Norm
ABGB §1295Kopf
SZ 29/15
Spruch
Ansprüche eines Geschädigten, die den Umfang nach § 1 RHG. überschreiten, bestehen nur bei Verschulden des Inhabers des gefährlichen Betriebes oder seiner Gehilfen. Dieses Verschulden kann niemals darin erblickt werden, daß der Betrieb trotz seiner typischen Gefährlichkeit nicht stillgelegt wurde.
Entscheidung vom 29. Februar 1956, 2 Ob 60/56.
I. Instanz: Landesgericht Klagenfurt; II. Instanz: Oberlandesgericht Graz.
Text
Der Kläger hat am 7. August 1950 als zahlender Fahrgast den von der Beklagten betriebenen Sessellift auf die G. benützt. Bei dieser Gelegenheit, und zwar auf der Talfahrt, löste sich der hinter dem Kläger befindliche Sessel von seiner Befestigung los, fuhr auf den Sessel des Klägers auf und verletzte diesen am Rücken. Der Kläger stellt an die Beklagte Ersatzansprüche, und zwar Schmerzengeld sowie Ersatz für Arzt- und Heilungskosten und für Verdienstentgang.
Mit rechtskräftigem Zwischenurteil wurde der Klagsanspruch - soweit er sich nicht auch auf Schmerzengeld erstreckt - dem Gründe nach als zu Recht bestehend erkannt. Der Oberste Gerichtshof hat in seiner in dieser Sache erflossenen Entscheidung SZ. XXVI 75 den fraglichen Sessellift als eine Eisenbahn im Sinne des § 1 RHG. qualifiziert und aus dieser Erwägung der Beklagten die Gefährdungshaftung für alle nach dem RHG. zu ersetzenden Schäden auferlegt. Der Schmerzengeldanspruch hingegen blieb auch dem Gründe nach offen, weil er, vom RHG. nicht mehr gedeckt, nur durchsetzbar wäre, wenn der Beklagten ein Verschulden am Unfall angelastet werden könnte.
Nach Verfahrensergänzung wies das Erstgericht mit Endurteil den Schmerzengeldanspruch ab, weil es zur Überzeugung gelangte, daß die Beklagte am Unfall schuldlos sei.
Die Berufung der Klägerin hatte Erfolg; das Berufungsgericht verwies die Sache unter Rechtskraftvorbehalt an das Erstgericht zurück. Es vertrat die Ansicht, daß die Beklagte am Unfall ein Verschulden treffe, der Schmerzengeldanspruch des Klägers daher dem Grund nach zu Recht bestehe, Feststellungen über seine Höhe aber noch ausstunden.
Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs der Beklagten Folge, hob den Beschluß des Berufungsgerichtes auf und trug diesem Gerichte auf, über die Berufung des Klägers neuerlich zu entscheiden.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Der vom Kläger erhobene Schmerzengeldanspruch, der im RHG. keine Deckung findet, steht und fällt mit dem behaupteten Verschulden der Beklagten am Unfall.
