TE Vwgh Erkenntnis 2005/1/21 2003/09/0100

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Veröffentlicht am 21.01.2005
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren;
67 Versorgungsrecht;

Norm

AVG §37;
AVG §52;
KOVG 1957 §41 Abs1 Z2;
OFG §11 Abs3;
OFG §11 Abs4;
OFG §11 Abs5;
OFG §11 Abs6;
OFG §11 Abs8;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Graf und die Hofräte Dr. Händschke, Dr. Blaschek, Dr. Rosenmayr und Dr. Bachler als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Lier, über die Beschwerde des SE in E, vertreten durch DDr. Christa Fries, Rechtsanwältin in 2500 Baden, Erzherzog Rainer-Ring 23, gegen den Bescheid des Bundesministers für soziale Sicherheit und Generationen vom 14. März 2003, Zl. 145.542/1-5/03, betreffend Nichtzuerkennung einer Waisengrundrente und einer Unterhaltsrente gemäß § 11 Abs. 3 bis 6 und 8 des Opferfürsorgegesetzes (OFG), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.171,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Eingabe vom 23. November 2000 beantragte der 1946 in Wien geborene Beschwerdeführer die Gewährung einer Hinterbliebenenrente und einer Unterhaltsrente und begründete diesen Antrag dahingehend, seine Eltern JE und FE seien jeweils von 1939 bis 1945 in NS-Konzentrationslagern inhaftiert gewesen. Beide seien Inhaber von Amtsbescheinigungen nach § 4 OFG gewesen. Der Beschwerdeführer sei seit seiner Kindheit immer krank gewesen und habe an nervösen Nervenzuständen und Herzbeschwerden sowie an hohem Blutdruck und Nervenschmerzen am ganzen Körper gelitten. Dadurch könne er kaum gehen. Wegen seiner Krankheit habe er auch seinen Beruf als Kaufmann kaum ausüben können. Er habe sein Gewerbe aufgeben müssen. Er habe immer mit seinen Eltern im gemeinsamen Haushalt gelebt; der Vater sei am 25. Juni 1985, die Mutter am 1. Februar 1992 verstorben. Seine Eltern hätten ihn immer finanziell unterstützt, da er seinen Beruf nur teilweise habe ausüben können, weil er immer kränklich gewesen sei.

Nach Einholung eines Datenauszuges der österreichischen Sozialversicherung, Einvernahme des Beschwerdeführers, der einen Befundbericht des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. B vom 23. November 2000 und eine Stellungnahme des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. R vom 9. November 2001 vorlegte, und Einholung eines - in der Folge ergänzten - Sachverständigengutachtens des Vertrauensarztes des Amtes der Niederösterreichischen Landesregierung Dr. Z erließ die Behörde erster Instanz ihren Bescheid vom 12. Februar 2002, mit welchem sie den Antrag des Beschwerdeführers auf Zuerkennung einer Waisengrundrente und einer Unterhaltsrente gemäß § 11 Abs. 3 bis 6 und 8 des Opferfürsorgegesetzes iVm §§ 39 und 41 Abs. 1 Z. 2 des KOVG abwies. Nach Wiedergabe des Verfahrensganges kam die Behörde erster Instanz zusammenfassend zum Ergebnis, dass aus medizinischer Sicht kein unbedenklicher Nachweis habe erbracht werden können, dass der Beschwerdeführer an körperlichen oder geistigen Gebrechen leide, derentwegen er dauernd außer Stande sei, sich selbst den Lebensunterhalt zu verschaffen, und dieses Leiden bereits vor Vollendung des 18. Lebensjahres eingetreten sei. Die Voraussetzungen des § 41 Abs. 1 Z. 2 KOVG für die Weitergewährung der Waisenrente über das 18. Lebensjahr hinaus lägen in dem Fall des Beschwerdeführers somit nicht vor.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Berufung

Mit dem nunmehr vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 14. März 2003 wurde der Berufung des Beschwerdeführers keine Folge gegeben und der bekämpfte erstinstanzliche Bescheid bestätigt.

