TE OGH 1964/10/15 2Ob299/64

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Veröffentlicht am 15.10.1964
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Norm

ABGB §1295 (2)
Allgemeines Sozialversicherungsgesetz §328
Allgemeines Sozialversicherungsgesetz §332 (4)

Kopf

SZ 37/144

Spruch

Gegen die Geltendmachung des Pauschalbetrages kann der Einwand der mißbräuchlichen Rechtsausübung erhoben werden, wenn der Pauschalbetrag den hypothetischen Aufwand für eine privatärztliche Behandlung wesentlich übersteigt.

Entscheidung vom 15. Oktober 1964, 2 Ob 299/64. I. Instanz:

Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien; II. Instanz:

Oberlandesgericht Wien.

Text

Am 29. August 1959 wurde Karl St. bei einem vom Beklagten verschuldeten Verkehrsunfall verletzt. Die Klägerin erbringt Leistungen an Karl St. und verlangt deren Ersatz vom Beklagten. Mit dem Leistungsbegehren verband sie ein Feststellungsbegehren hinsichtlich des Anspruches auf Ersatz für künftige Leistungen.

Der Erstrichter sprach der Klägerin 15.759 S samt Anhang zu. Das Mehrbegehren von 300 S samt Anhang sowie das Feststellungsbegehren wies er ab. Im zugesprochenen Betrag sind u. a. 7287 S an Krankenbehandlungskosten enthalten. Es handelt sich hiebei um einen nach §§ 328, 332 (4) ASVG. pauschalierten Betrag, berechnet auf der Grundlage des halben Krankengeldes (21 S täglich) für 347 Tage. Der Erstrichter stellte hinsichtlich dieses im Revisionsverfahren noch strittigen Betrages u. a. fest: Karl St. war seit der Entlassung aus dem Spital (17. September 1959) bis 29. August 1960 im Krankenstand und während dieses ganzen Zeitraumes auch arbeitsunfähig. Er war in dieser Zeit insgesamt 48 mal beim Arzt. Allerdings waren diese häufigen Arztbesuche darauf zurückzuführen, daß St. für den Bezug des Krankengeldes laufend ärztliche Bestätigungen brauchte. Zur Behandlung der beim Unfall erlittenen Verletzungen hätte zumindest im späteren Verlauf der Behandlung je ein Arztbesuch in Abständen von drei bis vier Wochen genügt. Karl St. übergab dem Arzt insgesamt fünf Krankenscheine, für welche die Klägerin zusammen 197.50 S zu bezahlen hatte. Der Arzt verschrieb dem Karl St. Analgetika, und zwar durchschnittlich 20 Pillen alle 14 Tage. Daraus ergibt sich ein Medikamentenaufwand der Klägerin von 364 S. Ferner erhielt Karl St. sechs Serien Schlammpackungen, die der Klägerin einen Aufwand von 840 S verursachten. Das ergibt zusammen 1401.50 S. Eine Trennung des Aufwandes einerseits für die Behandlung der beim Kläger schon vor dem Unfall vorhanden gewesenen Spondylathrose und andererseits für die Behandlung der unfallsbedingten Beschwerden läßt sich nicht vornehmen, weil die beiden Leiden ineinander übergingen. Wäre St. nicht sozialversichert gewesen, dann wären für die in diesem Falle notwendige privatärztliche Behandlung folgende Kosten aufgelaufen:

Für drei Hausbesuche des Arztes und 20 Ordinationsbesuche 1200 S, für die Schlammpackungen 1500 S und für die Medikamente 364 S, zusammen also 3064 S. Der Erstrichter war der Ansicht, die Klägerin könne ungeachtet des Umstandes, daß der tatsächliche Aufwand beträchtlich hinter dem Pauschalbetrag zurückbleibe, den Ersatz des ganzen Pauschalbetrages verlangen. Die Geltendmachung einer vom Gesetzgeber selbst vorgesehenen Pauschalierung könne nicht sittenwidrig sein.

Das Urteil der ersten Instanz bekämpfte die Klägerin insoweit, als ihr Feststellungsbegehren abgewiesen wurde. Der Beklagte ließ nur den Zuspruch von 582 S unangefochten.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Der Berufung des Beklagten gab es teilweise Folge. Es ändert die Entscheidung der ersten Instanz über das Leistungsbegehren dahin ab, daß es der Klägerin nur den Betrag von 9873.50 S samt Anhang zusprach und das Mehrbegehren von 6185.50 S samt Anhang abwies. Die Herabsetzung des Zuspruches an die Klägerin um den Betrag von 5885.50 S beruht darauf, daß das Berufungsgericht an Krankenbehandlungskosten statt des Betrages von 7287 S nur einen Betrag von 1401.50 S als gerechtfertigt ansah. Das Berufungsgericht war der Ansicht, dem Sozialversicherungsträger stehe hinsichtlich der Krankenbehandlungskosten ein Anspruch auf Ersatz in der Höhe des halben Krankengeldes nur dann zu, wenn er Leistungen in dieser Höhe erbracht habe. Da diese Voraussetzung im vorliegenden Fall nicht erfüllt sei, könne die Klägerin nach Treu und Glauben nur den Ersatz des tatsächlichen Aufwandes verlangen. Der Zuspruch des vollen Pauschalbetrages würde zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der Klägerin führen.

