sie vor der Klasse als "Ausländerin (foreigner) aus einem unfreundlichen Land" bezeichnet habe und berichtet ebenfalls von zwei Männern, die ihren Bruder belästigt hätten und von denen sich herausgestellt habe, dass sie der "Nazi Partei" oder der GESTAPO angehört hätten. Beide bezeichnen ihre letzten Schultage in Österreich als ängstigend.
Auf Grund eines Rechtshilfeersuchens der belangten Behörde teilte das Österreichische Generalkonsulat in London mit, dass eine Anreise des Beschwerdeführers nicht möglich gewesen sei, dieser aber eine schriftliche Stellungnahme übermittelt habe. In dieser Stellungnahme vom 25. März 2002 bezieht sich der Beschwerdeführer erneut auf die schon früher geschilderten Vorfälle. Sein Vater sei wegen seiner geschäftlichen Kontakte mit Juden boykottiert worden, weil der neue Bürgermeister Mitglied der NSDAP gewesen sei. Das letzte Ultimatum sei zwei oder drei Wochen vor der Ausreise im April 1938 gekommen: Es sei seinem Vater offen gesagt worden, seine Weigerung, die Staatsbürgerschaft (gemeint offenbar: des damaligen Deutschen Reichs) anzunehmen, würde die Dinge für ihn und seine Familie "sehr schwierig" machen.
Der Beschwerdevertreter erstattete eine Stellungnahme zu den oben erwähnten Äußerungen des Dokumentationsarchives und des Instituts für Zeitgeschichte und führte darin - unter Bezugnahme auch auf Beweisergebnisse in Parallelverfahren von Geschwistern des Beschwerdeführers - aus wie folgt:
"Eingangs wird auf den Konnex der Pensionsangelegenheiten (des Beschwerdeführers), Ernest M, Katharina G, Theresia B und Serafine S verwiesen. Die fünf Geschwister waren Kinder des Ernest Albert M, der als britischer Kriegsgefangener nach dem Ende des ersten Weltkrieges in Österreich verblieb und hier in der Folge die Mutter der Einschreiter ehelichte.
Die Beweisergebnisse und die Stellungnahmen der einzelnen Geschwister sind daher als Gesamtheit zu betrachten. Hinzuweisen ist insbesondere auch auf den Umstand, dass manche der Geschwister bessere Erinnerungen haben, als andere, insbesondere die jüngeren der Geschwister.
Setzt man die vorhandenen Stellungnahmen zueinander in Kontext, so ergibt sich, dass die Familie M im Jahr 1938 gezwungen war, Österreich zu verlassen, da gegen die Familie im allgemeinen und einzelne Familienmitglieder im besonderen, feindselige Handlungen gesetzt wurden und die Familie einem Boykott unterworfen wurde, der es der Familie unmöglich machte, weiterhin in Österreich zu leben.
Unterstrichen werden soll darüber hinaus der Umstand, dass, wie das Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien in dessen Stellungnahme vom 04.10.2001 ausführte und hinwies, die Mutter von Ernest Albert M, Sarah M hieß, was das Institut für Zeitgeschichte zu dem Schluss veranlasste, dass dies auf eine 'mögliche jüdische Herkunft schließen lasse könnte'.
Hier ist auszuführen, dass den Behörden im Jahr 1938 diese Information, also dass die Mutter des Ernest Albert M den Vornamen 'Sarah' hatte, ebenfalls zur Verfügung stand. Berücksichtigt man nun, mit welcher Akribie von den damaligen Machthabern Nachweise der 'arischen Abstammung' gefordert wurden und aufgrund des Umstandes, dass Sarah M niemals in Österreich lebte und sämtliche sie betreffende Urkunden in Großbritannien waren, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden muss, dass Ernest Albert M von den Nationalsozialisten für den Sohn einer jüdischen Mutter gehalten worden wäre und ihm dementsprechender Verfolgung, Boykottierung etc unterworfen hätten. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist daher nicht nur, ob die Mutter des Ernest Albert M jüdischer Herkunft war, sondern ob die damaligen nationalsozialistischen Machthaber Ernest Albert M für den Sohn einer jüdischen Mutter gehalten hätten. Diese Frage ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit ja zu beantworten.
Ernest Albert M und dessen Familie wären mit größter Wahrscheinlichkeit Verfolgung und Boykottierung ausgesetzt gewesen, da man sie, wären sie in Österreich verblieben, für die direkten Nachkommen einer jüdischen Mutter bzw. Großmutter gehalten hätte.