Nach Darstellung des bisherigen Verfahrensganges sowie der Rechtslage führte die belangte Behörde aus, sie selbst habe versucht, allfällige medizinische Unterlagen von der vom Beschwerdeführer angeführten neurologischen Universitätsklinik im AKH Wien einzuholen, diese Erhebung sei negativ verlaufen. Auch der vom Beschwerdeführer in der Berufung angeführte Facharzt für Neurologie Dr. Wa habe auf Grund seines Ablebens zu Behandlungsunterlagen betreffend den Beschwerdeführer nicht mehr befragt werden können. Aus dem von der Berufungsbehörde eingeholten Sachverständigengutachten Dris. W gehe hervor, von organneurologischer Seite habe niemals eine Einschränkung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit bestanden und bestehe auch derzeit nicht. Soweit retrospektiv mit ausreichender Wahrscheinlichkeit angenommen werden könne, sei ab dem Termin der Schließung des eigenen Teppichhandels im Jahr 1999 Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit aus psychiatrischen Gründen anzunehmen. Das Leiden, welches diesen Zustand bedinge, habe zu diesem Zeitpunkt und nicht vor Vollendung des 18. Lebensjahres begonnen. Die angeblich seit Kindheit erforderliche ärztliche Behandlung sei ungenügend dokumentiert und habe entsprechend der Lebensgeschichte und dem Berufsschicksal des Beschwerdeführers niemals zu dauernder Erwerbsunfähigkeit geführt. Kausalleiden bestünden nicht. Der ärztliche Dienst der belangten Behörde sei in seiner Stellungnahme vom 22. November 2002 diesem Gutachten vollinhaltlich beigetreten. Die geltend gemachten Leiden seien rein akausaler Natur, es habe daher früher keine Einschränkung seiner Arbeits- und Erwerbsfähigkeit bestanden. Aus psychiatrischer Sicht sei mit ausreichender Wahrscheinlichkeit eine solche erst ab dem Jahre 1999 anzunehmen. Das vom Beschwerdeführer vorgelegte private nervenfachärztliche Gutachten Dris. V vom 23. Jänner 2003 sei nicht geeignet, eine Änderung in der Beurteilung des Falles herbeizuführen, weil dieses Gutachten, abgesehen davon, dass es im Auftrag des Beschwerdeführers erstellt worden sei und ausschließlich auf dessen Angaben beruhe, zum gegenständlichen Beweisthema, nämlich der Frage Selbsterhaltungsunfähigkeit infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen, sofern dieses vor Vollendung des 18. Lebensjahres eingetreten sei und solange dieser Zustand dauere, keine Stellungnahme enthalte und sich im Übrigen auch mit dem Gutachten des von der Behörde beigezogenen Sachverständigen nicht auseinandersetze. Das Gutachten des von der Behörde beigezogenen Sachverständigen Dr. W vom 30. Oktober 2002 sei also in Verbindung mit den Stellungnahmen des ärztlichen Dienstes der belangten Behörde vom 21. Juni 2002 und vom 22. November 2002 als schlüssig anzusehen und daher in freier Beweiswürdigung der Entscheidung zu Grunde zu legen gewesen. Daraus ergebe sich, dass eine Unfähigkeit des Beschwerdeführers, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, vor Vollendung seines 18. Lebensjahres ärztlicherseits nicht bestätigt habe werden können.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, in welcher die Rechtswidrigkeit des Inhaltes des angefochtenen Bescheides sowie die Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht werden.

Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

§ 1 Abs. 3 lit. b des Opferfürsorgegesetzes BGBl. Nr. 183/1947, in der im Beschwerdefall anzuwendenden Fassung dieser Bestimmung BGBl. I Nr. 12/2001, lautet:

"Als Hinterbliebene im Sinne dieses Bundesgesetzes gelten die Lebensgefährtin (der Lebensgefährte), Eltern, Großeltern, Stiefeltern und Pflegeeltern nach den im Abs. 1 lit. a bis c und im Abs. 2 lit. a genannten Opfern, ferner eheliche und uneheliche Kinder, Stiefkinder, Enkel und elternlose Geschwister nach den im Abs. 1 lit. a bis c und im Abs. 2 lit. a genannten Opfern bis zum Ablauf des Jahres, in dem sie das 24. Lebensjahr vollendet haben, unter der Voraussetzung, dass das Opfer den Lebensunterhalt der genannten Personen zur Gänze oder zum überwiegenden Teil bestritten hat, oder wenn das Opfer, falls es noch am Leben wäre, auf Grund gesetzlicher Verpflichtung den Lebensunterhalt dieser Personen bestreiten müsste; das gleiche gilt, wenn zur Leistung des Lebensunterhaltes der vorstehend genannten Personen gesetzlich Verpflichtete nicht vorhanden oder zwar vorhanden, aber zu diesen Leistungen nicht fähig sind und das Opfer, wenn es noch am Leben wäre, auf Grund sittlicher Verpflichtung deren Lebensunterhalt bestreiten müsste."

Die Bestimmungen des § 11 Abs. 4, 5, 6 und 8 OFG, in der Fassung dieser Bestimmung BGBl. II Nr. 198/2003, lautet:

"(4) Opfer- und Hinterbliebenenrente (Abs. 2 und 3) sind im übrigen nach den jeweils für die Entschädigung der Kriegsopfer geltenden Grundsätzen und Bestimmungen und im Ausmaß der für die Kriegsopfer vorgesehenen Vergütungen zu leisten.

     (5) Inhaber einer Amtsbescheinigung haben zur Sicherung des

Lebensunterhaltes Anspruch auf Unterhaltsrente, auf die das

Einkommen gemäß Abs. 13 anzurechnen ist. Die Unterhaltsrente

beträgt monatlich für

     a) anspruchsberechtigte Opfer ............................

862,90 EUR,

     b) anspruchsberechtigte Hinterbliebene .............  783,60

EUR,

     c) anspruchsberechtigte Opfer, die verheiratet

sind oder in Lebensgemeinschaft leben ........... 1.167,60 EUR.

Die Einkommensgrenze ist grundsätzlich mit der Höhe der Unterhaltsrente identisch. Besitzt jedoch ein alleinstehendes Opfer nach lit. a keinen Anspruch auf Opferrente, ist die Unterhaltsrente insoweit zu leisten, als das Einkommen des Opfers die sich aus Abs. 7 zweiter Satz ergebende Einkommensgrenze nicht erreicht. Abs. 7 letzter Satz ist in diesem Fall anzuwenden. Haben beide Ehegatten (Lebensgefährten) Anspruch auf Unterhaltsrente, gebührt Unterhaltsrente nach lit. c nur einem Ehegatten (Lebensgefährten). An die Stelle der angeführten Beträge treten mit Wirkung vom 1. Jänner 2002 und in der Folge mit Wirkung vom 1. Jänner eines jeden Jahres die unter Bedachtnahme auf die Bestimmungen des § 11a vervielfachten bzw. erhöhten Beträge.

(6) Witwen (Witwer), Lebensgefährtinnen (Lebensgefährten) und Waisen nach Opfern, die unmittelbar vor dem Tod im Bezug einer Opferrente entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 60 v.H. gestanden sind, erhalten, ohne dass ein Anspruch auf Zuerkennung einer Amtsbescheinigung gegeben ist, Hinterbliebenenrente gemäß Abs. 3 und Unterhaltsrente gemäß Abs. 5.

(8) Für die Leistung der Unterhaltsrente, der Beihilfen und der Zulagen gelten im übrigen die Vorschriften des Abs. 4 sinngemäß."

Gemäß § 41 Abs. 1 Z. 2 des Kriegsopferversorgungsgesetzes - KOVG, BGBl. Nr. 152/1957, in der im Beschwerdefall anzuwendenden Fassung BGBl. I Nr. 139/1997, ist die Waisenrente auf Antrag auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres zu leisten, wenn die Waise infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen dauernd außer Stande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, sofern das Gebrechen vor Vollendung des 18. Lebensjahres oder während des in Z. 1 bezeichneten Zeitraumes (d.i.: wegen wissenschaftlicher oder sonstiger regelmäßiger Schul- oder Berufsausbildung bis zur ordnungsmäßigen Beendigung der Ausbildung) eingetreten ist und solange dieser Zustand dauert.