Die Klägerin erklärt zwar, das Urteil des Berufungsgerichtes insoweit anzufechten, als ihr Mehrbegehren auf Zahlung von 6185.50 S abgewiesen wurde. Nach dem Revisionsantrag ist aber nur die Abweisung des Teilbetrages von 5885.50 S durch das Berufungsgericht bekämpft und nicht auch die im Berufungsverfahren unangefochten gebliebene Abweisung des Betrages von 300 S samt Anhang durch die erste Instanz.

Der Oberste Gerichtshof erkannte den Beklagten schuldig, der Klägerin den Betrag von 11.536 S samt 4% Zinsen aus 24.500 S vom 28. Juni 1961 bis 4. August 1961 und aus 11.536 S seit 5. August 1961 binnen 14 Tagen zu bezahlen.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

Die Revision ist teilweise begrundet.

Der Ansicht des Berufungsgerichtes, der Sozialversicherungsträger habe hinsichtlich der Krankenbehandlungskosten nur dann Anspruch auf Ersatz des Pauschalbetrages in Höhe des halben Krankengeldes, wenn er Leistungen in dieser Höhe erbracht habe, während er andernfalls nur Anspruch auf Ersatz der tatsächlichen Leistungen habe, kann nicht beigepflichtet werden. Eine solche Auslegung der Bestimmungen der §§ 328, 332 (4) ASVG. würde darauf hinauslaufen, daß der auf Grund dieser Gesetzesstellen errechnete Pauschalbetrag nur als Obergrenze des dem Sozialversicherungsträger gebührenden Ersatzes in Betracht käme. Eine derartige Auslegung würde dem Wortlaut und Sinn der angeführten Gesetzesstellen, die eine Pauschalierung ohne jede Einschränkung vorsehen, nicht gerecht. Grundsätzlich hat der Sozialversicherungsträger im Verhältnis zum Schädiger Anspruch auf Ersatz des vollen Pauschalbetrages. Von einem Verstoß gegen den im B-VG. verankerten Grundsatz der Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz oder die Bestimmung des Staatsvertrages, die eine Diskriminierung einzelner Staatsbürger durch gesetzliche Bestimmungen hintanhalten soll, kann nicht allein aus dem Gründe gesprochen werden, weil den Sozialversicherungsträgern die Pauschalierung bestimmter Ersatzbeträge ermöglicht wird.

Aus dem Umstand, daß es sich um eine vom Gesetzgeber selbst vorgesehene Bewertung des an den Sozialversicherungsträger übergegangenen Schadenersatzanspruches des Verletzten handelt, kann aber entgegen der Meinung der Klägerin auch nicht gefolgert werden, daß eine mißbräuchliche Rechtsausübung überhaupt nicht in Betracht kommen könne. Es darf nicht übersehen werden, daß es sich bei dieser auf die Bestimmungen der §§ 1542, 1524 RVO. zurückgehenden Schadensberechnung um eine nur auf den Regelfall zugeschnittene Berechnungsart handelt, die im Einzelfall wesentlich von den tatsächlichen Gegebenheiten abweichen kann. In der Deutschen Bundesrepublik wird daher in Lehre und Rechtsprechung die Auffassung vertreten, daß dem Begehren auf Zahlung des vollen Pauschalbetrages der Einwand der mißbräuchlichen Rechtsausübung entgegengesetzt werden kann. Auch im Rahmen des § 1542 RVO. gelte der allgemeine Grundsatz, daß eine mißbräuchliche Rechtsausübung unzulässig sei. Mißbräuchliche Rechtsausübung liege vor, wenn der Sozialversicherungsträger vom Schädiger auf Grund der in den §§ 1542, 1524 RVO. zugelassenen Pauschalierung wesentlich mehr verlange, als die Heilungskosten betragen hätten, wenn der Beschädigte nicht sozialversichert gewesen wäre (vgl. Wussow, Das Unfallhaftpflichtrecht[6], S. 685 f., Geigel, Der Haftpflichtprozeß[11], S. 781 f., die Bundesgerichtshofentscheidungen BGHZ. 12, S. 154 und VersR. 1956, S. 178).