Darüber hinaus haben die Pensionswerber in ihren Stellungnahmen auch ausgeführt, dass sie einerseits persönlich von Lehrern und Mitschülern aufgrund ihrer englischen Herkunft schikaniert und bedroht wurden. ...
Wie sich aus der Aussage der Theresia B vom 18.01.2002 ergibt, ... war die Familie M auch einem Boykott unterworfen, in dem sich Geschäftsinhaber offenbar infolge politischem Drucks durch die lokalen 'Parteigrößen' weigerten, der Familie Lebensmittel zu verkaufen.
Der Einschreiter meint, dass aufgrund der bisherigen Aussagen und Erklärungen bereits davon auszugehen ist, dass den fünf Kindern des Ernest Albert M die Begünstigungen gemäß §§ 500ff ASVG zu gewähren sind.
Aus Gründen advokatorischer Vorsicht wird jedoch beantragt,
Ernest M und Theresia B vor der Konsularabteilung der Österreichischen Botschaft in London im Amtshilfeweg zu deren Wahrnehmungen betreffend konkrete feindselige Handlungen bzw. Verfolgungshandlungen, sowie zu allfälligen Boykottmaßnahmen zu vernehmen.
Es wird an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sowohl Ernest M, als auch Theresia B dem Antragstellervertreter gegenüber erklärt haben, dass sie reisefähig sind und bereit sind, ihre Aussage vor der Österreichischen Botschaft in London zu tätigen."
Mit dem nunmehr in Beschwerde gezogenen Bescheid hat die belangte Behörde den Einspruch des Beschwerdeführers erneut abgewiesen. Nach einer Wiedergabe des Verwaltungsgeschehens begründet die belangte Behörde ihren Bescheid im Wesentlichen wie folgt:
"Auch nach dem nunmehr durchgeführten ergänzenden Ermittlungsverfahren ist eine konkrete, individuelle Verfolgung des Vaters des Begünstigungswerbers aus politischen Gründen - auch von lokalen Funktionären und Parteimitgliedern der NSDAP - nicht nachgewiesen. Das Vorbringen von Ernest M, einem Bruder des (Beschwerdeführers), in seinem Schreiben vom 10.11.2001, dass der Vater des (Beschwerdeführers) auf Grund seiner Geschäftsverbindungen mit Juden, seiner freundschaftlichen Beziehung mit dem Bürgermeister, der der christlichen Partei angehört habe und auf Grund seiner Weigerung, die inländische Staatsbürgerschaft anzunehmen, von den Behörden der damaligen Machthaber im Staat bedroht worden sei, war bereits im Vorverfahren bekannt und ist nach wie vor durch nichts bewiesen. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass Ernest M nach eigener Aussage anlässlich seiner niederschriftlichen Einvernahme in der österreichischen Botschaft in London vom 11.11.1997 über eine konkrete Verfolgung seines Vaters aus eigener Wahrnehmung keine Auskunft geben konnte. Ebenso konnte Theresia B, eine Schwester des (Beschwerdeführers), anlässlich ihrer niederschriftlichen Einvernahme in der österreichischen Botschaft in London vom 10.11.1997 über konkrete Maßnahmen der damaligen Behörden gegen ihren Vater keine Auskunft gegeben. Da sich somit beide Geschwister an konkrete Verfolgungshandlungen der damaligen Machthaber nicht erinnern konnten, sah die angerufene Behörde keine Notwendigkeit, die beiden Genannten noch einmal im Amtshilfeweg einzuvernehmen.
Zu der Behauptung des Begünstigungswerbers, dass Schikanen und Bedrohungen von einigen Lehrern und Mitschülern sowie Boykottmaßnahmen von einigen Lebensmittelhändlern erfolgt seien, ist festzuhalten, dass nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bei einer Begünstigung aus politischen Gründen die Notwendigkeit besteht, dass konkrete Verfolgungshandlungen aus politischer Motivation durch die damaligen Träger der Macht im Staate als Bewahrer der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung gesetzt wurden oder zu fürchten waren. Die (vom Beschwerdeführer) geltend gemachten Übergriffe wurden jedoch nach der Aktenlage von Staatsorganen weder veranlasst noch bewusst geduldet.
