Norm
Versicherungsvertragsgesetz §61Kopf
SZ 25/32
Spruch
Keine grobe Fahrlässigkeit gemäß § 61 VVG., wenn der mitfahrende Dienstgeber den Chauffeur, der tags zuvor eine zwölfstundige Lastwagenfahrt hinter sich hat, nach nur dreistundiger Nachtruhe eine neuerliche Fahrt antreten läßt.
Entscheidung vom 6. Februar 1952, 1 Ob 70/52.
I. Instanz: Handelsgericht Wien; II. Instanz: Oberlandesgericht Wien.
Text
Kläger ist Marktfahrer mit Obst und Gemüse. An fremden Arbeitskräften beschäftigt er den Chauffeur Julius H.; dieser ist seit 1929 als LKW-Fahrer tätig. Kläger ist als Eigentümer des LKW-Steyr-Diesel mit Kennzeichen Nr. B 4795 bei der beklagten Partei unter der Polizze Nr. 54.520 haftpflichtig und unter der Polizze Nr. 54.646 voll kaskoversichert. Unter Hinweis auf den am 11. August 1949 in T. dem Kraftwagen zugestoßenen Unfall begehrte die klagende Partei die Liquidierung des Schadens, dessen Bezahlung die beklagte Partei jedoch unter Berufung auf die Bestimmung des § 61 VVG. verweigerte.
Mit Zwischenurteil hat das Erstgericht den Klagsanspruch dem Gründe nach als zu Recht bestehend anerkannt.
Die zweite Instanz gab der Berufung des Beklagten keine Folge; auch die Revision blieb erfolglos.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Gemäß § 61 VVG. ist der Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall vorsätzlich oder grobfahrlässig herbeigeführt hat.
Auf eine solche grobe Fahrlässigkeit beruft sich die beklagte Partei, weil der Kläger den Chauffeur Julius H. morgens am 11. August 1949 mit dem LKW nach W. fahren ließ, obwohl Julius H. tags zuvor bereits eine zwölfstundige Lastwagenfahrt hinter sich hatte und erst um 23 Uhr nach R. gekommen war, daher übermüdet gewesen sei.
Eine grobe Fahrlässigkeit ist eine solche Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, die sich aus der Menge der - auch für den Sorgsamsten nie ganz vermeidbaren - Fahrlässigkeitshandlungen des täglichen Lebens als eine auffallende Sorglosigkeit heraushebt (Ehrenzweig, Versicherungsvertragsrecht I, S. 98).
Anders als bei einer leichten Fahrlässigkeit erfordert daher die grobe Fahrlässigkeit, daß der Verstoß gegen das normale Handeln ein auffallender und der Vorwurf im höheren Maße berechtigt ist (GlUNF. 5610).
Ob eine solche Sorglosigkeit vorliegt, ist im Einzelfalle nicht bloß mit Bedacht auf die persönlichen Verhältnisse, sondern auch mit Bedacht auf die allgemeinen Lebensgewohnheiten zu prüfen.
Wird diesbezüglich von den Feststellungen der Untergerichte ausgegangen, so hat das Berufungsgericht mit Recht das Vorliegen einer groben Fahrlässigkeit des Klägers verneint. Nach diesen Feststellungen ist nämlich erwiesen, daß der Chauffeur des Klägers, wenn er auch Fahrvorstrafen aufweist, von denen der Kläger jedoch nichts wußte, ein verläßlicher Fahrer war, der schon seit 1929 und auch während der Militärzeit Kraftfahrzeuge lenkte. Er ist ein robuster Mensch und ein leidenschaftlicher Fahrer, der, solange er im Dienst des Klägers war, nicht den geringsten Anstand hatte.
