Index
41 Innere AngelegenheitenNorm
EMRK Art8 Abs2Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Ausweisung türkischer Staatsangehöriger mangels ausreichender Interessenabwägung insbesondere im Hinblick auf den langjährigen rechtmäßigen Aufenthalt der Erstbeschwerdeführerin im InlandSpruch
I. Dem Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe in Form der Gebührenbefreiung wird stattgegeben.
II. Die Beschwerdeführerinnen sind durch die angefochtenen Bescheide im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
Die Bescheide werden aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführerinnen zu Handen ihres Rechtsvertreters die mit S 32.400,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Die Beschwerdeführerinnen sind türkische Staatsangehörige; die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der Zweit- bis Viertbeschwerdeführerinnen. Der Ehegatte bzw. Vater der Beschwerdeführerinnen, ebenfalls türkischer Staatsangehöriger, lebt und arbeitet seit 1988 ununterbrochen und rechtmäßig in Österreich.
2. Mit Bescheiden der Bezirkshauptmannschaft Bludenz vom 18.7.2000 wurden die Beschwerdeführerinnen gemäß §33 Abs1 Fremdengesetz 1997 (im folgenden: FrG 1997) aus dem Bundesgebiet der Republik Österreich ausgewiesen. Der dagegen erhobenen Berufung gab die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Vorarlberg mit Bescheiden vom 22.1.2001 keine Folge.
3. Gegen diese Berufungsbescheide richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der bekämpften Bescheide begehrt wird.
4. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch abgesehen.
II. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Verfahrenshilfe in Form der Gebührenbefreiung liegen vor; die Verfahrenshilfe war deshalb im beantragten Umfang zu gewähren.
III. Der Verfassungsgerichtshof hat über die zulässige Beschwerde erwogen:
1. Die verfügten Ausweisungen werden in den bekämpften Bescheiden damit begründet, daß die Erstbeschwerdeführerin am 16.8.1993 aufgrund eines bis 9.11.1993 gültig gewesenen Touristensichtvermerks nach Österreich eingereist sei. Ihr am 4.2.1994 gestellter Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung sei im Instanzenzug rechtskräftig abgewiesen worden, die dagegen erhobenen Beschwerden an den Verfassungs- und den Verwaltungsgerichtshof seien erfolglos geblieben.
Mit Schreiben der Bezirkshauptmannschaft Bludenz vom 8.6.1995 sei sie bei Androhung sonstiger Straf- und Zwangsmaßnahmen aufgefordert worden, das Bundesgebiet umgehend, längstens jedoch bis 27.6.1995, zu verlassen. Da sie dieser Aufforderung nicht Folge geleistet habe, sei gegen sie ein Verwaltungsstrafverfahren eingeleitet worden. Auch einer weiteren Ausreiseaufforderung der Bezirkshauptmannschaft Bludenz vom 16.9.1999 sei sie nicht nachgekommen.
Da die Erstbeschwerdeführerin über keine gültige Aufenthaltsberechtigung verfüge und sich somit seit Ablauf ihres Touristenvisums unrechtmäßig in Österreich aufhalte und die Zweitbis Viertbeschwerdeführerinnen - die 1994, 1995 und 1998 in Österreich geboren wurden - sich seit ihrer Geburt unrechtmäßig in Österreich aufhielten, seien sie gemäß §33 Abs1 FrG 1997 auszuweisen gewesen.
Die Integration, die aufgrund ihres langjährigen unrechtmäßigen Aufenthalts erfolgte, können sich die Beschwerdeführerinnen nach Auffassung der belangten Behörde nicht zugute halten lassen. Da sich aber ihr Ehemann und ihre Kinder bzw. ihre Eltern und Geschwister in Österreich aufhalten, stelle die Ausweisung einen Eingriff in ihr Privat- und Familienleben dar. Dessen ungeachtet sei die Ausweisung zur Erreichung der im Art8 Abs2 EMRK genannten Ziele - hier: zur Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens - dringend notwendig.
2. In der Beschwerde wird das überwiegende öffentliche Interesse an der Ausweisung verneint und insbesondere vorgebracht, daß die Erstbeschwerdeführerin seit 1993 in Österreich lebe und hier mit ihrem Ehegatten, der seit 1988 in Österreich niederlassungsberechtigt und durchgehend beschäftigt sei, im gemeinsamen Haushalt wohne; die Zweit- bis Viertbeschwerdeführerinnen seien in Österreich geboren worden und hätten noch keinen Tag ihres Lebens außerhalb des Bundesgebiets verbracht.
3. Die Beschwerde ist im Ergebnis begründet.
3.1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewandt hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hat, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie den angewandten Rechtsvorschriften fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg. 11.638/1988, 11.857/1988, 11.982/1989, 12.919/1991, 13.241/1992, 13.489/1993).
3.2. Zwar gesteht die belangte Behörde im bekämpften Bescheid zu, daß es sich bei der verfügten Ausweisung um einen Eingriff in das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerinnen handle, die Ausweisung sei aber zur Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens dringend geboten.
Besondere Gründe dafür werden nicht konkret angegeben, sondern nur allgemein angenommen. Wie der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis VfSlg. 14.547/1996 zum Fremdengesetz 1992 ausgeführt hat, verlangt §17 Abs1 FrG (1992) für eine Ausweisung in jedem Fall, daß sich der Fremde nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält; dieser Umstand allein vermöge jedoch eine Ausweisung nicht zu rechtfertigen. Die Behörde habe daher unter Berücksichtigung des jeweils zu entscheidenden Einzelfalles näher darzutun, warum sie den mit der Ausweisung verbundenen Eingriff in die durch Art8 EMRK geschützten Rechte als dringend geboten erachtet.
Auch auf der Grundlage des FrG 1997 ist der rechtswidrige Aufenthalt des Fremden im Inland eine notwendige Voraussetzung für die Ausweisung. Das Vorliegen allein dieser Voraussetzung reicht jedoch nicht aus, eine Ausweisung zu verfügen, vielmehr muß eine solche gemäß §37 Abs1 FrG 1997 zur Erreichung der in Art8 Abs2 EMRK genannten Ziele dringend geboten sein (vgl. bereits VfSlg. 15.400/1999). Dies abzuwägen und entsprechend darzutun ist Aufgabe der Behörde. Daß eine solche Abwägung erfolgt ist, vermögen aber die angefochtenen Bescheide nicht plausibel zu vermitteln. Unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des vorliegenden Falles, insbesondere des langen Aufenthaltes der Erstbeschwerdeführerin sowie der Geburt der Zweit- bis Viertbeschwerdeführerinnen in Österreich verletzen die angefochtenen Bescheide auf Grundlage der hier gewählten Begründung die Beschwerdeführerinnen in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens.
Die angefochtenen Bescheide waren deshalb aufzuheben.
III. 1. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG 1953; im zugesprochenen Betrag ist ein Streitgenossenzuschlag in Höhe von
S 4.500,-- sowie Umsatzsteuer in Höhe von S 5.400,-- enthalten.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4, erster Satz, VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Schlagworte
Fremdenrecht, Privat- und FamilienlebenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2001:B394.2001Dokumentnummer
JFT_09989388_01B00394_00