TE Vfgh Erkenntnis 2001/6/12 B975/99

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Veröffentlicht am 12.06.2001
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Index

97 Vergabewesen
97/01 Vergabewesen

Norm

B-VG Art83 Abs2
BundesvergabeG §52
BundesvergabeG §113
BundesvergabeG §115
BundesvergabeG §122
EG Art234
Richtlinie des Rates vom 21.12.89. 89/665/EWG, zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentl Liefer- und Bauaufträge Art1
VfGG §88

Leitsatz

Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch Unterlassung der Vorlage einer vorlagepflichtigen Frage der Interpretation des Gemeinschaftsrechts an den EuGH seitens des Bundesvergabeamtes; Zulässigkeit eines Nachprüfungsantrags eines vom Auftraggeber faktisch nicht ausgeschiedenen, nach Ansicht der Nachprüfungsbehörde jedoch auszuscheidenden Bieters fraglich

Spruch

Die beschwerdeführende Gesellschaft ist durch den angefochtenen Bescheid in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit) ist schuldig, der beschwerdeführenden Gesellschaft zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit S 29.500.-- bestimmten Prozeßkosten binnen vierzehn Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Im Rahmen des Zu- und Umbaus des Unfallkrankenhauses Meidling wurde die Lieferung einer Zentralschließanlage namens und auftrags der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt ausgeschrieben. Auftragsgegenstand sollte die Lieferung einer "Haupt-Gruppensperranlage" oder einer kombinierten Anlage mit magnetisch codierten Einbauzylindern sein. In einem Unterpunkt der allgemeinen Ausschreibungsbedingungen war vorgesehen, daß ein rechtzeitig vor Ablauf der Angebotsfrist eingereichtes Angebot nur dann rechtsgültig sein sollte, wenn das Formular "Angebotserklärung" bei der Eröffnung der Angebote vom jeweiligen Bieter firmenmäßig gefertigt sei. Die beschwerdeführende Gesellschaft hat sich an der Ausschreibung beteiligt und in der Folge ein Hauptanbot und mehrere Alternativangebote gelegt. Die Vornahme eines technischen Vergleichs der eingelangten Anbote durch die vergebenden Generalplaner führte zur Empfehlung des Anbots eines dritten Bieters; der beschwerdeführenden Gesellschaft und den übrigen Mitbewerbern wurde mitgeteilt, daß ihnen der Zuschlag nicht erteilt werden würde.

Die beschwerdeführende Gesellschaft beantragte in der Folge beim Bundesvergabeamt (BVA) die Durchführung eines Nachprüfungsverfahrens nach Zuschlagserteilung und begehrte die Feststellungen, "(1) daß auf Grund eines Verstoßes gegen das Bundesvergabegesetz (in der Folge: BVergG) und seiner Verordnungen der Antragstellerin als Bestbieter der Zuschlag nicht erteilt wurde,

(2) der Rechtswidrigkeit der erfolgten Vergabe durch die Antragsgegnerin, (3) des eingetretenen Schadens bei der Antragstellerin, der durch die Rechtswidrigkeit der Vergabe entstanden ist, und auf dessen Zuspruch im Rahmen des Bundesvergabegesetzes sowie (4) daß bei rechtskonformer Anwendung der bestehenden Rechtslage der Antragstellerin der Zuschlag zu erteilen gewesen wäre".

Mit Bescheid vom 22. April 1999, Z F-28/98-15, wies das BVA diese Anträge "mangels Antragslegitimation" zurück: Die Anbote der beschwerdeführenden Gesellschaft hätten mangels firmenmäßiger Fertigung den Ausschreibungsbestimmungen nicht entsprochen und wären deshalb gemäß §52 Abs1 Z8 BVergG auszuscheiden gewesen. Da ein Unternehmer gemäß §115 Abs1 BVergG nur dann die Nachprüfung einer Entscheidung des Auftraggebers wegen Rechtswidrigkeit beantragen könne, wenn ihm durch die behauptete Rechtswidrigkeit ein Schaden entstanden sei oder zu entstehen drohe, mangle es der beschwerdeführenden Gesellschaft an der Legitimation zur Geltendmachung der beantragten Feststellungsbegehren.

2. Gegen diesen Bescheid wendet sich die auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, in der die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die kostenpflichtige Behebung des Bescheides begehrt wird.

3. Das BVA hat die Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Die beschwerdeführende Gesellschaft erachtet sich durch den angefochtenen Bescheid in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter als verletzt, da die vergebende Stelle zu keinem Zeitpunkt des Vergabeverfahrens eine mangelhafte firmenmäßige Fertigung releviert und auch im Verfahren vor der belangten Behörde diesen Umstand nicht ins Treffen geführt habe. Da das Ausscheiden eines Anbotes alleine der vergebenden Stelle - nicht aber der "vom Gesetzgeber eingerichteten Überprüfungsbehörde" - obliege, was sich sowohl aus dem Gesetz als auch aus der Zielsetzung der europäischen Vergaberichtlinien ergebe, sei die Zurückweisung des Antrags rechtswidrig erfolgt. Die Behörde habe sich "zu Unrecht auf diesen Formalgrund gestützt und damit die Durchführung des Nachprüfungsverfahrens zum Nachteil des Beschwerdeführers verhindert".

2. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt oder in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt (zB VfSlg. 9696/1983), etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg. 10.374/1985, 11.405/1987, 13.280/1992).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (vgl. zB VfSlg. 14.390/1995, 14.889/1997, 15.507/1999) verletzt der Bescheid einer Verwaltungsbehörde unter anderem dann das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter, wenn die bescheiderlassende Behörde als Gericht iSd Art234 Abs3 EG (früher: Art177 Abs3 EGV) eingerichtet ist und es verabsäumt, eine entscheidungsrelevante Frage der Auslegung einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen. Ein solcher Fehler ist dem BVA bei Erlassung des hier bekämpften Bescheides unterlaufen.

3. Das BVA hat durch den angefochtenen Bescheid unter Berufung auf §115 Abs1 BVergG den Nachprüfungsantrag der beschwerdeführenden Gesellschaft nicht zugelassen, da dessen Angebot mangels fimenmäßiger Fertigung an einem die Ausscheidung rechtfertigenden Mangel gelitten habe, obwohl dieser Mangel vom Auftraggeber selbst nicht releviert worden war.

Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis zu B707/00 vom 8. März 2001 auf die kontroversen Stellungnahmen in der vergaberechtlichen Literatur zur dargelegten Fragestellung hingewiesen und ist zur Auffassung gelangt, daß die Frage des Ausschlusses eines - möglicherweise - auszuscheidenden, vom Auftraggeber selbst aber nicht ausgeschiedenen Bieters vom Nachprüfungsverfahren (im Wege der Zurückweisung seines Nachprüfungsantrages gemäß §115 Abs1 BVergG) unter dem Aspekt der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben für dieses Nachprüfungsverfahren zweifelhaft ist. Unter Bezugnahme auf die einschlägige Judikatur des EuGH zur Auslegung des gemeinschaftsrechtlichen Vergaberechts, wonach u. a. die Erfordernisse einer der Rechtsmittelrichtlinie, ABl. 1989 L 395, 33 idF ABl. 1992 L 209, 1 (in der Folge: RM-RL), entsprechenden Auslegung des nationalen Rechts und eines effektiven Schutzes der Rechte des einzelnen es dem nationalen Gericht gebieten "zu prüfen, ob dem einzelnen aufgrund der einschlägigen Vorschriften des nationalen Rechts ein Anspruch auf Nachprüfung der Vergabe (...) zuerkannt werden kann" (EuGH Rs. C-54/96, Dorsch Consult, Slg. 1997, I-4961, Rz 46) und der vom EuGH betonten Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach Art1 Abs1 RM-RL "wirksame und möglichst rasche Nachprüfungsverfahren einzuführen, um sicherzustellen, daß die Gemeinschaftsrichtlinien im Bereich des öffentlichen Auftragswesens beachtet werden" (EuGH Rs. C-81/98, Alcatel Austria AG ua., Slg. 1999, I-7671, Rz 34, 35), hat er die Auffassung vertreten, daß die Legitimation zur Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens nach Art1 Abs3 RM-RL weit zu verstehen sein und deshalb jedem zustehen dürfte, der einen bestimmten zur Vergabe anstehenden öffentlichen Auftrag erhalten will (Öhler, Rechtsschutz bei der Vergabe öffentlicher Aufträge in der Europäischen Union, 1997, 156 f.). Angesichts dieses dem Verständnis der RM-RL in der Auslegung des EuGH innewohnenden weiten Rechtsschutzauftrages für Bewerber und Bieter in einem Vergabeverfahren erschien es dem Verfassungsgerichtshof fragwürdig, die Antragsvoraussetzungen nach §115 Abs1 BVergG in Verbindung mit §52 Abs1 und 2 BVergG so zu deuten, daß ein faktisch vom Auftraggeber nicht ausgeschiedener Bieter von der Nachprüfungsbehörde durch Zurückweisung seines Rechtsschutzantrages vom Nachprüfungsverfahren ausgeschlossen werden kann, wenn diese das Vorliegen eines Ausscheidungsgrundes vorfragenweise annimmt. Da diese Frage im Rahmen des dualen Rechtsschutzsystems des Gemeinschaftsrechts vom EuGH zu klären gewesen wäre und sie von diesem bisher noch nicht entschieden wurde, wäre das BVA verpflichtet gewesen, sie dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.

Die in dem besagten Erkenntnis vom 8. März 2001, B707/00, zum Ausdruck gebrachten Bedenken betreffen auch den vorliegend zu beurteilenden Bescheid. Auch hier hat das BVA bei der Prüfung der Prozeßvoraussetzungen für das Nachprüfungsverfahren einen vom Auftraggeber selbst nicht aufgegriffenen Mangel des Anbots der beschwerdeführenden Gesellschaft (mangelhafte firmenmäßige Fertigung) herangezogen und aus diesem Grunde die Durchführung eines Nachprüfungsverfahrens verweigert. Auch im vorliegenden Fall ist dem BVA deshalb der Vorwurf zu machen, entgegen der Anordnung des Art234 Abs3 EG eine vorlagepflichtige Frage der Interpretation des Gemeinschaftsrechts dem EuGH nicht zur Vorabentscheidung vorgelegt und dadurch die beschwerdeführende Gesellschaft in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt zu haben, weshalb der Bescheid aufzuheben war.

4. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von

S 4.500,-- sowie eine Eingabegebühr gemäß §17a VerfGG in der Höhe von

S 2.500,-- enthalten.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 Z2 VerfGG ohne vorangegangene mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Behördenzuständigkeit, EU-Recht Richtlinie, EU-Recht, Rechtsschutz, Vergabewesen, VfGH / Kosten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2001:B975.1999

Dokumentnummer

JFT_09989388_99B00975_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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