Gerade zu dieser Frage hat das Erstgericht nach einer umfangreichen Beweisaufnahme und unter gewissenhafter Verwertung des eingehenden Gutachtens des zugezogenen Sachverständigen ausführlich Stellung genommen. Seine tatsächlichen Feststellungen lassen sich hier wie folgt kurz zusammenfassen:
Von einer unzureichenden Überprüfung oder Überwachung der Anlage, insbesondere von einer unzureichenden Kontrolle der Klemmen - der hinter dem Kläger befindliche Sessel war durch eine Klemmenlockerung ins Rutschen gekommen -, kann nicht gesprochen werden, weil der sehr gewissenhafte Betriebsleiter der Beklagten eine äußerst scharfe Kontrolle ausübte. Tagtäglich fand vor der Betriebsaufnahme eine sogenannte Revisionsfahrt statt;, bei ihr wurde die ganze Strecke abgefahren und abgegangen, die gesamte Anlage genau kontrolliert und insbesondere auch der Sitz der Klemmen geprüft. Unbrauchbare Klemmen wurden ausgewechselt, gelockerte mit neuen Zwischenblechen versehen und festgeschraubt. Die Beklagte hielt überdies immer Betriebsbelehrungen ab, und die Angestellten sind der ihnen aufgetragenen Überprüfungspflicht genau nachgekommen. Die Beklagte und ihre Betriebsgehilfen haben somit alles getan, um die Betriebssicherheit zu garantieren. Die Beklagte war sich außerdem gewisser Schwächen der Anlage bewußt und hat alles getan, um mögliche Betriebsstörungen oder Unfälle zu vermeiden. Sie führte Instandhaltungsarbeiten und Verbesserungen durch. Auf diese Weise war sie nachdrücklichst bestrebt, eine Wiederholung schon stattgehabter Betriebsstörungen oder Unfälle auszuschalten. Der Vorwurf des Klägers, die Schrauben und Muttern des abgerutschten Sessels seien verrostet gewesen, ist ungerechtfertigt. Nur die Befestigungsschrauben der Klemmen hatten sich gelockert. Das ist aber ein Ereignis, das trotz sorgsamster und ständiger Kontrolle nicht ausgeschaltet werden kann. Die Anlage war auch weder unzeitgemäß noch fehlerhaft konstruiert, sondern sie entsprach dem jeweiligen Stand des technischen Wissens und der Erfahrung. So gewährleistete sie auch am Unfallstag jenes Maß von Sicherheit, das die Art dieses Beförderungsmittels zuließ. Die Beklagte konnte ferner nicht erkennen, daß trotz aller ihrer Maßnahmen weitere Gefahren entstehen könnten. Eine Betriebseinstellung schien trotz der schon früher aufgetretenen Störungen nicht geboten. Die Beklagte war auch ebensowenig wie etwa ein Eisenbahn- oder Flugunternehmen verpflichtet, die Passagiere auf die besondere Gefährlichkeit des Betriebes aufmerksam zu machen. So kam das Erstgericht zu dem Schluß, daß der Beklagten kein Verschulden am Unfall angelastet werden könne.
Das Berufungsgericht übernahm alle Tatsachenfeststellungen als unbedenklich, hielt sich auch an das die Ansicht des Erstgerichts stützende Sachverständigengutachten, meinte aber, daß die Beklagte angesichts der Häufung von Unfällen verpflichtet gewesen wäre, den Betrieb einzustellen und die ihr erst später aufgetragene Umgestaltung der Anlage schon früher, von sich aus, vorzunehmen; in der Unterlassung dieser äußersten Maßnahme liege das grobe Verschulden der Beklagten; denn sie habe eben trotz aller ihrer nachdrücklichen Fürsorge- und Kontrollmaßnahmen mit einer Betriebssicherheit der Anlage nicht mehr rechnen können.
Diese Rechtsauffassung vermag der Oberste Gerichtshof nicht zu teilen. Von einem "groben" Verschulden der Beklagten kann wohl überhaupt nicht die Rede sein; nach dem festgestellten Sachverhalt muß aber auch eine leichte Fahrlässigkeit der Beklagten verneint werden.