Das neue Vorbringen, bei dem offensichtlich der entsprechende Hinweis im Gutachten des Institutes für Zeitgeschichte der Universität Wien vom 4.10.2001 aufgegriffen wurde, dass die Bedrohungen und Schikanen gegenüber der Familie des Begünstigungswerbers allenfalls auch auf dem Vornamen der Großmutter des (Beschwerdeführers), die Sarah hieß, beruht hätten, weil dies auf eine mögliche jüdische Herkunft schließen ließ, ist ebenfalls durch nichts belegt. Insbesondere liegt kein Nachweis dafür vor, dass den damaligen Behörden dieser Vorname überhaupt bekannt war. Auch lässt der Name Sarah nicht zwingend auf eine jüdische Abstammung schließen, sondern ist in England ein durchaus gebräuchlicher Vorname.
Die angerufene Behörde geht nach den Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens unverändert davon aus, dass der Vater des Begünstigungswerbers aus wirtschaftlichen Gründen im April 1938 Österreich mit seiner Familie verlassen hat.
Nach den eingeholten Gutachten des Institutes für Zeitgeschichte der Universität Wien vom 4.10.2001 und der Stiftung Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes vom 5.9.2001 ist nun aber auch geklärt, dass in der Zeit vom 13.3.1938 bis zur Auswanderung der Familie des (Beschwerdeführers) keine allgemeine Verfolgungsgefahr für Ausländer, insbesondere Engländer, in Österreich bestanden hat. Demnach war auch für die in Österreich mit britischer Staatsbürgerschaft lebende Familie M keine allgemeine Gefährdung aus politischen Gründen gegeben gewesen, da eine jüdische Abstammung der Familie nicht behauptet wird.
Somit liegt im vorliegenden Fall weder eine konkrete Verfolgung noch eine allgemeine Verfolgungsgefahr aus politischen Gründen vor, weshalb kein begünstigungsfähiger Tatbestand gegeben ist und dem Einspruch der Erfolg versagt bleiben musste."
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde.
Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und - wie die Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten - eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Gemäß § 500 ASVG werden Personen, die in der Zeit vom 4. März 1933 bis 9. Mai 1945 aus politischen Gründen - außer wegen nationalsozialistischer Betätigung - oder religiösen Gründen oder aus Gründen der Abstammung in ihren sozialversicherungsrechtlichen Verhältnissen einen Nachteil erlitten haben, nach Maßgabe der Bestimmungen der §§ 501, 502 Abs. 1 bis 3 und 5 und 506 ASVG, Personen, die aus den angeführten Gründen ausgewandert sind, nach den §§ 502 Abs. 4 bis 6, 503 und 506 ASVG begünstigt. Zwischen den Parteien des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ist lediglich strittig, ob der Vater des Beschwerdeführers - und damit auch dieser - im April 1938 aus politischen Gründen aus Österreich ausgewandert ist.
Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 30. Mai 2001, Zl. 98/08/0197, 0198, unter Hinweis auf das Erkenntnis vom 19. September 1989, Zl. 88/08/0102, bekräftigt hat, umfassen die politischen Gründe des § 500 ASVG auch die Gründe der Nationalität. Unter den in § 500 Abs. 1 ASVG genannten politischen Gründen kann nicht schon eine politische Überzeugung oder die Mitgliedschaft zu einer bestimmten politischen Partei verstanden werden, sondern nur eine konkrete politische Verfolgung oder die begründete Gefahr einer solchen. Dies bedeutet zwar nicht, dass die Annahme einer konkreten politischen Verfolgung oder der begründeten Gefahr einer solchen überhaupt nur dann in Betracht kommen kann, wenn die betreffende Person konkrete, also im weitesten Sinne als politisch anzusehende Handlungen gegen die NS-Machthaber gesetzt hat. Eine Verfolgung aus politischen Gründen - so schloss der Verwaltungsgerichtshof diesen Teil seiner Begründung im genannten, den Bruder des Beschwerdeführers betreffenden Vorerkenntnis vom 30. Mai 2001 - konnte dann vorliegen, wenn entweder der Vater der Beschwerdeführer konkret verfolgt worden wäre oder wenn für ihn eine - wenn auch noch nicht konkretisierte - allgemeine Verfolgungsgefahr bestanden hätte.
Die belangte Behörde hat diese Frage nach Verfahrensergänzung im zweiten Rechtsgang neuerlich verneint und sich dabei auf die von ihr eingeholten Stellungnahmen des DÖW und des Institutes für Zeitgeschichte gestützt.
Der Beschwerdeführer behauptet nicht, dass diese Äußerungen unschlüssig wären, und er trat ihnen im Verfahren vor der belangten Behörde der Sache nach auch nicht entgegen. Die belangte Behörde durfte daher davon ausgehen, dass im fraglichen Zeitraum des Jahres 1938 keine allgemeine Gefahr einer Verfolgung für Personen ausländischer, insbesondere englischer Staatsangehörigkeit auf dem Gebiet des heutigen Österreich festgestellt werden kann.
