Norm
Jugendwohlfahrtsgesetz §26Kopf
SZ 32/58
Spruch
Zulässigkeit gerichtlicher Erziehungshilfe bei Weigerung der Eltern, das taubstumme Kind in einer Sonderschule unterzubringen.
Entscheidung vom 30. April 1959, 6 Ob 141/59.
I. Instanz: Bezirksgericht Peuerbach; II. Instanz: Kreisgericht Wels.
Text
Das Erstgericht gab dem gemäß §§ 21 und 26 JWG. gestellten Antrag der Bezirkshauptmannschaft G., die mj. Margarethe R. der gerichtlichen Erziehungshilfe zu überweisen, statt. Es führte aus, daß die erziehungsberechtigten Eltern ihrer Erziehungspflicht insofern nicht nachkämen, als sie es verabsäumten, ihr schwerhöriges und sprechbehindertes Kind in einer Sonderschule unterzubringen, wo allein dem Kind der nötige Unterricht und die notwendige Schulbildung vermittelt werden könnten. Diese Vernachlässigung rechtfertige aber die Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe.
Dem dagegen von den Kindeseltern erhobenen Rekurs wurde Folge gegeben und der erstgerichtliche Beschluß dahin abgeändert, daß der Antrag der Bezirkshauptmannschaft G., die mj. Margarethe R. der gerichtlichen Erziehungshilfe gemäß § 26 Abs. 1 JWG. zu überweisen, zurückgewiesen wurde. Das Rekursgericht führte aus, das Reichsschulpflichtgesetz, das seit 1. August 1939 in Österreich gelte (GBlÖ. Nr. 982/1939), sehe im § 6 vor, daß Kinder, die wegen geistiger Schwäche oder wegen körperlicher Mängel dem allgemeinen Bildungswerk der Volksschule nicht oder nicht mit genügendem Erfolg zu folgen vermögen, verpflichtet seien, die für sie geeignete Sonderschule oder den entsprechenden Sonderunterricht zu besuchen. Darüber, ob diese Verpflichtung im einzelnen Fall bestehe, und darüber, welche Schule und welcher Sonderunterricht zu besuchen sei, entscheide die Schulaufsichtsbehörde. Wenn es die Durchführung der Schulpflicht für diese Kinder erfordere, könne ihre Unterbringung in geeigneten Anstalten und Heimen oder in geeigneter Familienpflege angeordnet werden. Hierüber entscheide die Schulaufsichtsbehörde gemeinsam mit der zuständigen Fürsorgebehörde. Diese habe die Anordnung nach den Vorschriften über die Fürsorgepflicht durchzuführen (§ 7 l. c.). Daraus ergebe sich aber, daß kraft ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmung zur Entscheidung über die hier aufgeworfene Frage, ob die Minderjährige weiterhin in der Volksschule zu verbleiben habe oder eine Sonderschule besuchen müsse, nicht das Gericht, sondern die Schulaufsichtsbehörde berufen sei. Es gehe auch nicht an, diese Zuständigkeitsbestimmung dadurch zu umgehen, daß schon die Weigerung der Eltern allein, das Kind in eine Sonderschule zu geben, als Erziehungsmangel oder als Gefahr für die Erziehung des Kindes bezeichnet werde und im Rahmen der gerichtlichen Erziehungshilfe Maßnahmen getroffen würden, über deren Notwendigkeit allein die Schulaufsichtsbehörde zu entscheiden habe. Der vorliegende Fall stelle daher nicht eine Angelegenheit der Jugendfürsorge, sondern des Schulunterrichtes, also der Unterrichtsverwaltung dar. Erst dann, wenn die von der Schulbehörde für richtig erkannten und angeordneten Maßnahmen von den Eltern nicht beachtet würden oder nicht ausreichend wären oder die im Reichsschulpflichtgesetz vorgesehenen Zwangsmaßnahmen nicht zum Erfolg führten, könnten subsidiär die Bestimmungen des JWG. herangezogen werden. Derzeit bestehe aber keinerlei gesetzliche Grundlage, die dem Gericht eine Entscheidung über die Frage gestatte, ob das Kind unter Beibehaltung der ärztlichen Behandlung die Volksschule weiter zu besuchen habe oder ob es in eine Taubstummenanstalt eingewiesen werden solle.
Der Oberste Gerichtshof gab dem Revisionsrekurs der Bezirkshauptmannschaft Folge und trug dem Rekursgericht die neuerliche Entscheidung über den Rekurs der Kindeseltern auf.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
§ 6 des vom Rekursgericht herangezogenen Reichsschulpflichtgesetzes behandelt die Schulpflicht geistig und körperlich behinderter Kinder, § 7 dieses Gesetzes die Unterbringung der Sonderschulpflichtigen in Anstalts- oder Familienpflege. Die 1. Verordnung zur Durchführung des Reichsschulpflichtgesetzes vom 7. März 1939, DRGBl. I S. 438, in Österreich eingeführt durch die Verordnung vom 25. Juli 1939, DRGBl. I S. 1337 (GBlO. Nr. 982/1939), in der Fassung der 2. Verordnung vom 16. Mai 1941, DRGBl. I S. 283, besagt jedoch zu den §§ 6 und 7 des obzitierten Gesetzes: "Die Schulpflicht geistig und körperlich behinderter Kinder wird durch besondere Verordnung geregelt. Bis zum Erlaß dieser Verordnung bleibt es bei den in den Ländern erlassenen Bestimmungen." Diese angekundigte besondere Verordnung wurde jedoch nie erlassen. Die §§ 6 und 7 des Reichsschulpflichtgesetzes sind daher mangels dieser angekundigten, jedoch nie erlassenen besonderen Verordnung, bzw. mangels solcher in den Ländern erlassenen Bestimmungen derzeit nicht anwendbar. Es kann schon deshalb dem Gericht die Berechtigung zur Entscheidung darüber, ob durch die Weigerung der Eltern, ihr schwerhöriges und sprachbehindertes Kind in einer Sonderschule unterzubringen, die Voraussetzungen für die Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe vorliegen, nicht abgesprochen werden. Da der angefochtene Beschluß somit der gesetzlichen Grundlage entbehrt, war mit dessen Aufhebung vorzugehen und dem Rekursgericht eine Sachentscheidung über den Rekurs der Kindeseltern aufzutragen.
Anmerkung
Z32058Schlagworte
Erziehungshilfe, gerichtliche, Weigerung der Unterbringung in einer, Sonderschule, Gerichtliche Erziehungshilfe, Weigerung der Unterbringung in einer, Sonderschule, Sonderschule, Erziehungshilfe, Taubstummes Kind, Sonderschule, ErziehungshilfeEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1959:0060OB00141.59.0430.000Dokumentnummer
JJT_19590430_OGH0002_0060OB00141_5900000_000