Norm
ABGB §879Kopf
SZ 27/19
Spruch
Die Aufzählung der auf Seite des Benachteiligten erforderlichen Voraussetzungen des Wucherbegriffes in § 879 Abs. 2 Z. 4 ABGB. ist nicht taxativ.
Gegen die guten Sitten verstößt, was dem Rechtsgefühl aller billig und gerecht Denkenden widerspricht.
Entscheidung vom 27. Jänner 1954, 3 Ob 816/53.
I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz; II. Instanz:
Oberlandesgericht Graz.
Text
Die Klägerin hat ihre Liegenschaft mit dem vor einem Notar errichteten Kauf- und Übergabsvertrag an den Beklagten veräußert.
Sie begehrte, den Beklagten schuldig zu erkennen, ihr die im Jahr 1948 übergebene Liegenschaft zurückzugeben, in die Einverleibung ihres Eigentums ob dieser Liegenschaft zu willigen und ihr einen Betrag von 181.750 S zu bezahlen. Die Klägerin stützte ihren Anspruch auf die Vorschrift des § 879 Ab. 2 Z. 4 ABGB. Sie machte geltend, daß der Beklagte, der frühere Bürgermeister der Gemeinde, das in ihn gesetzte Vertrauen mißbraucht und die Verstandesschwäche der Klägerin dazu benutzt habe, sie zur Übergabe gegen eine Leistung zu bewegen, die nicht einmal ein Elftel des Wertes der Liegenschaft darstelle.
Die beiden unteren Instanzen wiesen ab, der Oberste Gerichtshof hob beide Urteile auf.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Nach § 879 ABGB. sollen Rechtsgeschäfte, die gegen die guten Sitten verstoßen, unwirksam sein. Gegen die guten Sitten verstößt, was dem Rechtsgefühl der Rechtsgemeinschaft, das ist aller billig und gerecht Denkenden widerspricht. Die "Gute-Sittenklausel" soll den Richter instand setzen, bei offenbarer Rechtswidrigkeit helfend einzugreifen.
Den Wuchertatbestand des § 879 Abs. 2 Z. 4 ABGB., worauf die Klage gestützt wird, stellt nur einen Sonderfall der Sittenwidrigkeit dar. Ebenso wie die Aufzählung des Abs. 2 des § 879 ABGB. die Sittenwidrigkeit nicht erschöpft, sondern sie nur an einzelnen Fällen demonstriert, ist auch die Aufzählung der auf Seite des Benachteiligten erforderlichen Voraussetzung für den Wucherbegriff nicht taxativ. Neben Leichtsinn, Zwangslage, Verstandesschwäche und Unerfahrenheit kommen auch noch andere Umstände auf Seite des Benachteiligten in Betracht, wie Unkenntnis des Wertes seiner eigenen Leistung, zu große Vertrauensseligkeit und dergleichen mehr. Wucher ist demnach die bewußte Ausnützung des Schwächeren, um übermäßigen Gewinn zu erzielen. Da nun zwischen den Begriffen Unerfahrenheit, Leichtsinn, Vertrauensseligkeit und Verstandesschwäche keine festen Grenzen gezogen werden können, geht es nach Auffassung des Obersten Gerichtshofes nicht an, sich an einem bestimmten in der Klage gebrauchten Ausdruck zu klammern und den Sachverhalt bloß unter dem Gesichtspunkt zu beurteilen, ob die Klägerin zur Zeit des Vertragsabschlusses verstandesschwach im Sinne von handlungsunfähig war. Das Ersturteil hat allerdings auch die Frage des Leichtsinns gestreift, hat dabei aber auf einen "pathologischen" Leichtsinn abgestellt, einen Grad des Leichtsinns, der vom Gesetz für den Wuchertatbestand gar nicht verlangt wird. Die Klägerin hat in ihrer Klage auch behauptet, daß sie sich zu dem Geschäft auch durch ihr besonderes Vertrauen zu dem Beklagten entschlossen habe.
Welcher Fall von "Unwirtschaftlichkeit" auf Seiten der Klägerin auch in Betracht kommen mag, immer wird es von dem Verhältnis von Leistung und Gegenleistung abhängen, ob ein für die Anwendung des Wucherparagraphen genügender Grad von Unwirtschaftlichkeit anzunehmen ist. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß jemand die Bestimmung des §. 879 ABGB. wird in Anspruch nehmen können, wenn er ohne die Absicht, dem anderen etwas zu schenken, für seine Leistung nicht einmal 1/10 ihres Wertes erhält und der andere dieses Mißverhältnis gekannt hat. Die Frage des Mißverhältnisses kommt nicht nur als ein selbständiges Erfordernis für die Anwendung des Wucherparagraphen in Betracht, ohne ihre Lösung wird auch das Erfordernis der Unwirtschaftlichkeit nicht zuverlässig beurteilt werden können, denn die Größe des Mißverhältnisses läßt Schlüsse auf Leichtsinn, Unerfahrenheit, Verstandesschwäche usw. zu. Dabei wird es nur von untergeordneter Bedeutung sein, ob man der Benachteiligten Leichtsinn, Unerfahrenheit, Vertrauensseligkeit, Unkenntnis des Wertes der eigenen Leistung oder Verstandesschwäche zubilligen kann.
Im vorliegenden Fall kommt in Betracht, daß die Klägerin, wie sich aus den Akten ergibt, nunmehr der öffentlichen Fürsorge zur Last fällt. Daraus ist wohl zu schließen, daß die dem Beklagten veräußerte Liegenschaft ihr einziges Besitztum darstellte. Es muß weiter erwogen werden, daß nach den Ergebnissen des Beweisverfahrens zumindestens zwei Interessenten vorhanden waren, die ihre Liegenschaft zu weit günstigeren Bedingungen, insbesondere Gewährung eines vollen Auszuges erwerben wollten. Weiter kommt in Betracht, daß der Auszug, den der Beklagte der Klägerin nach dem Vertrag zu gewähren hat, keine Giebigkeiten an Brot, Brotgetreide, Mehl, Fett, Eiern, Milch u. dgl. vorsieht.
Da sich die Vorinstanzen, von der nach Ansicht des Obersten Gerichtshofes unrichtigen Erwägung ausgehend, das Mißverhältnis zwischen Wert und Gegenleistung sei unerheblich für die Frage, ob auf Seiten der Klägerin ein die Anwendung des § 879 Abs. 2 Z. 4 ABGB. bedingender Zustand oder eine solche Eigenschaft vorhanden war, der Feststellung des Wertes der Liegenschaft nicht unterzogen haben, ist das Verfahren nach Ansicht des Obersten Gerichtshofes mangelhaft geblieben.
Anmerkung
Z27019Schlagworte
Ausbeutung, Wucher, Gute Sitten, Verstoß gegen -, Sitten, Verstoß gegen gute -, Sittenwidrigkeit, Wucher VoraussetzungenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1954:0030OB00816.53.0127.000Dokumentnummer
JJT_19540127_OGH0002_0030OB00816_5300000_000