RS OGH 2008/8/27 13Os83/08t, 13Os39/09y, Bsw41135/98, Bsw43835/11

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 27.08.2008
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Norm

MRK Art6 I
MRK Art9 Abs2
StPO §234
StPO §281 Abs1 Z4
StPO §345 Abs1 Z5

Rechtssatz

Da es zu den unbestrittenen Grundregeln in Österreich üblicher menschlicher Kommunikation zählt, das Gesicht unverhüllt zu lassen (selbst durchsichtige Gesichtsschleier sind auf seltene Anlassfälle außerhalb des Gerichtssaals beschränkt), wäre es Sache der Beschwerdeführerin gewesen, überzeugend zu begründen, warum die vollständige Verschleierung ihres Gesichts gegenüber Schwurgerichtshof und Geschworenen trotz ohnehin eingeräumter Möglichkeit, „bei Betreten und Verlassen des Gerichtssaals ihr Gesicht zu verschleiern und während der Verhandlung auch das Kopftuch (Bedeckung der Haare) zu tragen" und im Gerichtssaal geltendem Verbot von Fernseh-, Film- und Fotoaufnahmen, nicht bloß als politisch-weltanschaulich motivierte Demonstration, für welche ein Gerichtssaal nicht der rechte Ort ist, aufgefasst werden sollte. Denn dass der Schwurgerichtshof darin in sachverhaltsmäßiger Hinsicht eine Missachtung des Geschworenengerichts erblickt hatte, war der Angeklagten und ihrem Verteidiger eindeutig klar gemacht worden. Die Bedenken auszuräumen und so den Respekt vor der Würde des Gerichts trotz durch den Gesichtsschleier indizierter Missachtung auch für Dritte unmissverständlich klarzustellen, hat die Angeklagte nicht unternommen, weswegen die verweigerte Wiederzulassung im Ergebnis zu Recht erfolgt ist. Bleibt anzumerken, dass die Verweigerung der Erfüllung allgemeiner Bürgerpflichten nicht von Art 9 MRK erfasst wird, mit der Ausübungsform „Beachtung religiöser Bräuche" zwar neben Gebräuchen, die in Zusammenhang mit kultischen Handlungen stehen, auch solche Handlungen geschützt werden, welche in den Bereich des Alltagslebens gehören, die Ausübung eines religiösen Brauchs allerdings nicht vorliegt, wenn eine Verhaltensweise keine in der betroffenen Religionsgemeinschaft übliche Praxis darstellt, und überdies § 234 StPO als gesetzliche Eingriffsermächtigung im Sinn des Art 9 Abs 2 MRK anzusehen ist, dessen Rechtfertigungsvoraussetzungen weitestgehend denjenigen der Abs 2 der Art 8, 10 und 11 MRK entsprechen. Auch unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit der sitzungspolizeilichen Maßnahme sind vorliegend grundrechtliche Schranken nicht überschritten worden.

Entscheidungstexte

  • 13 Os 83/08t
    Entscheidungstext OGH 27.08.2008 13 Os 83/08t
  • 13 Os 39/09y
    Entscheidungstext OGH 27.08.2009 13 Os 39/09y
    Beisatz: Zweiter Rechtsgang nach Aufhebung durch 13 Os 83/08t. (T1)
  • Bsw 41135/98
    Entscheidungstext AUSL EGMR 23.02.2010 Bsw 41135/98
    Vgl auch
    Bem: Beisätze T2 und T3 wurden irrtümlich vergeben. (T4)
    Veröff: NL 2010,52
  • Bsw 43835/11
    Entscheidungstext AUSL EGMR 01.07.2014 Bsw 43835/11
    Vgl auch; Veröff: NL 2014,309

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2008:RS0124163

Im RIS seit

26.09.2008

Zuletzt aktualisiert am

15.02.2017
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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