Wenn auch das Marktfahrergewerbe des Klägers während der Obsternte erhöhte Anforderungen an die in diesem Gewerbe Tätigen stellte, hat Julius H. nie darüber geklagt, daß er sich überanstrengt fühle, noch auch etwa zu verstehen gegeben, daß er infolge Übermüdung nicht mehr imstande sei, den Lastkraftwagen zu lenken. Die Abgabe der Lenkung des Fahrzeuges an den Kläger hat Julius H. immer abgelehnt. Nachdem Julius H. in der Nacht vom 9. auf den 10. August 1949 seine normale Nachtruhe gehabt hatte, leistete er am 10. August 1949 nur leichte Arbeit, da er an diesem Tage nur 60 bis 70 km mit dem Wagen zurücklegte und nur gelegentlich zum Tragen von Obst auf das Auto verwendet wurde. Am 10. August 1949 um 22 Uhr traf der Kläger mit seinem Chauffeur vom Obsteinkauf wieder in R. ein, wobei der Kläger auf Drängen des Julius H. selbst beschloß, noch in der gleichen Nacht das Obst nach W. zu bringen. Nach einer dreistundigen Nachtruhe im Führerhaus des LKW, wo man gut schlafen kann, ist Julius H. mit dem Kläger um 1 Uhr 15 früh weggefahren. Obwohl der Kläger, der während der Fahrt geschlafen hat, vor M. den Chauffeur fragte, ob er ihm die Lenkung des Wagens nicht überlassen wolle, hat Julius H. dies abgelehnt. In der Ortschaft T. ist Julius H. einen Moment eingeschlafen, wodurch der Unfall verursacht wurde.
Wird berücksichtigt, daß der Chauffeur am 10. August 1949 nur 60 bis 70 km gefahren ist und an diesem Tag nur leichte Arbeit leistete und ferner vor der Abfahrt am 11. August 1949 selbst drei Stunden geschlafen hat, so kann von einer groben Fahrlässigkeit, also von einer auffallenden Sorglosigkeit des Klägers, die darin bestehen soll, daß er dem Julius H. das Lenkrad zur Nachtfahrt anvertraute, nicht gesprochen werden, dies um so weniger, als ja der Kläger auf den Gedanken, daß Julius H. ermüdet sein könnte, gar nicht kommen konnte; war es doch Julius H. selbst, der auf die Durchführung der Nachtfahrt nach W. mit Rücksicht auf das frischverladene Obst und die Gefahr seines Verderbens drängte, und der noch in M. es abgelehnt hatte, das Lenkrad dem Kläger zu übergeben.
Daß auf das Dienstverhältnis des Chauffeurs die Arbeitszeitordnung vom 30. April 1938, DRGBl. I S. 447, und der Bundeskollektivvertrag für Handelsarbeiter Anwendung findet, wonach zwischen zwei Arbeitsschichten die Ruhepause elf Stunden betragen muß, ist in diesem Zusammenhange nicht entscheidend; ebensowenig ein etwaiger Verstoß gegen die Vorschrift des § 99 Abs. 5 Kraftfahrverordnung 1947 (BGBl. Nr. 83). Denn selbst die Nichtbeachtung dieser Vorschriften, die teils dienstrechtlicher, teils polizeilicher Natur sind, könnte angesichts der besonderen Umstände des Falles nicht als grobe Fahrlässigkeit gewertet werden, wozu noch kommt, daß es sich bei der Beförderung von Obst um eine leichtverderbliche Ware handelt und daher begreifliches Interesse bestand, das eingekaufte Obst schon am nächsten Tag am Markt absetzen zu können.
Wenn die Revision die Haftung der beklagten Partei auch deshalb ausschließen will, weil der Kläger sich zur Durchführung der Autofahrt einer untüchtigen Person bedient habe, so kann auch dieser Rechtsansicht nicht gefolgt werden, da der Versicherungsnehmer für die Auswahl der Personen, deren er sich zur Besorgung seiner Angelegenheit bedient, nur bei grober Fahrlässigkeit haftet, die aber, wie oben erwähnt, nicht vorliegt (Ehrenzweig, Versicherungsvertragsrecht II, S. 512).
Anmerkung
Z25032Schlagworte
Fahrlässigkeit, grobe, nach § 61 VersVG.European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1952:0010OB00070.52.0206.000Dokumentnummer
JJT_19520206_OGH0002_0010OB00070_5200000_000