Unter verschiedenen Gesichtspunkten bekämpft der Beschwerdeführer die Ansicht der belangten Behörde, seine Erwerbsunfähigkeit sei keine bereits seit seiner Kinderzeit andauernde, sondern sie sei allenfalls erst etwa im Jahre 1999, zur Zeit der Aufgabe seiner selbständigen Erwerbstätigkeit als Teppichhändler, entstanden. Er habe einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente und Unterhaltsrente gemäß § 11 Abs. 3 OFG in der Höhe der Grundrente.

Eingangs ist festzuhalten, dass auch die belangte Behörde dem Vorbringen des Beschwerdeführers in seinem Antrag folgend davon ausgegangen ist, dass er grundsätzlich - unabhängig vom Vorliegen der weiteren gesetzlichen Voraussetzungen - die Stellung eines "anspruchsberechtigten Hinterbliebenen" hat und seine Mutter, die im Besitze einer Amtsbescheinigung gemäß § 1 Abs. 1 lit. e OFG gewesen war, bis zu ihrem Tod im Bezug einer Opferrente entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 60 % gestanden war. Entgegen den Ausführungen in der Beschwerde hat die belangte Behörde nicht die Feststellung getroffen, der Beschwerdeführer sei nicht Waise nach einem Opfer im Sinne des § 11 Abs. 6 OFG, sie hat vielmehr die Anspruchsberechtigung unter Hinweis auf den mangelnden Nachweis des Vorliegens einer vor dem 18. Lebensjahr eingetretenen und seither andauernden Selbsterhaltungsunfähigkeit des Beschwerdeführers verneint.

Insoweit der Beschwerdeführer die Beweiswürdigung der belangten Behörde in Bezug auf die einvernommenen Zeugen, welche bestätigt hätten, dass er auch als Kind bereits krank gewesen sei, als unvollständig rügt, ist ihm entgegen zu halten, dass die belangte Behörde auf diese - im Wesentlichen übereinstimmenden - Zeugenaussagen sehr wohl, wenn auch nur kurz, eingegangen ist. Aus diesen Angaben ergibt sich aber der vom Beschwerdeführer behauptete Rückschluss auf eine seit dem 18. Lebensjahr andauernden Selbsterhaltungsunfähigkeit nicht ohne Weiteres, sondern lediglich auf eine seit seiner Kindheit andauernde Instabilität seiner Gesundheit.

Die Beschwerde erweist sich jedoch als berechtigt, soweit sie die Unschlüssigkeit des von der belangten Behörde ihrer Entscheidung zu Grunde gelegten Sachverständigengutachtens Dris. W geltend macht. Dieser kam nach persönlicher Untersuchung des Beschwerdeführers und nach Wiedergabe der Anamnese, der Stellungnahmen des behandelnden Arztes Dr. B, der Vorgutachten Dris. R und Dris. Z unter Berücksichtigung der Aussagen der vernommenen Zeugen zu folgendem Ergebnis:

"DIAGNOSE

1.) psychiatrisch (derzeit)

Ursprünglich durchschnittliche intellektuelle Begabung, berichtete Episoden rezidivierender depressiver Verstimmung (der geschilderten Symptomatik nach auf neurotischer Basis) im Rahmen einer vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung, in den letzten 3 - 4 Jahren zur Chronifizierung neigend. Kein pathologischer Abbau der geistigen Leistungsfähigkeit. Neigung zur Ausbildung funktioneller Verhaltensweisen in Rentenwerbesituation.

2.) neurologisch

Intakt.

BEURTEILUNG

Über die Vorgeschichte vom Kleinkindesalter an liegen keine, im gutachterlichen Sinne verwertbaren, medizinischanamnestischen Daten vor. Seiner eigenen Angabe nach sei der Untersuchte in geordneten Verhältnissen in einer harmonisch lebenden kinderreichen Familie aufgewachsen und hat eine normale Pflichtschulausbildung absolviert. Es ist eine ursprünglich durchschnittliche intellektuelle Begabung anzunehmen. Hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung ist man praktisch ausschließlich auf die subjektiven Mitteilungen des Untersuchten angewiesen, da die Angaben von Zeugen spärlich und kaum verwertbar sind und auch in den wenigen, zur Verfügung stehenden, ärztlichen Befunden vornehmlich subjektive Beschwerden angegeben und die objektiv erhobenen Befunde ebenfalls insuffizient sind, weshalb tragfähig nachvollziehbare Diagnosen nur schwer abgeleitet werden können und außerdem die medizinischen Berichte erst aus den letzten beiden Jahren stammen. Soweit die Angaben des Untersuchten glaubhaft sind und mit dem jetzt erhobenen objektiven Befund korreliert werden können, kann mit ausreichender Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass es zu einer neurotischen Persönlichkeitsentwicklung am ehesten im Sinne einer vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung

(ICD 10 : 301.82)

gekommen ist, welche die Ursache für das, von wenig Erfolg begleitete, Berufsschicksal des Betroffenen gewesen ist. Die Störung hat aber weder in der Kindheit, in der Adoleszenz noch im Erwachsenenalter einen Schweregrad erreicht, bei welchem Arbeitsunfähigkeit oder Selbsterhaltungsunfähigkeit hätte angenommen werden können. Der Untersuchte hat ja in verschiedenen Lebensabschnitten immer wieder Arbeitstätigkeiten geleistet, wenn auch fallweise im geschützten Umfeld der Familie oder mit Entgegenkommen des Arbeitgebers. Die protektive Haltung der Familie hat sich in diesem Sinne für den Betroffenen ungünstig ausgewirkt, weil es ihm schwer möglich wurde, sowohl im privaten als auch beruflichen Bereich ausreichende Selbständigkeit zu erlangen. Die seit Jahrzehnten bestehende Persönlichkeitsstörung hat mit zunehmendem Alter des Betroffenen zur depressiven Reaktion geführt, welche nun Zeichen einer Chronifizierung erkennen lässt. Im Hinblick auf die Fragestellung an den Sachverständigen können aus dieser Konstellation folgende Schlüsse gezogen werden: Von organneurologischer Seite aus besteht und bestand nie eine Einschränkung seiner Arbeits- und Erwerbsfähigkeit. Soweit retrospektiv mit ausreichender Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, wäre ab dem Termin der Schließung des eigenen Teppichhandels im Jahre 1999 Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit aus psychiatrischen Gründen anzunehmen. Das Leiden, welches diesen Zustand bedingt, hat zu diesem Zeitpunkt begonnen und hat nicht vor Vollendung des 18. Lebensjahres eingesetzt. Die angeblich seit Kindheit erforderliche ärztliche Behandlung ist einerseits ungenügend dokumentiert und hat, entsprechend der Lebensgeschichte und dem Berufsschicksal des Untersuchten nie zu dauernder Erwerbsunfähigkeit geführt. Kausalleiden bestehen nicht. Die Tatsache, dass beide Elternteile des Betroffenen im KZ inhaftiert gewesen waren kann für Herrn E, welcher über ein Jahr nach Kriegsschluss und Befreiung der Eltern aus der KZ-Haft geboren worden ist und, seiner Angabe nach, in geordneten und harmonischen Familienverhältnissen aufgewachsen und von den Eltern liebevoll betreut und erzogen worden ist, nicht im Sinne einer verfolgungsbedingten Belastung interpretiert werden. Seine Angabe, dass er durch die wiederholten Berichte der Eltern über die Erlebnisse derer im KZ im Kleinkindesalter belastet worden sei ist nicht glaubhaft, weil es der allgemeinen Erfahrung widerspricht, dass Eltern in vergleichbarer Situation solche Verhaltensweisen an den Tag legen. Darüber hinaus muss darauf hingewiesen werden, dass die Geschwister des Untersuchten offensichtlich keine gravierenden psychiatrischen Störungen entwickelt haben. Es ergibt sich somit keine Änderung zur Auffassung der erstinstanzlichen Beurteilung. Das, nach Ansicht des Gefertigten, vorliegende akausale psychiatrische Leiden wäre nach RS wie folgt einzustufen:

g.Z. V/e/585

chronifizierte Depression bei vermeidend-selbstunsicherer

Persönlichkeitsstörung

MdE 50%

mittlerer RS entsprechend der klinischen Intensität und der Chronifizierung."

Dieses Gutachten erweist sich entgegen der von der belangten Behörde vertretenen Ansicht als nicht schlüssig.

