Norm
ABGB §879Kopf
SZ 28/230
Spruch
Keine Behaltsentschädigung, wenn der Lehrherr nur deshalb den Verzicht auf das Gewerbe bis zur Beendigung der Lehrzeit des Lehrlings hinausschiebt, um ihm eine reibungslose Beendigung des Lehrverhältnisses zu ermöglichen.
Entscheidung vom 25. Oktober 1955, 4 Ob 135/55.
I. Instanz: Arbeitsgericht Gänserndorf; II. Instanz: Kreisgericht Korneuburg.
Text
Der mj. Kläger ist am 9. September 1951 bei der Beklagten, die damals noch Schuhmachermeisterin war, als Schuhmacherlehrling eingetreten. Die Lehrzeit ist am 8. September 1954 abgelaufen. Am gleichen Tage hat die Beklagte bei der Bezirkshauptmannschaft G. um Löschung ihres Betriebes angesucht, welches Ansuchen mit Bescheid vom 11. September 1954 aufrecht erledigt wurde. Die Beklagte wollte ihren Betrieb schon im Herbst 1952 stillegen, ist aber dann davon abgekommen, weil ihr Sohn Alfred W. im Herbst 1952 bei der Meisterprüfung durchgefallen ist. Im Sommer 1954 hat Alfred W. dann die Meisterprüfung bestanden; seine Mutter wollte den Gewerbeschein zurücklegen, in der unrichtigen Meinung, daß dies notwendig sei, um ihrem Sohne die Verleihung des Gewerbescheines zu ermöglichen. Der Innungsmeister hat ihr aber empfohlen, den Betrieb noch bis 8. September 1954 weiterzuführen, damit der Kläger auslernen könne und sich nicht wegen der noch fehlenden 1 1/2 Monate einen neuen Lehrplatz suchen müsse. Die Beklagte hat sich an diese Empfehlung gehalten und dann erst am 8. September 1954 bei der Gewerbebehörde die Zurücklegung ihres Gewerbescheines angezeigt.
Die beiden unteren Instanzen sprachen eine Behaltsentschädigung zu, der Oberste Gerichtshof wies die Klage ab.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Nach § 105a Abs. 1 GewO. ist der Gewerbeinhaber verpflichtet, den Lehrling nach Beendigung der Lehrzeit drei Monate als Gehilfen zu beschäftigen. Kommt der Lehrherr dieser Verpflichtung nicht nach, so muß er seinem ehemaligen Lehrling den auf die Behaltzeit entfallenden Lohn bezahlen. Daß diese Zahlungspflicht auch dann nicht entfällt, wenn der ehemalige Lehrherr das Gewerbe freiwillig aufgibt, kann nach § 83 Abs. 2 GewO. nicht bestritten werden (vgl. ArbSlg. 4101).
Die in diesem Rechtsstreit zu entscheidende Frage geht nun dahin, ob dieser Grundsatz auch dann gilt, wenn der ehemalige Lehrherr, der das Gewerbe bereits vor Beendigung der Lehrzeit zurücklegen wollte, den Verzicht auf das Gewerbe bis zur Beendigung der Lehrzeit des Lehrlings hinausgeschoben hat, um dem Lehrling die reibungslose Beendigung des Lehrverhältnisses zu ermöglichen.
Hätte die Beklagte das Gewerbe entsprechend ihrer ursprünglichen Absicht sofort, nachdem ihr Sohn die Meisterprüfung abgelegt und die Gewerbebefugnis erlangt hatte, zurückgelegt, so wäre der Lehrvertrag nach § 103 Abs. 1 GewO. durch das Abtreten des Lehrherrn vom Gewerbe erloschen, ohne daß der Beklagten eine weitere Zahlungspflicht oblegen wäre. Es wäre dann Aufgabe der Innung gewesen, für die Unterbringung des Klägers bei einem anderen zur Innung gehörigen Lehrherrn tunlichst Sorge zu tragen, bei dem der Kläger dann seine Lehrzeit während der restlichen 1 1/2 Monate hätte beenden müssen (§ 103a Abs. 1 GewO.). Die Beklagte hat nun, um dem Kläger die mit dem Wechsel eines Lehrherrn verbundenen Unannehmlichkeiten zu ersparen, die beabsichtigte Niederlegung des Gewerbes bis zur Beendigung der Lehrzeit hinausgeschoben. Sie mußte ihm während dieser Zeit auch die nach § 100b GewO. gebührende Lehrlingsentschädigung bezahlen, die sie erspart hätte, wenn sie sofort vom Gewerbe nach ihrem ursprünglichen Plane abgetreten wäre.