Die Zulässigkeit des Einwandes der mißbräuchlichen Rechtsausübung muß auch für den österreichischen Rechtsbereich bejaht werden (vgl. ZVR. 1959, Nr. 30, in der auch auf die Entscheidungen 2 Ob 178/57 = ZVR. 1957, Nr. 185 und 2 Ob 475/57 = EvBl. 1958, Nr. 24 Bezug genommen wird; vgl. zur Unzulässigkeit einer sittenwidrigen Rechtsausübung auch Klang Komm.[2] zu § 1295 (2) ABGB. S. 41 f. bei Anm. 93 und S. 44 bei Anm. 114).

Von einer mißbräuchlichen Rechtsausübung kann allerdings entgegen der Meinung des Beklagten nicht schon dann gesprochen werden, wenn der Pauschalbetrag die vom Sozialversicherungsträger für die Krankenbehandlung erbrachten Geldleistungen übersteigt. Abgesehen davon, daß die Geldleistungen für Ärztekosten und Medikamente den hohen Verwaltungsaufwand unberücksichtigt lassen, der dem Sozialversicherungsträger bei Erfüllung seiner Aufgaben entsteht und der anteilsmäßig die einzelnen Leistungen belastet, soll es auch nicht dem Schädiger zugute kommen, wenn es den Sozialversicherungsträgern gelungen sein sollte, durch Vereinbarungen mit den ärztlichen Standesorganisationen und durch sonstige Maßnahmen die Krankenpflegekosten niedriger zu halten, als sie im Falle einer privatärztlichen Behandlung wären.

Als Maßstab bei der Beurteilung der Frage, ob eine sittenwidrige und demnach mißbräuchliche Rechtsausübung vorliege, kann daher nur der Aufwand gelten, der dem Verletzten zu ersetzen gewesen wäre, wenn er nicht sozialversichert gewesen wäre.

Schließlich kann auch der vom Beklagten in der Revisionsbeantwortung vertretenen Auffassung nicht beigepflichtet werden, daß bei der Ermittlung des Pauschalbetrages nur jene Tage berücksichtigt werden dürften, an denen eine ärztliche Behandlung stattgefunden habe. Die Formulierung des § 328 ASVG., "für jeden Tag der Dauer einer solchen Behandlung", läßt keinen Zweifel daran, daß es auf die ganze Behandlungsdauer ankommt und nicht auf einzelne Behandlungstage. Der Schluß, den der Beklagte aus der nicht wörtlich gleichen Formulierung der §§ 130 (3), 317, 320, 328 ASVG. zieht, ist nicht begrundet. Mit der Formulierung "Dauer der Behandlung" im § 328 ASVG. wird ebenso ein zusammenhängender Zeitraum bezeichnet wie mit dem Ausdruck "Behandlungszeit" in den §§ 130 (3) und 317 ASVG. oder mit dem Ausdruck "Heilverfahren" im § 320 ASVG. Daß etwa der hier in Betracht kommende Zeitraum durch Zwischenzeiten mit erkennbar abgeschlossener Behandlung unterbrochen worden wäre, kann bei dem festgestellten Sachverhalt nicht gesagt werden.

Die Berechnung des Pauschalbetrages durch die Klägerin entspricht daher den hier in Betracht kommenden gesetzlichen Bestimmungen. Der Pauschalbetrag übersteigt den mit 3064 S festgestellten hypothetischen Aufwand für eine privatärztliche Behandlung sowohl absolut als auch relativ so wesentlich, daß das Beharren auf Zahlung des den letzteren Aufwand übersteigenden Teiles des Pauschalbetrages als mißbräuchliche Rechtsausübung beurteilt und demnach abgewiesen werden muß.

Anmerkung

Z37144

Schlagworte

Krankenbehandlungskosten, Pauschalbetrag nach § 328 ASVG.„ Schikaneverbot bei Regreß, Pauschalbetrag nach § 328 ASVG., Schikaneverbot bei Regreß, Regreßanspruch nach § 332 ASVG., Pauschalbetrag nach § 328 ASVG.„ Schikaneverbot, Schikaneverbot, Regreß nach § 332 ASVG., Pauschalbetrag nach § 328, ASVG., Krankenbehandlungskosten, Pauschalbetrag nach § 328 ASVG.„ Schikaneverbot bei Regreß, Pauschalbetrag nach § 328 ASVG., Schikaneverbot bei Regreß, Regreßanspruch nach § 332 ASVG., Pauschalbetrag nach § 328 ASVG.„ Schikaneverbot, Schikaneverbot, Regreß nach § 332 ASVG., Pauschalbetrag nach § 328, ASVG.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1964:0020OB00299.64.1015.000

Dokumentnummer

JJT_19641015_OGH0002_0020OB00299_6400000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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