Der Standpunkt des Berufungsgerichtes, daß die Beklagte ihren Betrieb einzustellen gehabt hätte, um die ihr erst später aufgetragene Umgestaltung der Anlage schon früher durchzuführen, entbehrt jeder Durchschlagskraft. Denn auch die am 22. August 1950 von der Aufsichtsbehörde angeordnete, von der Beklagten durchgeführte und sodann am 23. Dezember 1950 genehmigte Modernisierung der Anlage vermochte Betriebsstörungen und Unfälle nicht zu verhindern; diese traten vielmehr schon am 24. und 25. Dezember 1950, also am ersten und zweiten Tag nach Wiederaufnahme des bis dahin vorübergehend eingestellten Betriebs, auf. Es ist daher nicht einzusehen, wieso die Beklagte durch eine Vorwegnahme dieses Umbaus Unfälle hätte vermeiden können; um so überzeugender ist aber der Standpunkt des Sachverständigen, daß es sich eben um Kinderkrankheiten einer technisch noch nicht voll entwickelten Einrichtung handelte, denen die Beklagte zwar bestmöglich entgegengearbeitet hat, deren Behebung aber erst einer ferneren Entwicklung vorbehalten blieb. So bleibt denn nur die Frage offen, ob die Beklagte, die von sich aus alles getan hat, um ihre Anlage so betriebssicher wie möglich zu gestalten, die allerdings auch wahrnahm, daß sich trotzdem Betriebsstörungen und Unfälle ereigneten, verpflichtet gewesen sei, ihren Betrieb überhaupt einzustellen. Diese Frage muß verneint werden; ihre Bejahung liefe darauf hinaus, die Betriebsgefahren eines gerade ihretwegen als gefährlich qualifizierten Betriebs mit einem Verschulden des Betriebsinhabers gleichzusetzen und den Unterschied zwischen Gefährdungs- und Verschuldenshaftung völlig zu verwischen. Das Argument der Rekurswerberin, aus der bereits genannten Entscheidung des Obersten Gerichtshofes SZ. XXVI75, in der die Sesselliftanlage der Beklagten als ein dem Verkehr dienendes Unternehmen bezeichnet wurde, müsse folgerichtig auch geschlossen werden, daß die Beklagte mit ihrem Betrieb dem öffentlichen Verkehr zu dienen habe und eine Betriebseinstellung gar nicht vornehmen dürfe, ist allerdings unzutreffend; denn abgesehen davon, daß der fragliche Sessellift bestimmt kein unverzichtbares Kommunikationsmittel darstellt, kann sogar bei weltwichtigen Verkehrsmitteln eine zeitweilige Betriebseinstellung unter Umständen unausweichlich werden. Die Notwendigkeit einer solchen Betriebseinstellung kann jedoch nicht schon aus der für den Betrieb typischen Gefährlichkeit erschlossen werden; sonst wären - worauf die Rekurswerberin zutreffend hinweist - die Haftpflichtsondergesetze überflüssig, wenn nicht sogar unverständlich. Die Rechtsordnung ist weit davon entfernt, Betriebe, die zur Verwirklichung typischer Gefahren führen, zu verbieten; sie unterstellt sie nur einer besonders erschwerten, dafür aber umfänglich begrenzten Haftung. Ansprüche eines Geschädigten, die diesen Umfang überschreiten, können nur dann durchdringen, wenn ein Verschulden des Inhabers des gefährlichen Betriebs oder seiner Gehilfen vorliegt. Dieses Verschulden muß aber zwangsläufig in etwas anderem als in der typischen Betriebsgefahr gelegen sein und kann daher niemals darin erblickt werden, daß der Betrieb trotz seiner typischen Gefährlichkeit nicht stillgelegt wurde. Da die Beklagte im gegebenen Fall der ihr nach § 1298 ABGB. obliegenden Beweislast voll entsprochen und nachgewiesen hat, daß sie alle ihr überhaupt zumutbaren Vorkehrungen zur Vermeidung von Betriebsstörungen oder Unfällen getroffen hat, eine Einstellung des Betriebs nur wegen seiner typischen Gefährlichkeit aber nicht mehr zu den zumutbaren Vorkehrungen gezählt werden darf, kann von einem Verschulden der Beklagten keine Rede sein. Sie hat daher nach dem auf sie anwendbaren Haftpflichtrecht, nicht aber nach den Bestimmungen des ABGB., einzustehen und braucht dem Kläger - einem Opfer typischer Gefährlichkeit des Betriebes - kein Schmerzengeld zu zahlen.
Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes besteht der Schmerzengeldanspruch des Klägers schon dem Gründe nach nicht zu Recht; einer Erörterung seiner allfälligen Höhe bedarf es nicht, die Sache ist vielmehr insoweit im klagsabweislichen Sinn spruchreif.
Anmerkung
Z29015Schlagworte
Betrieb, gefährlicher, Verschulden, Betriebsgefahr, Gefährdungshaftung, Verschulden, Gefährdungshaftung, Betriebsgefahr, Gefährlicher Betrieb, Verschulden, Haftung für gefährlichen Betrieb, Betriebsgefahr, Sessellift, Betriebsgefahr, Verschuldenshaftung, Verschuldenshaftung gefährlicher BetriebEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1956:0020OB00060.56.0229.000Dokumentnummer
JJT_19560229_OGH0002_0020OB00060_5600000_000