Es geht nun nicht an, die Beklagte für ihr Entgegenkommen, daß sie im Interesse des Klägers das Gewerbe vor Beendigung der Lehrzeit nicht niedergelegt hat, damit zu bestrafen, daß sie überdies noch dem Kläger für die Behaltzeit den Gehilfenlohn bezahlen muß, zumal wenn man bedenkt, daß der Kläger, wenn er bei einem neuen Lehrherrn eingetreten wäre, von diesem nach der Proportion des § 105a Abs. 2 GewO. nur eine Beschäftigung und die entsprechende Entlohnung für vier Tage hätte verlangen können.
In der Forderung der Behaltsentschädigung ist daher unter den dargelegten Umständen eine offenbare Ungehörigkeit zu erblicken, eine Undankbarkeit für das Entgegenkommen der Beklagten, die zur Folge hat, daß der Klagsanspruch auf Zahlung der Behaltsentschädigung nicht zugesprochen werden kann, weil das Klagebegehren den guten Sitten widerstreitet.
Gegen diese Lösung der hier zur Entscheidung stehenden Rechtsfrage kann auch nicht eingewendet werden, der Beklagten sei es freigestanden, bei der Innung um Erlassung der Behaltspflicht anzusuchen (§ 105a Abs. 3 GewO.), denn die Innung konnte die Beklagte von der Behaltspflicht gar nicht dispensieren, weil diese ohnehin durch das Aufhören des Gewerbebetriebes nach § 83 Abs. 1 GewO. automatisch erloschen war. Von der Zuhaltungspflicht nach § 83 Abs. 2 GewO. aber konnte die Innung nicht befreien, da dies nicht in ihre Kompetenz fällt.
Aus dem Umstand, daß die Rechte des Lehrlings nach § 105a GewO. durch Vertrag weder aufgehoben noch beschränkt werden können, kann jedenfalls nicht erschlossen werden, daß dem Kläger der Lohn für die Behaltszeit zuzusprechen sei, weil hier nicht die Frage der Zulässigkeit des Verzichtes auf die Behaltsentschädigung in Frage steht, sondern ob nach der vorliegenden Sachlage der Anspruch auf Behaltsentschädigung überhaupt entstanden ist.
Das Gesetz regelt die normalen Fälle, daß der Lehrling seine Lehrlingszeit ordnungsmäßig beendet hat und der Dienstgeber ihn nicht weiter beschäftigen will oder kann, weil er vom Gewerbe abtritt. Den hier vorliegenden exzeptionellen Fall aber, daß der Dienstgeber das Abtreten vom Gewerbe nur im Interesse des Lehrlings hinausgeschoben hat, konnte das Gesetz nicht voraussehen. Es liegt daher eine Lücke im Gesetz vor, die nach den Grundsätzen auszufüllen ist, wie sich Personen von anständiger Gesinnung in einem solchen Fall von selbst verhalten.
Das Zahlungsbegehren war daher zur Gänze abzuweisen.
Anmerkung
Z28230Schlagworte
Behaltsentschädigung, Verzicht auf ein Gewerbe, Gewerberecht, Behaltsentschädigung, Lehrling, Behaltsentschädigung, Sittenwidrigkeit, Behaltsentschädigung, Verzicht auf Gewerberecht, BehaltsentschädigungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1955:0040OB00135.55.1025.000Dokumentnummer
JJT_19551025_OGH0002_0040OB00135_5500000_000