Auf welcher Grundlage nämlich die Feststellungen des Sachverständigen,

"die Störung hat aber weder in der Kindheit, in der Adoleszenz noch im Erwachsenenalter einen Schweregrad erreicht, bei welchem Arbeitsunfähigkeit oder Selbsterhaltungsunfähigkeit hätte angenommen werden können",

"Von organneurologischer Seite aus besteht und bestand nie eine Einschränkung seiner Arbeits- und Erwerbsfähigkeit",

"Das Leiden, welches diesen Zustand (gemeint: Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit aus psychiatrischen Gründen) bedingt, hat zu diesem Zeitpunkt (Anm.: gemeint 1999) begonnen und hat nicht vor Vollendung des 18. Lebensjahres eingesetzt."

beruhen, ist angesichts der gegenteiligen Beweisergebnisse in Form der vorliegenden Zeugenaussagen und im Hinblick auf die insbesondere die Kontinuität der rezidivierenden Krankheitszustände des Beschwerdeführers bestätigenden Stellungnahmen seines behandelnden Arztes nicht nachvollziehbar. Dort, wo der Sachverständige die Frage der Selbsterhaltungsunfähigkeit allein auf Grund der Ergebnisse seiner medizinischen Untersuchung beantworten will, überschreitet er seinen Kompetenzbereich, da die Beantwortung dieser Frage als Rechtsfrage ausschließlich der Behörde zukommt. Aufgabe des ärztlichen Sachverständigen ist es nur, an der Feststellung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes mitzuwirken, indem er in Anwendung seiner Sachkenntnisse Feststellungen über den Gesundheitszustand des Betroffenen trifft und die Auswirkungen bestimmt, die sich aus den festgestellten Leiden oder Gebrechen ergeben. Die Behörde hat anhand der dem Gutachten zu Grunde gelegten Tatsachen die Schlüssigkeit des Gutachtens kritisch zu prüfen und einer sorgfältigen Beweiswürdigung zu unterziehen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 9. Juni 2004, Zl. 2003/12/0229).

Insoweit die belangte Behörde das vom Beschwerdeführer beigebrachte Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Neurologie, Prim. Dr. V vom 23. Januar 2003, als für eine Änderung des bereits gewonnenen Kalküls ungeeignet mit der Feststellung abtut, dieses Gutachten "- abgesehen davon , dass es im Auftrag des BW erstellt wurde und ausschließlich auf dessen Angaben dem Gutachter gegenüber beruht -" enthalte "zum gegenständlichen Beweisthema (Frage der Selbsterhaltungsunfähigkeit infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen, sofern das Gebrechen vor Vollendung des 18. Lebensjahres eingetreten ist und solange dieser Zustand dauert) keine Stellungnahme", es habe sich auch mit dem Gutachten des beigezogenen Sachverständigen Dr. W nicht auseinander gesetzt, ist darauf hinzuweisen, dass die von den Gutachtern aufgenommenen Anamnesen in sämtlichen Gutachten gleichermaßen auf den Angaben des Betroffenen beruhen. Die belangte Behörde hat es unterlassen, dieses Gutachten des Privatsachverständigen zum Anlass für eine Ergänzung des Amtssachverständigengutachtens zu nehmen. Es nimmt einem (Privat-)Gutachten grundsätzlich auch nicht die Schlüssigkeit, nur weil es von einer Partei beigebracht wurde. Die belangte Behörde hätte daher auf das Gutachten Dris. V im Einzelnen eingehen müssen. In diesem Sinne belastete die belangte Behörde ihren Bescheid mit einem Begründungsmangel. Da sie überdies ihrer Entscheidung ein unschlüssiges Sachverständigengutachten zu Grunde legte, belastete sie auch damit ihren Bescheid mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften (vgl. das hg. Erkenntnis vom 2. Oktober 2003, Zl. 2000/09/0137).

Aus den aufgezeigten Gründen war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung BGBl. II Nr. 333/2003.

Wien, am 21. Jänner 2005

Schlagworte

Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Beweismittel Sachverständigenbeweis Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Rechtliche Beurteilung Sachverständiger Arzt

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2005:2003090100.X00

Im RIS seit

15.02.2005
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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