In der Beschwerde wird in diesem Zusammenhang zunächst darauf verwiesen, dass in der Stellungnahme des Institutes für Zeitgeschichte unter Hinweis auf den Vornamen der Großmutter "Sarah" auf eine "mögliche jüdische Herkunft" aufmerksam gemacht worden sei, ohne allerdings weitere Schlussfolgerungen aus diesem Hinweis zu ziehen.
In der Beschwerde wird - auf das Wesentliche zusammengefasst, teils unter dem Gesichtspunkt der Verletzung von Verfahrensvorschriften, teils der Rechtswidrigkeit des Inhaltes - aber auch gerügt, die Behörde habe Einvernahmen der Geschwister des Beschwerdeführers mit der Begründung unterlassen, diese hätten schon bei früheren Einvernahmen im Jahre 1997 nichts zur Frage der Verfolgung ihres Vaters beitragen können. Als Beweisthema, dem diese Einvernahmen hätten dienen sollen, nennt der Beschwerdeführer die Boykottmaßnahmen, Bedrohungen einzelner Familienmitglieder sowie feindselige Handlungen, vor allem in der Schule durch Mitschüler und Lehrer. Der Beschwerdeführer äußert auch die Vermutung, die Behörden hätten wegen des Vornamens der Großmutter den Beschwerdeführer "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" für jüdisch halten können, wobei er den "präsumptiven Bildungshorizont eines Nazifunktionärs im Weinviertel des Jahres 1938" in Rechnung gestellt wissen möchte.
Es kann auf sich beruhen, ob die Beweiswürdigung der belangten Behörde in diesem Zusammenhang in jeder Hinsicht mängelfrei ist, da es darauf aus rechtlichen Gründen nicht ankommt, wobei - auch zur Vermeidung von Missverständnissen - auf Folgendes hinzuweisen ist:
Der Verwaltungsgerichtshof verkennt nicht, dass die vom Beschwerdeführer im Verfahren geschilderten Ereignisse, von denen er und seine Geschwister betroffen waren, durchaus geeignet sein konnten, Angst und das Gefühl, unerwünscht zu sein, zu verursachen. Der Gesetzgeber stand freilich vor der Aufgabe, derartige Ereignisse, wie sie dem gesellschaftlichen Klima in einer Diktatur durchaus entsprechen mögen, und von denen jeder betroffen sein konnte, von dem bekannt wurde, dass er zum Nationalsozialismus nicht positiv eingestellt war, von jenen (noch gravierenderen) Ereignissen und Gefährdungen abzugrenzen, für die Wiedergutmachung im Sinne finanzieller und ideeller Hilfen geleistet werden konnte und sollte.
Die in Rede stehende Umschreibung hat der Gesetzgeber nach dem Verständnis, das die §§ 500 ff ASVG in der bisherigen jahrzehntelangen und gefestigten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gefunden haben, in der eingangs geschilderten Weise vorgenommen: Danach setzt eine zur Entschädigung führende Auswanderung im Sinne des § 502 Abs. 4 ASVG voraus, dass sie entweder auf eine gleichsam typisierte (d.h. ohne dass eine Untersuchung der jeweils konkreten und individuellen Motive stattfinden muss) und allgemeine, wenngleich noch nicht verwirklichte Gefahr der Verfolgung durch staatliche Organe (z.B. für Personen jüdischer Abstammung oder für Funktionäre politischer Parteien) zurückgeführt werden kann oder wenn sie in Reaktion auf die dem Betreffenden oder seiner Familie aus einem der Gründe des § 500 ASVG entweder konkret drohenden oder sich bereits manifestiert habenden Handlungen erfolgt, die Funktionsträgern der staatlichen Gewalt zurechenbar sind.
Die genannten Voraussetzungen treffen für die vom Beschwerdeführer geschilderten Belästigungen und Übergriffe einschließlich des behaupteten geschäftlichen Boykotts aber nicht zu, mögen diese von ihm und seiner Familie auch zu Recht als Verfolgungshandlungen empfunden und zum Anlass genommen worden sein, das Land zu verlassen.
Da sich der angefochtene Bescheid im Ergebnis als frei von Rechtsirrtum erweist, war die Beschwerde gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003.
Wien, am 22. Dezember 2004
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2004:2002080231.X00Im RIS seit
27.01.2005